Drehbuch der Machtlosigkeit
Aus einleuchtenden Gründen durften Jugendlichen in der Schwiz keine Freiheitsstrafen verhängt werden. Nachdem sich jedoch schon 13 und 14 jährige grober krimineller Handlungen schuldig machen, fragt sich, ob das Jugendstrafgesetz nicht den heutigen Bedingungen angepasst werden müsste. Im heutigen Sonntagsblick wurde das Drehbuch der Machtlosigkeit der Justiz, der Eltern, der Schule und Bezugspersonen publiziert. Ein ernüchterndes Bild, das zu denken gibt!
Ich zitiere:
Vierzehn Jahre alt ist er, und er sieht aus wie ein harmloser Bub. Doch Alejandro B. ist ein schwerer Junge, ein unverbesserlicher Wiederholungstäter, der sich als Gangster sieht und nicht lange fackelt. Er ist Mitglied der zehnköpfigen Winterthurer Jugendgang, die im Mai festgenommen wurde.
Bekannt wurde der Fall letzte Woche – da platzte Urs W.** der Kragen. «Mein Sohn gehört zu den Opfern dieses Kriminellen.»
Die Tat liegt zwei Jahre zurück: «Sie kreisten meinen Jungen ein, schlugen ihn und klauten ihm das Handy.» Kurz darauf verhaftete die Polizei Alejandro und seine damalige Bande. «Er wurde zu zehn Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Weil er schon 20 Tage in U-Haft gesessen hatte, musste er nicht einmal diese leisten», erzählt der wütende Vater des Opfers. Der Mann arbeitet im sozialpädagogischen Bereich – ist also gewiss kein Haudegen. Aber über das Schweizer Jugendstrafrecht kann er nur den Kopf schütteln. SonntagsBlick zeigte Urs W. die Anklageschrift gegen Alejandro. Ein beängstigend eindrückliches Dokument:
• Alejandro B. ist gerade mal zwölf Jahre alt, als er seine erste Straftat begeht. Im Schwimmbad Winterthur-Töss raubt er zusammen mit vier Freunden zwei Jugendliche aus. Die Opfer müssen unter Androhung von Schlägen ihr Geld hergeben.
• Im Juni 2007 greifen die Behörden erstmals ein: Der Junge soll im Schulheim Elgg ZH einquartiert werden, einem Zentrum für verhaltensauffällige Kinder zwischen zehn und 16 Jahren. Alejandro verbringt dort keinen Tag. Die Schule lehnt seine Betreuung ab – die Prognosen seien zu schlecht.
• Alejandro wird Dauergast bei der Polizei. Vor seinem 13. Geburtstag nehmen sie ihn fünfmal fest: Im Juni, Juli, September und gleich zweimal im Oktober 2007. Viermal wird er nur befragt, dann wieder entlassen. Am 2. November kommt er für 20 Tage in U-Haft.
• Die Jugendanwaltschaft verfügt für Alejandro B. einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem geschlossenen Jugendheim. Von Ende November bis März bleibt er in der Durchgangsstation Winterthur.
Danach wird Alejandro entlassen. Die Behörden wollen, dass er in ein Schulheim kommt – denn der Junge gilt für sie als Intensivtäter. Doch seine Mutter interveniert, Alejandro darf nach Hause – und wird erneut rückfällig.
Kann denn niemand diesen Verbrecher stoppen?
Die Handhabe fehlt: Das Jugendstrafrecht erlaubt für Jugendliche unter 15 Jahren keinen Freiheitsentzug. Für Strafrechtsprofessor Martin Killias (61) ein grosses Problem. «Das Jugendstrafrecht wurde in einer Zeit konzipiert, als Jugendliche sehr selten schwerste Taten verübt haben. Meiner Meinung nach muss man die Altersgrenzen und die Sanktionen überdenken.» Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ist der Unterschied zwischen dem Jugend- und Erwachsenenstrafrecht nirgends so gross wie in der Schweiz.
