Primarschüler 1959 im Kinderdorf Pestalozzi. Seither hat die
Belastung stetig zugenommen. ¨
Foto: Keystone/Fotostiftung Schweiz
Als Jürg Brühlmann, Geschäftsleitungsmitglied des Schweizerischen
Lehrerverbands,
vor 50 Jahren zur Schule ging, las sein Lehrer während des Unterrichts
die Zeitung. Damit er die Schüler, die still Aufgaben lösen mussten,
dennoch beobachten und wenn nötig massregeln konnte, hatte der Lehrer
ein Loch in die Zeitung geschnitten. Die Schüler standen vor einem
Rätsel: Wie konnte der Lehrer trotz der grossen Zeitung vor dem Gesicht
jede Bewegung im Klassenzimmer registrieren? Sie schrieben dem
autoritären Mann magische, übermenschliche Fähigkeiten zu. Der Respekt
vor ihm war gross.
Zweifelsfrei sind die Unterrichtsformen anspruchsvolle geworden als vor 50 Jahren.
Die Liste der jüngsten Reformen ist
lang: Beispielsweise der zusätzliche Fremdsprachenunterricht in der Primarschule, die
Integration von Sonderschülern in Regelklassen, das
Schulharmonisierungskonkordat Harmos oder der neue Lehrplan 21. Immer wieder reagieren Lehrkräfte reagieren heute auf die
verschiedenen Herausforderungen ihres Berufs mit Erschöpfung und fühlen sich
ausgebrannt. Vielen lassen sich vermehrt krankschreiben. «Burn-out» attestieren die Aerzte.
Die Hälfte der Frühpensionierungen
erfolgte aus psychischen Gründen.Den meisten Lehrern geht es zwar grundsätzlich gut. Aber: Mindestens
jede zehnte Lehrkraft weist so starke emotionale Erschöpfungszeichen
auf, dass das Risiko eines Burn-outs beträchtlich ist. 40 Prozent der
befragten rund 1000 Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der Volksschule
gaben an, sie seien eher oder stark psychisch belastet.
Die Belastung zeigt sich auch bei den
körperlichen Beschwerden: Jede vierte Klassenlehrkraft berichtet von
einer «Erschöpfung und Energielosigkeit», beim Verwaltungspersonal
beträgt dieser Anteil knapp 17 Prozent. Frey rechnet vor:
«Hochgerechnet fühlen sich 10 Prozent von rund 2000 Klassenlehrkräften
in Zürich nach der Arbeit ausgelaugt und psychisch stark belastet. Wenn
man davon ausgeht, dass jeder dieser 200 Lehrer eine Klasse à 20 Schüler
unterrichtet, dann werden allein in Zürich 4000 Kinder von solchen
Lehrkräften unterrichtet.»
KOMMENTAR:
Unbestrittenermassen lastet eine grosser Druck auf den heutigen Lehrkräften.
Wer jedoch hinter die Kulissen des Schulalltages blicken kann, stellt fest: Enorm viel Druck könnte vermieden werden oder ist hausgemacht.
Die Lehrpersonen könnten ohne grossen Aufwand in verschiedensten Bereichen entlastet werden.
- Es fehlt heute die Konstanz bei den Bezugspersonen. Wenn mehrere Lehrkräfte in einer Klasse unterrichten, kommt es zwangläufig zu zusätzlichen Koordinationssitzungen. Das Klassenlehrerprinzip mit einer Bezugsperson gibt viel mehr Spielraum für den Lehrer.
- Die integrative Schule verlangt von den Lehrpersonen viel mehr zusätzlichen Aufwand. Der normale Unterricht wird durch die Betreuung der Behinderten enorm belastet. Der Beizug von Heil- und Sozialpädagogen kann diesen Druck nicht essenziell entlasten. Wenn künftig wieder die Behinderten und Problemkinder gesondert betreut würden, könnten die Klassenlehrer von Normklassen deutlich entlastet werden und die "normalen" Kinder würden bei dieser Trennung weniger leiden. Beide (Behinderte und Normale) könnten dadurch besser gefördert werden. Wenn sich ein System nicht bewährt hat, müsste man den ungewohnten Schritt "Zurück in die Zukunft" wagen.
