Donnerstag, 17. Mai 2018

Zum Medienclub

Am Pranger - wenn Medien richten

Pierin Vincenz ist eine nationale Grösse. Früher als umtriebiger Banker und Raiffeisen-Chef. Heute als Untersuchungshäftling. Kaum ein Medium, das über den tiefen Fall von Vincenz nicht berichtet hat. Und das Urteil scheint gefällt, bevor die Justiz gerichtet hat.
Immer wieder werden Menschen an den öffentlichen Pranger gestellt. Geri Müller, Monika Stocker, Jonas Fricker, Sepp Blatter. Aber es trifft nicht nur mächtige Politiker oder Wirtschaftsleute. Es trifft auch Nicht-Prominente. Dabei scheint keine Rolle zu spielen, ob es zu schweren Verfehlungen gekommen ist oder nicht. Die Empörung ist gross und die Mechanismen, welche spielen, sind ähnlich.
Woran liegt das? Schiessen die klassischen Medien heute, wo die sozialen Medien eine immer wichtigere Rolle spielen, mehr und öfter auf Mann und Frau? Oder werden die Medien damit, wie im Fall von Vincenz, schlicht ihrer Funktion als «Vierte Gewalt» gerecht?

 Wie es der deutsche Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger sagt: «Der Medienpranger ist keine Strafe als Folge eines geregelten Verfahrens, sondern geht ihm voraus und ersetzt es vielfach.»
Und wie erleben es die Direktbetroffenen? Wie gehen Sie mit der Tatsache um, dass sie plötzlich von Medien gejagt werden, öffentliche Ächtung erleben, manchmal Job und Ruf verlieren? Welche Möglichkeiten haben sie, sich zu wehren, sich später vielleicht zu rehabilitieren? Gibt es das Vergessen in Zeiten des Internets überhaupt?
Im «Medienclub» diskutieren unter der Leitung von Franz Fischlin:
Geri Müller, Alt Nationalrat Grüne, abgewählter Stadtammann Baden
Ruth Enzler, Psychologin, Präsidentin ACS Zürich, Buchautorin
Mark Eisenegger, Kommunikationswissenschaftler, Leiter Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög), Universität Zürich
Lukas Hässig, Wirtschafts- und Investigativ-Journalist, Buchautor

Positionen:

Geri Müller: «Der Pranger versucht die Würde zu zerstören, und zerstört die Würde des Anprangenden mit.»
Ruth Enzler: «Wenn nicht mehr mit einem, sondern nur noch über einem gesprochen wird, dann fühlt man sich ausgeliefert. In dieser Zeit ist es wichtig, innerlich Distanz zu schaffen.»
Mark Eisenegger: «Es hat sich so etwas wie eine Kultur der Skandalisierung entwickelt. Schuld sind aber nicht nur die Medien, sondern z.B. auch die Politik, die ihren Teil dazu beiträgt.»
Lukas Hässig: «Im Fall Vincenz geht es nicht um Medienpranger. Der Ex-Raiffeisenchef wurde im Gegenteil von den grossen Medien bis fast zuletzt geschont und hofiert. Seine Privatdeals kamen bereits 2016 ans Tageslicht, aber keine grosse Zeitung nahm sie auf und begann zu recherchieren. Statt um Medienpranger geht es hier um Medienversagen.» (Quelle SRF)

Aus der Sendung:

Medienclub

  • Dieser Link öffnet das Video in einem neuen Fenster.: Video ««Die Unschuldsvermutung wird viel zu wenig erwähnt»» abspielen Video ««Die Unschuldsvermutung wird viel zu wenig erwähnt»» abspielen

    «Die Unschuldsvermutung wird viel zu wenig erwähnt»


  • Dieser Link öffnet das Video in einem neuen Fenster.: Video «Geri Müller: «Würde den Anwalt reden lassen.»» abspielen Video «Geri Müller: «Würde den Anwalt reden lassen.»» abspielen

    KOMMENTAR:

    Geri Müller habe ich nicht abgenommen, dass es damals nicht gewusst hatte, was tatsächlich abgelaufen ist. Dass er heute alles anders machen würde, ist nachvollziehbar.

    Es war offensichtlich, dass Geri Müller nicht mehr gerne über seine alte Geschichte spechen wollte. Weshalb wurde nicht Jonas Fricker eingeladen?
    Im August 2014 hatte er Nackt-Selfies aus dem Badener Stadthaus an seine Liebschaft versandt. Diese leitete das Material an die Medien weiter, die «Schweiz am Sonntag» publizierte sie. Es folgte ein jahrelanger Rechtsstreit. Müller gelangte gesellschaftlich am tiefsten Punkt überhaupt an.



    Käme er heute nochmals in solch eine Situation, würde er deshalb alles anders machen, sagt Müller. Er würde nicht mehr zugeben, dass er das, was er gemacht habe, bereue. «Ich würde nur noch meinen Anwalt sprechen lassen», sagt er.

    Einen Fehler habe auch er immer wieder gemacht: «Man sagt irgendwas, um es abzuschwächen. Es wäre gescheiter, jemand anders spricht, wenn man in der Krise steckt.»
    Ich habe bei allen Krisensituationen beanstandet, dass man nie nur irgend etwas sagt. Für mich ist Geri Müller kein Medienopfer. Er machte selbst zu viele Fehler.
    Die Sendung macht bewusst, dass die Medien Unzulänglichkeiten nicht verschweigen dürfen.
    Doch muss die Unschuldsvermutung bis zum Urteil immer wieder betont werden. Einen Schlüsselsatz kann ich mehrfach unterstreichen: Wer mit einem Bildjounalisten den Lift hinauffährt, fährt mit ihm auch wieder runter.
    Bei Blatter war die Fallhöhe enorm und bei Vincenz ist der Imageschaden schon vor der Verurteilung oder Freisprechung irreparabel  gross. 
    Fazit: Die Sendung wurde sachlich geführt. Schade, dass nicht alle Fragen beantwortet werden konnten, die in der Ausschreibung angekündigt wurden.