Wird gegen einen straffälligen Jugendlichen eine Massnahme wie Heimaufenthalt verfügt, kostet das den Steuerzahler pro Tag rund 400 Franken. Vater Urs W.: «Was nützt eine Therapie, wenn der Täter nicht bereit ist an sich zu arbeiten?» * Name der Redaktion bekannt ** Name von der Redaktion geändert
Die Opfer müssen weiter zittern
Sie kesselten ihn ein, raubten sein Handy. Simon W.* war im Oktober 2007 in Pfungen ZH der Gang von Alejandro B. hilflos ausgeliefert. Sein Vater Urs W.: «Die Angreifer schlugen meinem Sohn ins Gesicht. Er trug Prellungen davon. Viel schlimmer waren aber die psychischen Folgen. Er war wochenlang traumatisiert.» Simon W. war damals 15 Jahre alt. Er hoffte, den Tätern möglichst nicht wiederzubegegnen. Doch bereits nach einem halben Jahr kreuzten sich die Wege von Täter und Opfer erneut.
«Alejandro lungerte wieder am Bahnhof Winterthur herum. Mein Sohn musste sich mehrfach verstecken. Er hatte Angst, dass sie ihn wieder attackieren.» Urs W. ist entsetzt: «Im Vordergrund sollte der Schutz der Opfer stehen und nicht die Resozialisierung der Täter.»
In Winterthur ZH hat sich das Problem mit Jugendbanden zugespitzt. Jugendliche organisieren sich um den Bahnhofplatz nach amerikanischem Vorbild in Gangs. Sie nennen sich «Zone 20»-Mafias (Zone 20 ist die Bezeichnung des Zürcher Verkehrsverbunds für die Stadt Winterthur). «Wir haben Kenntnis von diesen Gruppen», bestätigt Jugendanwalt Patrik Killer. Im Internet stellen sich die Jugendlichen als harte Gangster dar und verabreden sich zu Strassenkämpfen. Und sie prahlen damit, unschuldige Opfer attackiert zu haben.
*Name von der Redaktion geändert
• 30. April 2007, Schwimmbad Winterthur-Töss: Bandenmässiger Raub. Mit seiner Gang fordert Alejandro B. von zwei Jugendlichen Geld. Sie kesseln die Opfer ein und drohen mit Schlägen.
• 1. Juni 2007, Bahnhof Winterthur: Bandenmässiger Raub. Das Opfer wird zur Herausgabe von 50 Franken gezwungen.
• 1. Juni 2007, Marktgasse Winterthur: Bandenmässiger Raub. Wieder verlangt die Gruppe Bargeld und das Handy des Opfers.
• 31. Juli 2007, Winterthur: Falsche Anschuldigung.
• 1. September 2007, Tösstalstrasse Winterthur: Bandenmässiger Raub. Das Opfer wird mit Fusstritten attackiert. Erst als der Jugendliche schreit, lässt die Bande von ihm ab.
• 1. September 2007, Hauptbahnhof Winterthur: Bandenmässiger Raub.
• 5. Oktober 2007, Winterthur-Veltheim: Hausfriedensbruch. Einbruch ins Kulturzentrum Veltheim.
• 7. Oktober 2007, Bahnhof Bülach: Bandenmässiger Raub und Angriff. Dem Opfer wird das Nasenbein gebrochen.
• 7. Oktober 2007, Bahnhof Pfungen: Bandenmässiger Raub. Alejandro B. schlägt dem 15-Jährigen ins Gesicht. Er erleidet Prellungen und ist über Wochen traumatisiert.
• 8. Oktober 2007, Coop Grüze Winterthur: Diebstahl.
• 9. Oktober 2007, Winterthur: Sachbeschädigung und Diebstahl.
• 23. Oktober 2007, Bahnhof Pfungen: Nötigung. Die Gang greift einen Jugendlichen an, schlägt ihn.
• 27. Oktober 2007, Hauptbahnhof Winterthur: Bandenmässiger Raub. Unter Androhung von Schlägen raubt die Gang vier Jugendliche aus.
Kommentar:
So wie jedes Kind einen Anspruch hat auf körperliche Unversehrheit, so haben auch die Passanten ein Recht, geschützt zu werden. Es geht nicht nur um den Schutz unserer Kinder vor unverhältnismässigen Strafen. Es geht auch um den Schutz der Mitmenschen vor Gewalttaten. Wenn Leute im Bahnhof Winterthur sich nicht mehr frei und ungefährdet bewegen können, muss dafür gesorgt werden, dass Menschen, die sich nicht an Spielregeln halten wollen, separiert werden. Es gibt nicht nur Rechte für Täter. Es gibt auch einen Anspruch auf Schutz der Oeffentlichkeit und ein Ernstnehmen der Opfer.