In der Schweiz sammeln viele Pensionäre Rahmdeckelchen. Warum tun sie das?
Es gibt eine einfache Erklärung: Diese Pensionäre haben eine
Leidenschaft entwickelt, die sie einfach pflegen können und über die sie
leicht mit andern Menschen in Kontakt treten können. Es gibt aber auch
eine komplexere Sichtweise: Das Rahmdeckelchensammeln gleicht dem
Sammeln von Reliquien.
Wie das?
Gesammelte Objekte entwickeln eine Präsenz, die weit über ihren
konkreten Nutzwert hinausgeht. Bei Rahmdeckelchen dürfte es eine
nostalgische Präsenz sein. Die aufgedruckten Landschaften erinnern an
eine alte, vergangene, noch heile Schweiz. Der Sammler versucht, im
Chaos der Welt ein bisschen Ordnung zu schaffen.
Welche Motive können Sammler ansonsten haben?
Das Motiv der Eroberung. Casanova brauchte diese Masse an Frauen ja
nicht, um ein aufregendes Sexleben führen zu können. Dafür hätte er sich
besser über einen längeren Zeitraum hinweg einer Mätresse gewidmet. Er
brauchte aber sehr wohl die stete Bestätigung der erfolgreichen
Eroberung. Und dann gibt es noch jene, die nach Besitz gieren. Diese
Sammler müssen ihre Sammelstücke nicht in Sichtweite haben wie die
Rahmdeckelchen-Sammler, sondern verfrachten sie in Keller und
Lagerhallen. Solange sie wissen, dass ihre Sammlung dort sicher ist und
niemand anderes Zugriff hat, sind sie zufrieden.
Wann wird der Sammler zum Messie?
Sammler und Messies haben nichts miteinander zu tun. Der Sammler legt
Wert auf eine symbolische Ordnung – es ist die gezielte Auswahl, die
eine Anhäufung von Barbiepuppen erst zu einer Sammlung macht. Er schafft
sich seine eigene, vollumfänglich kontrollierte Welt. Es handelt sich
um eine pharaonische Denkfigur: Man baut etwas auf, was die eigene
Existenz überdauern soll.
Messies hingegen mit ihrem chaotischen
Hortungswahn interessieren mich nicht. Das sind bloss traurige Leute.
Wie ergehts dem Sammler, der seine Kollektion endlich komplettiert hat?
Häufig verkaufen sie die Sammlung dann sofort und beginnen was Neues.
Komplette Sammlungen gibts übrigens erst seit der industriellen
Revolution – seit es das Prinzip der Serie gibt.
In welchem Verhältnis stehen Sammelleidenschaft und moderne Naturwissenschaft?
In der Renaissance gab es die ersten säkularen Sammlungen, von
Zeichnungen, Steinen, Pflanzen. In ein paar wenigen Jahrzehnten legten
zumal italienische Sammler erstaunlicherweise Hunderte solcher
Kollektionen an; sie bildeten das Fundament der modernen
Naturwissenschaft. Hinzu kamen die Sammelobjekte aus neu erschlossenen,
exotischen Gegenden: Nüsse, Gürteltiere, sogenannte Drachen. Das waren
Dinge, zu denen die Bibel nichts zu sagen hat. Wer sie sammelte,
destabilisierte – ob er das nun wollte oder nicht – die christliche
Ordnung. Die Sammlungen bestärkten die Ansicht, dass sich die Welt nur
aus sich selber heraus erklären liess.
(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
(
Philipp Blom: Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der
Geschichte einer Leidenschaft. München 2014. 49.90 Franken, 416 Seiten.