In Ihrem Beispiel lernen Sie, wie man eine Präsentation macht.
Wenn Sie daran Spass haben, spricht nichts dagegen. Die Schule muss
nicht Spass machen. Aber die Jugendlichen sollen Freude haben an dem,
was sie tun. Es ist ein gutes Gefühl, sich so weit mit einem Thema
auseinandergesetzt zu haben, dass man es anderen vermitteln kann. Das
Thema ist dabei sekundär.
Daher hat Ihre Schule keine Noten?
Genau. An unserer Schule sind wir der Auffassung, dass Jugendliche sich möglichst oft als kompetent erleben sollten.
Auch die Wirtschaft misstraut den Noten und führt selbst Eignungsprüfungen durch.
Ja, Noten sind Willkür.
Das Urteil über den Leistungsstand ist Aufgabe
der aufnehmenden Institutionen und nicht der abgebenden. Der Auftrag der
Schule: die Anschlussfähigkeit sicherzustellen.
Dann sehen Sie die Eignungstests der Wirtschaft positiv?
Grundsätzlich ja, aber auch hier brauchte es eine Individualisierung.
Schüler-Portfolios zum Beispiel sind eine Alternative zu Zeugnissen und
Eignungstests. Sie sind eine Art Ausweisdossiers, welche die
Entwicklungsverläufe eines Lehranwärters sichtbar machen. Nur so ist
ersichtlich, was ein Jugendlicher wirklich weiss und kann.
Das klingt nach sehr viel Aufwand für alle Beteiligten.
Der Umgang mit Portfolios mag anstrengend sein, aber er lohnt sich. Beim
Eintritt in unsere Schule machen wir eine Standortbestimmung über das
Wissen und die Fähigkeiten eines Jugendlichen. Dann gucken wir, welches
die Anforderungen einer weiterführenden Ausbildung sind. Schliesslich
übertragen wir die Ergebnisse der Standortbestimmung und die gewünschten
Ausbildungsziele auf sogenannte Kompetenzraster. Diese stellen eine Art
Landkarte dar und beschreiben, was ein Schüler können könnte.
Kompetenzraster geben Auskunft auf die Fragen: Was habe ich erreicht?
Was sind die nächsten Schritte? Jeder Schüler entwickelt sich
unterschiedlich schnell zu unterschiedlichen Zielen hin.
Alle reden von Kompetenzen statt Wissen. Aber Kompetenz setzt doch Wissen voraus.
Natürlich. Aber die Organisation des schulischen Wissens in Fächern
wurde im 19. Jahrhundert entwickelt. Seither hat sich die Welt
verändert.
Sie lehnen Frontalunterricht ab?
Nein, an unserer Schule gibt es ihn in den sogenannten Fachateliers.
Diese Stunden finden in Niveaugruppen statt und werden stark vom
Lerncoach gesteuert. Die Vertiefung in Form von Aufträgen an die Schüler
in altersgemischten Lernteams ist aber das Kernstück der Schule. In den
Lernteams herrscht Grossraumbüroatmosphäre, allerdings mit einer
Flüsterkultur. Bei der Arbeit an ihren individuellen Verbindlichkeiten
tauschen sich die Schüler mit ihren Kollegen oder den Lehrcoaches aus.
So hat jeder Schüler seine eigene Schule in der Schule.
Bisher haben Sie nichts über Selektion gesagt.
Die Schüler messen sich bei uns nicht mit den anderen, sondern mit sich
selbst. Bei der Arbeit mit Kompetenzrastern können sie ihre
Entwicklungsverläufe verfolgen. Das spornt sie an, besser werden zu
wollen.
Sie haben in Ihrer Institution Schüler, die durch die
Maschen des Systems gefallen sind. Ist da die Selbstdisziplin ein
Problem?
Durch die altersgemischten Lernteams ist es ja nicht so, dass jedes Jahr
mit neuen Klassen wieder eine neue Lernkultur aufgebaut werden muss.
Neue Schüler übernehmen die bestehende Lernkultur in den Teams.
Wo bleibt denn der Wettbewerb? Kinder messen sich doch gern untereinander.
Hinter dem Wettbewerbsgedanken in der Schule steckt die Idee, dass alle
in jedem Fach denselben Anforderungen genügen sollten. An unserer Schule
verfolgt aber jeder Schüler individuelle Anforderungen. In den
Lernteams ist bekannt, welcher Schüler in welchem Fach gut ist. Das
sogenannte Peer Tutoring ist daher wichtig. Davon profitiert auch der
Befragte. Wenn ein Schüler von Kollegen gefragt wird, stärkt dies auch
dessen Selbstbewusstsein. Da braucht es keine Noten.
Aber Kinder sind doch auch stolz, wenn sie eine bessere Mathematiknote haben als der Kollege?
Wettbewerb ist gut. Die Frage ist aber, mit wem ich mich vergleiche. Wer
an den Engadiner Skimarathon geht und so gut sein will wie Dario
Cologna, lässt es besser sein. Wenn er aber sein eigenes Resultat vom
Vorjahr übertreffen möchte, sollte er am Lauf teilnehmen.
Sie
kritisieren in Ihrem neuen Buch die «Post-68er» in der Schule,
plädieren aber für eine Abschaffung der Noten. Das ist
widersprüchlich.
