Darf man ein totes Kind so zeigen?
Zur Gewissensfrage von Journalisten
Schreckliche Bilder aus Krisengebieten erreichen die Redaktionen alltäglich. Es gehört zum Job von Medienschaffenden, Bilder auszuwählen, die Geschichten treffend illustrieren. Meist ist klar, was gezeigt wird – und was nicht. Im Fall des toten Flüchtlingsbuben an einem türkischen Strand war das aber nicht so, die Meinungen in unserer Redaktion gingen auseinander.
Die Redaktion hat sich dazu entschieden, das am wenigsten explizite Bild des toten Flüchtlingskindes zu zeigen. Eine drastischere Version machen wir über einen Link am Ende der Ja-Meinung zugänglich: Wir möchten das Bild verfügbar machen, aber den Lesern den bewussten Entscheid überlassen, ob sie es auch sehen wollen.
Ja
Von Philippe ZweifelWie ein Stück Abfall angeschwemmt: Das Bild des toten Kleinkinds ist unerträglich. Drastischer noch als jenes vom Napalm-Mädchen in Vietnam oder die Aufnahmen der Leichenteile der abgeschossenen Passagiere von Flug MH 17.
Die Debatte, ob man solche Bilder zeigen darf, verläuft nach bekanntem Muster. Während einige Medien die Publikation des Bildes aus ethischen Gründen ablehnen, rechtfertigen andere die Veröffentlichung mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Dokumentation eines «historischen Ereignisses» oder «dem Recht der Öffentlichkeit auf Information». Doch wo hört diese Notwendigkeit auf, wo beginnt der Voyeurismus, wo der gemütliche Grusel?
Im Fall des toten Jungen kann von Voyeurismus oder Sensationslust kaum die Rede sein. Wer das Bild gesehen hat, bringt es nicht mehr aus dem Kopf. Mancher wird sich wohl wünschen, es nie gesehen zu haben. Gerade deshalb sollte es nicht nur mit sentimentalen Kommentaren versehen auf Social Media zirkulieren, sondern auch von den Medien gezeigt werden: Weil es ein ikonisches Mahnmal ist, keine Sensation.
Das Bild des toten Jungen durchsticht die Lähmung.
Die
Würde des toten Kinds? Die wurde ihm doch schon lange vor der Aufnahme
des Fotos genommen. Auch durch die entmenschlichte Sprache wie sie
derzeit von vielen Medien und Politikern benutzt wird. Das Bild ist so
auch eine Erinnerung, dass die Flüchtlinge keine «Massen» sind, sondern
Individuen. Kein «Schwarm», wie sie vom englischen Premierminister David
Cameron genannt wurden. Und sicher keine «Fachkräfte» wie sie Christoph
Mörgeli ironisch genannt hat.Seit Monaten rieseln die Schreckensmeldungen über das Flüchtlingselend durch die Zeitungen und sozialen Medien. Wir haben uns daran gewöhnt, bei manchen hat Resignation eingesetzt, bei einigen wohl auch Gleichgültigkeit. Das Bild des toten Jungen durchsticht die Lähmung. Zwar können solche Fotos kaum moralische Haltungen schaffen, aber sie können sie festigen, und sie können ein Aufruf an die Politik sein, endlich etwas zusammen zu unternehmen. Ob mit Grenzzaun, Hilfe vor Ort, militärischen Einsätzen oder Asylrecht ist angesichts des Fotos nebensächlich. Hauptsache, man guckt nicht weg. Nicht weggucken – dafür steht dieses Bild. Schauen wir es also an.
Das besagte Bild finden Sie hier.
Nein
Von Robin SchwarzNein, dieses Foto des toten Flüchtlingskinds am türkischen Strand zeigen wir nicht. Wir zeigen keine Toten in aktuellen Krisensituationen. Das ist eine Regel und daran halten wir uns. Schon gar nicht zeigen wir Kinderleichen.
Ein Grund, diese Regel zu brechen, wäre folgende Ausnahme: Das Bild bewegt die Welt und darin schwingt die leise Hoffnung mit, dass plötzlich alles anders wird, sich der Umgang mit der Flüchtlingskrise ändert. Ist das diese Ausnahme?
Braucht es dieses schrecklich traurige Bild wirklich, damit wir uns unseres Versagens in der Flüchtlingspolitik bewusst werden? Braucht es das Bild, um zu wissen, dass ein kleiner Bub sein Leben beim Streben nach einem besseren Leben verloren hat? Oder braucht es das Bild, um uns das Drama der Flüchtlinge näherzubringen?