- Die vielen und ständig wechselnden Reformen verlangen von den Lehrern zusätzliche Bürokratie und vermehrten Papierkrieg. Diese Belastung könnte mit wenig Aufwand reduziert werden. Das Schwergewicht der Unterrichtes müsste auf die Konzentrationsfähigkeit und auf die notwendigen Lernkompetenzen fokussiert werden. Damit würde das Lehren und Lernen wesentlich VEREINFACHT. Die Reformitis muss gebremst werden. Es muss wieder Ruhe in die Klassenzimmer einkehren.
- Die Lärmbelastung im Klassenzimmer liesse sich mit wenig Aufwand reduzieren. Das bedingt jedoch, dass Lehrerinnen und Lehrern in der Pädagogischen Hochschule bewusst gemacht würde, dass Disziplin etwas Positives ist; dass Spielregeln notwendig sind und im Unterricht bei Informationsvermittlungen im Unterricht die Kinder zuerst zuhören lernen müssen und alle Anwesenden schweigen, wenn eine Person spricht (gilt für Schüler und Lehrpersonen!).
Wer ein Chaos im Klassenzimmer zulässt, belastet sich nicht nur durch unnötigen Lärm. Er leidet langfristig auch psychisch an dieser selbstverschuldeten Belastung. Das Gefühl der Machtlosigkeit nagt am Selbstwertgefühl und fördert den Burnout.
- Auch Lehrer sollten ein Anrecht auf körperlicher Unversehrtheit haben.
Eine Unterstufenlehrerin hat mir jüngst erzählt, dass es immer wieder Kinder gibt, die unfähig sind, Anordnungen zu befolgen. Eine Mutter habe vor Wochen einen Schüler in die Klasse gebracht. Dieser hab sich geweigert, Platz zu nehmen. Er sprang der Mutter und der Lehrerin ständig davon. Als die Lehrerin den Knaben an der Hand nahm und an den Platz führen wollte, biss er ihr in den Arm.
Kinder haben ein Anrecht auf körperliche Unversehrtheit. Das ist gut so. Aber müsste dies nicht auch für Lehrkräfte gelten?
- Heute wird die Schule vermehrt mit der Verwahrlosung von Kindern konfrontiert, die sich selbst überlassen bleiben. Normale Familienstrukturen werden immer seltener. Wenn die Kinder nach Hause kommen, fehlt eine konstante Bezugsperson.
Die Schule muss dadurch immer mehr die fehlende häusliche Erziehung kompensieren und diese auch noch übernehmen.
Dies alles belastet die heutigen Lehrkräfte zusätzlich.
Weshalb nicht die Elternteile und Erziehungsberechtigten stärker einbinden?
Es würde sich bestimmt lohnen, die URSACHEN des Burn-out der Lehrer ernster zu nehmen und DORT den Hebel anzusetzen.
NACHTRAG:
Ich zitiere 20 Min:
Die jungen Menschen, die Lehrer werden wollen, sind laut dem
deutschen Bildungsreport nicht nur mittelmässige Schüler. Sie geben auch
an, zu wenig selbstbewusst zu sein und sich nicht gut durchsetzen zu
können – Eigenschaften, die elementar sein dürften, um in einer
Schulklasse zu bestehen. Gerade mal 13 Prozent glauben, dass sie
durchsetzungsstark sind, und 16,3 Prozent, dass sie gut öffentlich
auftreten können. Nur 15,8 Prozent geben an, Selbstvertrauen zu haben.
Knapp ein Fünftel gibt Überzeugungskraft als Stärke an. Immerhin glaubt
fast ein Drittel der Befragten, dass sie gut erklären können.
«Auch
in der Schweiz gibt es unter den Studierenden Leute, die in diesen
Bereichen zulegen müssen», sagt Beat Zemp, Präsident des Schweizer
Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Das Bewusstsein, dass die Lehrperson
auch eine Führungskraft ist, sei gewachsen. Diese Auftritts- und
Führungskompetenz werde deshalb an den Pädagogischen Hochschulen in
speziellen Modulen gelehrt. «Es spielt schliesslich eine Rolle, ob die
Lehrperson am Morgen ins Schulzimmer schleicht oder selbstbewusst
auftritt.»
«Burnout-Rate senken!»
Nationalrat und ehemalige Lehrer Hans Fehr
ist überzeugt: «Würde man bei der Selektion Kandidaten mit
einer nicht gefestigten Persönlichkeit frühzeitig aussieben, dann könnte
man die Burnout-Rate von Lehrern senken.» Für den Erfolg als Lehrer sei
es elementar, überzeugend Grenzen zu setzen und diese auch
durchzusetzen.