Montag, 29. April 2019

Im Gegensatz zu vielen Politikern spricht eine Lehrerin Klartext

Klartextrhetorik

Wäre sie noch im Amt, würde wohl die Ex - Primarlehrein Andrea Stadler nicht so unverblümt die Meinung sagen.
Ihre Beurteilung der heutigen Schularbeit muss uns zu denken geben.
Sie rechnet mit dem aktuellen Schulsystem ohne Weichspüler ab.
Ich schätze ihre konkreten, ungeschminkten Antworten. Komplexe Sachverhalte bringt sie auf den Punkt. Ich zitiere: 
(Aus dem 20 Min Interview)

Wie haben Sie als Lehrerin den Berufsstress erfahren?
Ich dachte, wenn ich Lehrerin werde, unterrichte ich Kinder, musste aber merken, dass mir dafür kaum Zeit blieb. Damit fing der Stress an.

Worum geht es denn, wenn nicht ums Unterrichten?
Unterrichten ist zum Abarbeiten einer endlosen To-do-Liste verkommen. Die Lehrperson jagt darin die Schüler  von einem Inhalt zum nächsten. Dazu kommt ein gigantischer Anteil an Bürokratie: Absprachen mit Stellenpartnern, Heilpädagogen, Therapeuten, Schulsozialarbeitern und Eltern, Mitarbeit an der Schulentwicklung, Evaluationen, Sitzungen. Die Liste ist endlos.

Was kommt zu kurz?
Zeit für die Kinder und die Inhalte. Man streicht beim Freudvollen: basteln, zeichnen, spielen, gemeinsam in den Wald gehen.

Wie sind Sie damit umgegangen, wenn Sie ein bestimmtes Ziel mit einem Kind nicht erreicht haben?
Ich setzte mich selber unter Druck, wollte alles dafür zu tun, um das Kind zum Ziel zu bringen und gab diesen Druck an das Kind weiter.

Ist das Tempo das Problem?
Ja, auch. Den Kindern fehlt die Zeit für echte Auseinandersetzung mit den Inhalten ­– das Verweilen, Eintauchen, Handeln. Die Strukturen haben sich so verändert, dass durch Teamteaching, integrative Förderung und diverse Therapien ein ständiges Kommen und Gehen in den Klassen herrscht, was zu konstanter Unruhe führt. Im Zuge der Individualisierung gehen viele Kinder schlicht verloren im Unterricht. Das bedeutet einen riesigen Stress für die Lehrpersonen, deren Job es ist, allen gerecht zu werden.

Wie wirkt sich der Stress der Lehrer auf die Kinder aus?
Die Schüler verspüren Unruhe, Nervosität, Druck und Lieblosigkeit. Viele Kinder gehen mit ihren Bedürfnissen unter. Das ist verhängnisvoll für ihre Entwicklung und zerstört die Freude am Lernen.

Wie sollten Lehrer mit Stress umgehen?
Mut haben zur vermeintlichen Lücke, nach dem Motto «Weniger ist mehr». Und indem sie die Beziehungen zu den Schülern pflegen. Unterrichten funktioniert, zumindest bei Kindern, nur über Beziehung. Beziehungen wiederum sind es, die den Beruf für die Lehrer wertvoll machen. Dabei ist es wichtig, Zeit zu haben, um Fragen zu beantworten und neugierige Schüler nicht abzublocken.


Was hat Ihnen persönlich geholfen?
,,,,,,,,, Innehalten und Nachdenken tut auf jeden Fall immer gut.

KOMMENTAR:
Aus der Lernpsycholgoie und der Hirnforschung ist hinlänglich bekannt, dass das Wiederholen,  Festigungsprozesse,  Konzentration, Ruhe und das Innehalten verbunden mit dem  notwendigen Reflektieren von zentraler Bedeutung sind.
Kinder wünschen  konstante Bezugspersonen. Sie lernen schlechter, wenn  Lehrpersonen ständig wechseln und die notwenige Zeit fehlt, Neues zu verdauen. Orientierungslosigkeit ist Gift bei allen Lernprozessen.


ANALYSE:
In der ersten Antwort benennt die Lehrerin die Kernaufgabe der Schule, nämlich: Wer unterrichtet hat in erster Linie für die Kinder da zu sein und benötigt dafür die erforderliche Zeit. 
In der zweiten Antwort beleuchtet Andrea Stadler die aktuelle Situation.
Mehrere Personen wirken an einer Klasse. Die Bürokratie dominiert heute: Sitzungen, Querinformationen, Absprachen rauben Kraft und Zeit.
Das ständige Kommen und Gehen bringt Unruhe in die Schule.
Es fehlt die Konstanz.  Anstatt für die Kinder da zu sein, dominiert Bürokratie. Vor allem bei kleinen Kindern sind einfache Strukturen wichtig. Orientierungslosigkeit schadet. Die Ex- Lehrerin verzichtet bei Ihren Antworten auf Floskeln. Sie benennt konkret die Zeitfresser. Mit der Forderung "Weniger ist Mehr" bringt sie die Problematik auf den Punkt. Weshalb überlassen wir es den Lehrern nicht, Prioritäten zu setzen?
Die Schule müsste zeigen, wie man reduzieren kann, ohne die Inhalte zu verfälschen. Wer gelernt hat, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, macht einen gehörigen Schritt Richtung Berufstauglichkeit. Mögen die Verantwortlichen der heutigen Schullandschaft die Ruferin aus der Wüste ernst nehmen und daraus die Konsequenzen ziehen. Anhänger des Veränderungsmanagements sollten sich bewusst werden: Veränderungen sind nur dann hilfreich, wenn sie zu Verbesserungen führen. Deshalb müssten wir das Wort Veränderungsmanagment stets mit dem Begriff VERBESSERUNGSmanagement ersetzen.

FAZIT: Lernen benötigt Zeit. Lernprozesse  benötigen ein gutes Lernklima, Konstanz und Ruhe. Ich frage mich, weshalb es Lehrkräfte im Einsatz nicht wagen, so ungeschminkt Klartext zu sprechen wie ihre Ex-Kollegin?