Montag, 2. Januar 2023

Leseswertes Interview

Sahra Wagenknecht, eine Politikerin mit gesundem Menschenverstand*



Blick: Der woke Linksliberalismus ist keine basisdemokratische Bewegung, sondern ein Putsch von oben. Selbsternannte anwaltschaftliche Sprecher klagen an im Namen angeblich benachteiligter Minderheiten, die sie gar nicht kennen – und von denen sie auch kein Mandat haben.
Zugegeben: Das anwaltschaftliche Sprechen ist ein echtes Problem. Doch reden die anwaltschaftlichen Sprecher in sozialen und klassischen Medien oftmals nicht nur im Namen anderer, die sie nicht kennen. Sie wollen zugleich ihre Erziehungsbeauftragten sein – das neue Ideal ist das richtige Leben nach der Lehre der Lifestyle-Linken. Und dieses Ideal ist zynisch, weil es sich die meisten Menschen gar nicht leisten können, ganz abgesehen davon, ob es wirklich wünschenswert wäre, wenn alle den woken Unsinn mitmachen würden.

Sie übertreiben!
Sie untertreiben! Es handelt sich dabei nicht mehr um ein mediales Phänomen – die Lifestyle-Linken haben längst damit begonnen, die Gesellschaft in Betrieben, Bildungsinstitutionen und Medien mit ihren Regeln und Sprachcodes umzugestalten. Wir erleben gerade das Ende liberaler Debatten mit unterschiedlichen Meinungen und das Wiederaufleben eines Moralismus, der nur zwei Prädikate kennt: gut und böse. Wobei dieser Moralismus auch noch zutiefst unehrlich ist – viele von denen, die von Flugscham reden, fliegen beruflich und privat um die halbe Welt. Im besten Fall kompensieren sie das, indem sie ihre CO2-Bilanz und ihr Gewissen durch den Aufkauf geeigneter Zertifikate verbessern. Oder sie investieren in Investmentfonds, die oftmals eher grün gewaschen als wirklich umweltfreundlich sind. Der neue Moralismus ist in der Regel Ausdruck einer ziemlichen Doppelmoral.


Wie halten Sie es selbst mit dem Gendern?
Diese Idee, man könne mit einer Änderung der Sprache zugleich die gesellschaftliche Realität verändern, ist völlig lebensfremd. Man kann selbstverständlich hochkorrekt über eine völlig ungerechte Welt reden – das ändert nicht das Geringste am Status quo, das zementiert sogar die bestehenden Verhältnisse. Aber noch schlimmer finde ich etwas anderes.

Was denn?

Die politisch korrekte Sprache, zu der auch die angebliche gendergerechte Sprache zählt, ist eine Art Sprachcode für geisteswissenschaftlich geschulte Sprachbenutzer. Ein Distinktionsmerkmal, um sich vom einfachen Volk abzuheben und abzugrenzen. Sie können sich damit ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der angeblich Weltoffenen versichern und alle anderen, die ständig in irgendwelche sprachliche Fettnäpfen treten, verächtlich machen.

Wie reden Sie selbst – wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist oder nach Möglichkeit korrekt und gendersensibel?
Ich halte mich an die Regeln der deutschen Sprache. Eine Rede beginne ich mit «sehr geehrte Damen und Herren» und wende mich damit an alle Anwesenden im Saal. Ansonsten spreche ich grundsätzlich von «Zuhörern», «Mitarbeitern» oder «Studenten» und meine damit natürlich beide Geschlechter. Ich vermeide es, von «Zuhörenden», «Mitarbeitenden» oder «Studierenden» zu reden, was ja semantisch falsch ist, und ich verzichte auch darauf, jedes Mal die weibliche und die männliche Form zu wiederholen, bis die Sprache zur Realsatire wird, oder Sprachpausen einzubauen, die einen geschriebenen Genderstern oder Doppelpunkt darstellen sollen. All diese Diskussionen kann ja kein normaler Mensch mehr ernst nehmen – das ist eine Verunstaltung der deutschen Sprache, eine Zerstörung zwischenmenschlicher Kommunikation, die die Welt nicht um ein Jota gerechter macht.

Der Befund ist paradox: Je mehr gegendert wird, desto heisser ist die Debatte um sprachliche Diskriminierung aller Art.

Das entspricht der Logik der ganzen Sache. Denn natürlich kann immer jemand für sich in Anspruch nehmen, nicht angemessen angesprochen oder sprachlich abgebildet zu werden. Das Spiel lässt sich ewig weiterdrehen. Ich finde solche Diskussionen, ehrlich gesagt, sehr ermüdend. Sie haben mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nichts zu tun. Niemand sollte sich von selbsternannten Sprachpolizisten terrorisieren lassen. Die Sprache gehört allen. Darum: meinetwegen jedem, der will, sein Sternchen – und jedem, der will, sein generisches Maskulinum!

* Sahra Wagenknecht wurde 1969 in Jena geboren, als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters, der in West-Berlin studierte. Nach dem Studium der Philosophie wurde sie 2012 mit einer Arbeit in Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Chemnitz zum Dr. rer. pol. promoviert. Wagenknecht gehörte in den 1990er-Jahren dem Bundesvorstand der Partei des Sozialdemokratischen Sozialismus (PDS) an und zählt zu den Gründern der Folgepartei Die Linke. Von 2004 bis 2009 war sie Mitglied im Europäischen Parlament, seit 2009 ist sie Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sahra Wagenknecht hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem «Die Selbstgerechten» (2021), «Reichtum ohne Gier» (2016) und «Freiheit statt Kapitalismus» (2012). 2019 ist im Campus-Verlag ihre Lebensgeschichte erschienen (Christian Schneider: «Sahra Wagenknecht. Die Biografie»).
Die Linke muss sich endlich von Sahra Wagenknecht befreien - Meinung - SZ.de

 

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