SP-Gemeinderätin und Nationalrätin Yvonne Feri aus Wettingen AG kann sich die Zusammenarbeit mit einem Chef wie Geri Müller kaum vorstellen. (Bild: Keystone/Gaetan Bally)
Feri möchte nicht länger schweigen. Die Nationalrätin und
Gemeinderätin in Wettingen AG sagt in der «Aargauer Zeitung», warum sie
von Geri Müller enttäuscht ist: Sie findet «die Aussagen über seine
Sekretärin und die syrische Sozialministerin nicht akzeptabel». Müller,
das hatte die «Schweiz am Sonntag»
publik gemacht, schrieb seiner Chat-Partnerin aus dem Büro Nachrichten
wie: «Die Sekretärin ist weg.» Wenn sie jetzt, wo er ohne Hosen dastehe,
reinkommen sollte, würde er sie fragen, «ob sie sich bedienen will».
Zudem schrieb er seiner Chat-Partnerin aus Syrien fragwürdige SMS über
die Ministerin Kinda al-Shamat, etwa, dass ihre Augen «lasziv
leuchteten».
Feri dazu: «Wenn ich seine Sekretärin wäre,
dann wäre für mich klar: Mit einem solchen Chef möchte ich nicht
zusammenarbeiten.» Sie fordert in der «Aargauer Zeitung», dass zumindest
ein Vermittler eingeschaltet werden müsse, der die Situation zwischen
der Arbeitnehmerin und ihrem Chef klären hilft: «Zusammen mit einem
Mediator muss dann geklärt werden, wie eine weitere Zusammenarbeit
möglich ist.»
Geri-Gate wurde längst eine Gender-Debatte
Feri kämpft für die Gleichstellung von Mann und Frau und gegen Sexismus. Erst kürzlich kritisierte sie den «Blick am Abend» auf Twitter,
weil die Zeitung die Story «So sehen Business-Frauen heute aus» mit
Jessica Alba im Bikini bebilderte. «Was soll DAS genau bedeuten, bitte
schön?», fragte die Politikerin, die lange Zeit im Finanzbereich tätig
war und diverse Führungsfunktionen innehatte.
Aber
Geri-Gate ist nicht erst durch das Votum von Yvonne Feri zur
Gender-Debatte geworden. Dafür hat am deutlichsten wohl
«Weltwoche»-Verleger Roger Köppel mit seinem jüngsten Kommentar
gesorgt, der auf sozialen Medien vor allem Spott und Häme kassierte.
Kurz zusammengefasst schrieb Köppel, das Zusammenleben zwischen Mann und
Frau sei reines «Naturgesetz», Männer könnten fast gar nicht anders wie
Geri Müller, ein begehrender Mann sei «nicht mehr zurechnungsfähig» –
man müsse darum nachsichtig sein. Umgekehrt definierten sich Frauen
darüber, von Männern begehrt zu werden. Köppel: «Das weibliche
Selbstvertrauen ist die Summe des männlichen Begehrens im Quadrat.»
Der Geri-Gate-Erguss des «Weltwoche»-Chefs sorgte weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufregung. Stefan Plöchinger, Chef des grossen Online-Portals Sueddeutsche.de, führte den Text auf seinem Blog unter dem Titel «die Weltwöchin»
ad absurdum, indem er einfach Männlein und Weiblein vertauschte. Auch
dieser Beitrag sorgte auf sozialen Medien für Diskussionsstoff – und
Heiterkeit.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang mit der Gender Debatte Regula Sämpfli:
Gerigate hat mehr Schlagzeilen provoziert als das Freihandelsabkommen
Schweiz-China. Gerigate wurde vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen per
Livestream und mit eigens dafür einberufener Talkshow zugänglich gemacht
während das Freihandelsabkommen nicht einmal in der
Arena
diskutiert wurde. Gerigate produziert mehr Posts, Kommentare,
Livestreams und Diskusionen als die gegenwärtige Diskussion um TTIP.
Dabei wird Geri Müllers Penis keinen einzigen Zukunftsbereich Ihrer und
meiner Politik betreffen. Null, zero, nichts. Und doch hänge auch ich an
jedem Click, der Neues zur Story produziert. Denn endlich habe ich eine
Geschichte, die nicht mehr runtergebrochen werden kann. Denn es gibt
Niveaus, die können nun nicht mehr unterschritten werden. Würden im Jahr
2094 Historikerinnen nur anhand der Schweizer Medienberichte und
Online-Medien indessen die wichtigsten politischen Debatten im Jahr 2014
recherchieren, müssten sie erschüttert feststellen: Ein Penis bewegt
die Nation.
Der Wirklichkeitsverlust der Medien betreffend lebendiger
Politikdebatten ist in der totalitären Versachlichung alles Lebens zu
verorten. Diese drückt sich in einem Kategorien-, Umfrage- und
biopolitischen Mainstream aus. Der Körper einer Politikerin erhält mehr
Aufmerksamkeit als ihr Wahlprogramm. Forschungsfragen des
Schweizerischen Nationalfonds werden nach Alterskategorien vergeben.
Relevante gesellschaftspolitische Anerkennungen erfolgen gemäss
Vernetzungsgrad der Akteure. Seit Jahren verschieben sich die
politischen Argumente hin zum Körper, zu Smartvote, zu Statistiken, zu
abstrakten, immergleichwährenden Gewinn hin. Diese Ignoranz und all die
fehlenden öffentlichen Diskussionen konstruieren ein Klima, in dem mehr
über einen völlig irrelevanten Penis geredet wird als über die
Wichtigkeit, ein Freihandelsabkommen an die demokratischen Grund- und
Menschenrechte zu binden. Diese politische Kultur prägt auch die
Akteure, die ihrem Penis mehr Aufmerksamkeit schenken als grossen Themen
wie Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität.
Gerigate wäre nur dann
relevant, wenn sich Amtsmissbrauch feststellen liesse. Apropos: Wie war
es nun schon wieder mit dem Seco? Interessieren irgendwen die 36
Millionen veruntreuter Steuergelder noch, oder ist der Sozialbetrug
eines Carlos (mit einem im Vergleich läppischen Betrag) doch spannender?
In der Demokratie geht es - anders als in jeder anderen Regierungsform -
um den Prozess, um Gestaltungsmacht und um den Diskurs. Dieser ist in
der Mediendemokratie, die sich im Bade der biopolitischen
Verwissenschaftlichung und in der entpolitisierten Identitätspolitik von
jung, alt, schwarz, weiss, Aussen und Innen eingerichtet hat, zur
Hofberichterstattung der Toilettengänge von Louis XIV verkommen.
2007 schrieb ich, dass sich das
Cogito ergo sum zum
In media ergo sum transformiert hat. Seit zwei Jahren beobachten wir
Coitus ergo sum und nun
Penis ergo sum. Die
Auswirkungen? «Ein grundlegender philosophische Wandel. Die
Verschiebungen sind markant: Von öffentlich zu privat, von Argument zu
Körper, von repräsentativ zu identitär, von relevant zu irrelevant, von
Diskussion zu Propaganda, von Kompetenz zu Prominenz, von Wahrhaftigkeit
zum Image, von weise zu unverantwortlich, von langfristig zu Jetztzeit,
von Komplexität zur Plakatierung, von Politik zu Demoskopie, vom Denken
zum Zählen.» (
Die Macht des richtigen Friseurs, Stämpfli).
Was tun? Nun ja. Man könnte beispielsweise mit einem der hier oder in
anderen Kolumnen zitierten Bücher beginnen...Talkthemen über der
Gürtellinie gäbe es dann zuhauf.
(Regula Stämpfli/news.ch)