Nein, es braucht dieses Bild nicht. Wir haben schon genug gesehen. Es jetzt zu zeigen – mit einer «moralischen» Botschaft – ist purer Zynismus, Zynismus gegenüber all den Flüchtlingen, die ihr Leben bereits verloren haben und kaum Beachtung gefunden haben – und es ist respektlos gegenüber dem Vater des Jungen, der überlebt hat. Im Gegensatz zu seinem anderen Kind und seiner Frau. Die Geschichte, die durch dieses Bild verbreitet wird, ist nicht komplett. Und den Tod seines Sohnes muss er nun immer und immer wieder erleben, weil das Bild tausendfach reproduziert wird.
Es ist verlogen und unaufrichtig, erst jetzt kollektiv zu einer Einsicht gekommen sein zu wollen.
Wo
ist da der Erkenntnisgewinn? Am Ende ist es mit diesem Bild wie mit
allen Schreckensbildern. Sensationslust, Voyeurismus. Und vor allem ist
es verlogen und unaufrichtig, erst jetzt kollektiv zu einer Einsicht
gekommen sein zu wollen. Diese «Einsicht» wird jetzt kräftig überall in
den sozialen Medien geteilt, das Bild des toten Jungen mit banalen
pseudosentimentalen Sprüchen versehen. Wir stillen unseren
Betroffenheitsdurst daran und lassen das Bild zu Kitsch verkommen – und
morgen ist das Leid dieses Menschen wieder vergessen, das politische
Hickhack geht weiter. Dass man dieses Elend zu einem Zweck
instrumentalisiert, ist niemals richtig, sei der Zweck auch noch so
nobel. Nein, dieses Bild sollten wir nicht zeigen, nicht ein persönliches Leid vor der ganzen Welt ausbreiten. Schon gar nicht dann, wenn der Leser nicht einmal selber entscheiden kann, ob er damit konfrontiert werden will.
KOMMENTAR: Die Aufnahmen des Elendes mit Massen von Flüchtlingen ängstigten die Oeffentlichkeit und führten zu einer starken Abwehrhaltung. Wir sahen vor allem die MASSEN. Die Medien erkannten, dass einzelne Schicksale, EINZELNE MENSCHEN gezeigt und portraitiert werden müssen. Nun so kann bei der Bevölkerung Anteil geweckt werden. Es ist offensichtlich, dass nach den Brandanschlägen auf Asylantenheime die wichtigsten Medien die Information sofort einhellig umstellten. Es werden derzeit vor allem Kinder und Mütter gezeigt, die leiden. Reporter begleiten Einzelpersonen und wecken mit ihren Reportagen Mitleid.
Dadurch ist die Spendenbereitschaft schlagartig angestiegen. Es lohnt sich, diese neue Art der Berichterstattung genauer ins Auge zu fassen. Wir sehen: Ausgewählte Bilder schaffen auch neue Wirklichkeiten.
Im Beitrag der Weltwoche: "Wir können nicht ganz Afrika aufnehmen", suggeriert ein grosse Bild mit vorwiegend jungen Männern, dass diese vor allem vom Wohlstand Europas profitieren möchten. Auch hier geht es um Beeinflussung mit Bildern. Die Haltung der Weltwoche ist bekannt: Nur Menschen, die an Leib und Leben verfolgt werden sollen Schutz erhalten. Alle anderen wären zurückzuschaffen.
NACHTRAG Symbolbilder (SRF):
Wie viel Leid dürfen, müssen, sollten die Medien zeigen?
Es ist eine Frage, die seit Jahrzehnten gestellt wird und immer wieder
neu beantwortet werden muss: Wo endet die Informationspflicht, wo
beginnt der Voyeurismus? Hier sind vier Bilder, die Geschichte schrieben
– und die höchst unterschiedlichen Geschichten, die dahinter stecken.
1972 – das Symbolbild des Vietnamkriegs
Was wäre gewesen, wenn das berühmte Foto der nach einem Napalm-Angriff fliehenden Phan Thị Kim Phúc nie veröffentlicht worden wäre? Die Möglichkeit bestand, denn Mitarbeiter der Nachrichtenagentur AP hatten aufgrund der Nacktheit des Mädchens zunächst Bedenken. Doch das Bild ging um die Welt, und das hatte Folgen: Für die Diskussion um die Art der Kriegsführung, die neue Fahrt aufnahm.Und für das Mädchen selbst. Der Fotograf Nick Út brachte es nach seiner Aufnahme ins Krankenhaus, aber die Überlebenschancen schienen gering. Durch die weltweite Aufmerksamkeit wurden Spezialbehandlungen und Operationen ermöglicht, die Phan Thị Kim Phúc das Leben retteten. Sie studierte später Medizin, lebt heute in Kanada und gründete 1997 die «Kim Phuc Foundation», um kriegsversehrten Kindern medizinisch und psychologisch zu helfen.