Man muss in der Schuldiskussion Abschied nehmen von den Headlines. Mal
wird mehr Disziplin verlangt, mal weniger. Aber was man unter Disziplin
versteht, wird oft nicht geklärt.
Im Rahmen der Post-68er-Welle in der
Schule wurde etwa der Begriff «Erziehung» aus der Schule verbannt. Das
ist stossend. «Erziehung» bedeutet die pädagogische Einflussnahme auf
das Verhalten und die Entwicklung von Heranwachsenden. Genau das ist die
Aufgabe von Lehrpersonen.
Sie legen Wert auf Umgangsformen. Wer zu Hause nie gelernt hat, Danke zu sagen, dürfte es in der Schule kaum mehr lernen.
Nein. Das Problem ist bei den Lehrern zu suchen, die sich nicht als
Erzieher verstehen. Wer nur Mathematik unterrichtet, wird den Schülern
nicht gerecht. Der fachliche Erfolg ist das Ergebnis mentaler, sozialer
und körperlicher Fitness. Wer als Lehrer will, dass ein Schüler mit
Widerständen Erfolg hat, muss mental und nicht fachlich ansetzen. Aber
es ist eben viel einfacher, den Dreisatz zu erklären, als mit den
Jugendlichen über ihre Widerstände zu reden.
Dafür fehlen aber die personellen Ressourcen. Wie wollen Sie in Klassen mit 25 Jugendlichen jedem gerecht werden?
Auch hier sehe ich das Problem an einem anderen Ort. Das Arbeitsmodell
der heutigen Schulen ist nach den Bedürfnissen der Lehrpersonen
organisiert. Wer gibt in welchem Raum zu welcher Zeit welches Fach? Wir
aber gehen vom Schüler aus. Was braucht er, damit er Erfolg hat? Das
setzt andere Arbeitszeitmodelle wie etwa das Präsenzmodell voraus. Die
Lehrer kommen am Morgen und gehen am Abend. Heute ist der Lehrerberuf
aber zum Teilzeitberuf geworden. Klar, die Einführung des Präsenzmodells
ist eine grosse Investition. Sie wird aber auch einen Return on
Investment bringen. Die Gesellschaft sollte sich diese Investition
leisten.
«Früher gab es kein Internet, dafür aufgeschürfte
Knie und schmutzige Fingernägel», lautet eine Ihrer Aussagen. War
früher alles besser?
Nein, keineswegs. Ich wollte damit etwas anderes sagen:
Früher stand auf
jedem Pausenplatz der Schweiz eine Kletterstange. Die wurden inzwischen
alle weggeräumt. Wir leben in einer Gesellschaft, die jedes Risiko
minimieren will. Die absolute Form der Risikominimierung ist der Tod.
Irgendwo hat die Risikominimierung ihre Grenzen. Es darf doch nicht
sein, dass wir eine Generation von kranken Kindern heranziehen, die
nicht mehr fähig ist, auf Stangen und Bäume zu klettern. Entwicklung
braucht Herausforderung. Daher sollte man die Gelegenheiten dazu nicht
eliminieren. Wir haben eine Tendenz zur Überreglementierung, die das
Denken behindert.
Sie sehen Überreglementierung auch beim
Lehrplan 21. Dieser sei ein «Ausfluss der fürsorglichen Belagerung» in
allen Lebensbereichen.
Es ist zu begrüssen, dass fortan nicht mehr nacktes Wissen zählt,
sondern auch Können. Es ist aber leider zu befürchten, dass der Lehrplan
21 nicht konsequent umgesetzt werden kann.
Es kann ja nicht darum
gehen, Kompetenzen «abzuhaken». An einer Veranstaltung sagte einmal ein
Grundschullehrer, er müsste im ersten Schuljahr 287 Kompetenzen mit den
Kindern «durchnehmen». Er wisse noch nicht, ob er das schaffe. Dieser
Lehrer hat den Begriff «Inhalt» einfach durch den Begriff «Kompetenz»
ersetzt.
Also ist der Lehrplan 21 gar nicht umsetzbar in unserem Schulsystem?
Das ist zu befürchten, ja. Aber vielleicht trägt er zum Überdenken
bestimmter Grundmuster bei. Der Umgang mit Vielfalt wird für die Schulen
zum zentralen Thema.
Der Lehrerberuf verändert sich, weil sich die
Schüler verändern. Wenn der Lehrplan 21 dazu führt, dass sich die
Schulen überlegen, was eigentlich ihre Aufgabe ist, kann er etwas
bewirken.
Der Einsatz der neuen Medien an der Schule wird heftig diskutiert. Warum ist das für Sie kein Thema?
Für mich hat Medienmündigkeit eine viel grössere Bedeutung als
Medienkompetenz. Das Handy benutzen kann heute wirklich jeder. Das
Weglegen ist das Problem. Wir können das Lernen nicht an ein Medium
outsourcen. Es ist gut, wenn die Jugendlichen wissen, wie sie zu ihren
Informationen im Internet kommen. Aber für eine erfolgreiche Suche
braucht es Wissen. Wer glaubt, dass Jugendliche mit einem iPad vor der
Nase fissiger den Dreisatz lernen, der irrt.
(Tages-Anzeiger)