Doris Fiala nimmt kein Blatt vor den Mund. Vor drei Wochen hat sie den rhetorischen Zweihänder ausgepackt und den Bundesrat
aufgefordert, Deutschland wegen des Kaufs der geklauten Bankdaten vor
Gericht zu zerren. Als vierfache 1.-August-Festrednerin am vergangenen
Mittwoch schwang sie eine kaum kleinere Verbalkeule, diesmal in Richtung
Volk. Ohne Rücksicht auf Verluste, mit strahlendem Lächeln, redete die
Stadtzürcher FDP-Nationalrätin ihren Festgemeinden ins Gewissen – und
provozierte mit ihrer Frontalkritik irritierte Blicke.
Fiala
diagnostiziert bei der Schweiz ein «Wohlstands-Schleudertrauma». Der
Wohlstand in der vor hundert Jahren noch mausarmen Schweiz, erklärt sie
im Gespräch mit SonntagsBlick, sei vielleicht zu schnell gekommen.
Deshalb schmerze die Wachstumsbremse jetzt umso mehr. Die diffuse
Zukunftsangst, die durchs Land geht, vergleicht Fiala mit dem diffusen
Kopfschmerz bei einem Schleudertrauma.
Die Grundstimmung vieler
Schweizer sei schlicht «muff», findet Fiala. Der typisch schweizerische
Begriff stammt von Hugo Loetscher (1929–2009). Der weltläufigste der
Schweizer Schriftsteller hatte ein scharfes Auge für die Schweizer
Befindlichkeit («Der Waschküchenschlüssel»). In seinem Essay «Über das
Muff-Sein» schrieb er, «wir Schweizer sind im Prinzip muff» – also
permanent und vorsätzlich missgünstig, leicht säuerlich, wegen
Nichtigkeiten verärgert und beleidigt.
Diese Mentalität schade dem
Land, sagt Fiala und fragt: «Wie wollen wir im Wandel bestehen, wenn
wir nicht begeistert, schaffig, engagiert, dienstleistungsbereit,
leidenschaftlich, zufrieden und froh darüber sind, dass es uns
insgesamt derart gut geht?» Neugierig und innovativ, fleissig,
optimistisch und offen für den Wandel müssten die Schweizer sein.
Wohlstand sei schliesslich nicht Gott gegeben. «Es kann doch nicht sein,
dass 25-Jährige nur noch 80 Prozent arbeiten wollen, weil sie den
Freitag brauchen, um das Wochenende vorzubereiten», echauffiert sich die
Politikerin im Gespräch. Sie selber, sagt sie, arbeite 12 bis 14
Stunden am Tag.
Die Schweizer aber genössen heute nicht nur die
Früchte der Produktivität, sondern lebten auch von der Substanz.
Herausforderungen wie etwa die Rentensicherung für kommende Generationen
würden einfach aufgeschoben. Dabei gehe es um einfache konkrete Fragen:
«Sind wir gewillt, künftig wieder mehr und länger zu arbeiten, nachdem
wir auch viel länger leben?» Denn: «Würde das AHV-Alter heute berechnet
und an die neue Lebenserwartung gekoppelt – wir müssten bis 70
arbeiten.»
Zeit des Händchenhaltens ist vorbei
Warum, Frau Fiala, fahren Sie dem Volk so gnadenlos an den
Karren? «Die Zeit des Händchenhaltens ist vorbei. Ich will dazu
aufrütteln, der ‹muffen› Schweiz eine Absage zu erteilen!»
Sie will die Schweiz bewegen. Und die Schweizer zur Bewegung motivieren.
«Die
Deutschen und viele andere Ausländer, die bei uns arbeiten, sind nicht
selten Service orientierter als wir Schweizer.» Betretenes Schweigen im
Festzelt. Das höre natürlich niemand gern, räumt sie ein. «Wir sind zu
rasch und zu oft ‹muff›», weil diese «cheibe Dütsche» einfach überall
seien. Weil wir aber die Deutschen und all die anderen Ausländer
brauchten, müsse sich das Land innerlich mit ihnen versöhnen und
anerkennen, dass sie gute Arbeit leisteten – «gut sind sie da!».
So
versöhnlich Fiala mit den Deutschen in der Schweiz ist, so angriffig
ist sie gegen das offizielle Deutschland, mit dem weder der Streit um
das Steuerabkommen noch jener um den Anfluglärm auf den Flughafen Kloten
gelöst sind. «Wir müssen den deutschen Politikern entschieden härter
entgegentreten», verlangt sie. «Ich wünsche uns den Mut, nicht immer mit
dem billigsten Kompromiss voranzugehen. Wir müssen unsere
internationalen Interessen hartnäckig vertreten.»
Und wieder ein
wenig schmeichelhafter Vergleich, diesmal an die Adresse der offiziellen
Schweiz: Angsthasen regierten das Land, lässt sie durchscheinen. «Wir
sitzen im Steuerstreit wie das Kaninchen vor der Schlange statt uns zu
wehren. Etwas mehr Zivilcourage ist angesagt und weniger falsche
Bescheidenheit», enerviert sich die Nationalrätin.
Frau Fiala,
warum reden Sie Schweiz und Schweizer schlecht – sind Sie keine
Patriotin?
«Ich bin glühende Patriotin, auch wenn ich die Nationalhymne
nicht vollständig auswendig kann.» Und von schlechtreden könne keine
Rede sein: «Ich möchte motivieren, stolz, glücklich, positiv in die
Zukunft zu blicken und daran zu glauben, dass wir die aktuellen und
künftigen Herausforderungen meistern.»