«Wie im Mittelalter auf dem Hinrichtungsplatz»
Interview: Vincenzo Capodici.
Herr Knill, was fällt Ihnen auf, wenn Sie das Foto von US-Präsident Barack Obama und seinem Sicherheitsteam im «Situation Room» anschauen?
Das Bild erinnert an eine Gruppe, die einen wichtigen Fussballmatch oder einen brutalen Film verfolgt. Doch geht es hier um das Betrachten einer Hinrichtung, und zwar live – wie es im Mittelalter auf dem Hinrichtungsplatz von Verbrechern der Fall gewesen war. Ein ähnliches Bild hätte man im Weissen Haus beim Blick auf den Bildschirm anlässlich des Columbia-Desasters im Jahr 2003 aufnehmen können. In der Aufnahme mit Obama liegt Spannung in der Luft. Bestürzt hält Aussenministerin Hillary Clinton die Hand vor den Mund. Obama wirkt höchst konzentriert und neigt selbstvergessen den Oberkörper nach vorn, die Unterarme auf die Oberschenkel stützend. Neben Obama ist ein Sack, in dem Papiere zur sofortigen Vernichtung gesammelt werden. Eine Karte vor Clinton wurde unkenntlich gemacht. Drei der Betrachter schützen sich gleichsam mit den verschränkten Armen.
Obama ist auch auf anderen Fotos zu sehen, zum Beispiel in Denkerpose oder im Gespräch mit Sicherheitsberater Tom Donilon. Was sagen diese Bilder über den US-Präsidenten aus?
Obama wirkt natürlich, engagiert und bedacht. Man sieht bei allen Aufnahmen: Es geht dem Präsidenten um sehr viel. Sie haben Obama Punkte gebracht. Doch ist damit nicht gesagt, dass diese Punkte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nachwirken werden.
Das Weisse Haus hat bewusst diese Bilder freigegeben. Was will der amerikanische Präsident damit der Welt mitteilen?
Das Weisse Haus hat keine Bilder freigegeben, die den Jubelbildern auf der Strasse ähneln. Es wollte auch keine Bilder des toten Terroristen Osama Bin Laden publizieren. Das Foto-Dilemma löste die US-Regierung, indem sie nur Bilder veröffentlichte, die veranschaulichen, dass die Regierung überlegt gehandelt hat. Die Aufnahmen sollen bewusst machen, dass es um eine ernste, bedachte Aktion gegangen ist. Die Weltöffentlichkeit soll sehen, dass der imagemässig angeschlagene US-Präsident sich durchsetzen und handeln kann. Und dass Obama das gelang, was seinem Vorgänger George Bush nicht gelungen war.
Die Bilder von Obama mit seinen engsten Mitarbeitenden erinnern an Fotos von John F. Kennedy während der Kuba-Krise. Wollte sich Obama bewusst wie Kennedy inszenieren, der eine Ikone der US-Geschichte ist?
Präsident Kennedy war 1962 mit seinen Beratern auf der Veranda des Weissen Hauses fotografiert worden. Dieses Bild ging tatsächlich in die Geschichte ein. Die Aufnahme mit Obama und seinem engsten Kreis könnte eine ähnliche Wirkung haben.
Nach tagelangem Ringen hat die US-Regierung beschlossen, keine Fotos des toten Terrorchefs zu zeigen. Was hätte die Veröffentlichung von Leichenfotos bedeutet?
Wenn Fotos des Toten mit dem zerstümmelten Kopf gezeigt worden wären, wäre dies ein Verstoss gegen den Ethik-Kodex der Medien gewesen. In der amerikanischen Medienlandschaft sollen möglichst keine Bilder von Toten gezeigt werden – zumindest keine Aufnahmen von verstümmelten oder misshandelten Menschen. Die meisten US-Medien halten sich an das Gebot. Allerdings gibt es immer wieder Ausnahmen – zum Beispiel, als Saddam Husseins Leiche nach dessen Hinrichtung gezeigt wurde. Nachdem gefälschte Fotos aufgetaucht waren, war der öffentliche Druck auf die US-Regierung sehr gross, Bilder des toten Bin Laden zu zeigen. Dennoch hat sie darauf verzichtet – angeblich auch aus Gründen der nationalen Sicherheit. Selbst wenn die US-Regierung ein Leichenfoto des Terrorchefs veröffentlicht hätte, wäre es sehr gut möglich gewesen, dass die Verschwörungstheoretiker auch diese Aufnahme angezweifelt hätten.
Wie beurteilen Sie die verbale Kommunikation der amerikanischen Regierung nach der Tötung von Bin Laden?
Es ist unglaublich: Da wurden Anfängerfehler begangen. Mir ist unverständlich, dass das Weisse Haus Informationen nicht koordinieren kann. Zuerst hiess es, Bin Laden sei bewaffnet gewesen, nachher wurde dies offiziell dementiert. Ein Sicherheitsverantwortlicher liess zuerst verlauten, man solle Bin-Laden-Fotos veröffentlichen. Dann entschied der Präsident, es werde nichts veröffentlicht. Gegenteilige Aussagen untergraben die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen. Ich gehe davon aus, dass jetzt die Fotos auf keinen Fall mehr herausgegeben werden. Ich habe allerdings Zweifel, ob nun Ruhe einkehrt. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)
Zu einer Geste, die zu reden gab (Fortsetzungsgeschichte der historischen Aufnahme)
Selbstschutzbehauptung der Aussenministerin?
Ich zitiere Tagi:
Entsetzen oder unterdrücktes Niesen?
US-Aussenministerin Hillary Clinton hält sich die Hand vor den Mund, als sie im Weissen Haus mit Präsident Barack Obama und dem übrigen Sicherheitsteam die Kommandoaktion auf Al-Qaida-Chef Osama bin Laden verfolgt. Sie scheint als Einzige im Situation Room ihr Entsetzen nicht verbergen zu können.
Doch Clinton will von dieser Interpretation ihrer Geste nichts wissen. Zwar bezeichnet sie den Einsatz als die «38 intensivsten Minuten meines Lebens», doch was in ihr vorgegangen sei, als das Foto entstand, wisse sie nicht mehr. Vielleicht habe sie nur ein Husten oder Niesen unterdrücken wollen, erklärte sie heute bei einer Pressekonferenz mit ihrem italienischen Kollegen Franco Frattini in Rom.
Kommentar: Die Augen verraten, dass Hillary Clintons Begründung eine Selbstschutzbehauptung ist.
In meinen Analysen prognostizierte ich, dass das Bild historische Dimensionen hat. Jedenfalls beginne bei dieser Aufnahme (auch nach 20 Min) bereits eine Ikonenbildung: