(viw)
Nachtrag 20 Min:
«Plötzlich lief alles aus dem Ruder»
von Runa Reinecke - Im Film «Messies, ein schönes
Chaos» öffnen Menschen die Tür zu ihrem heimischen Durcheinander. Wie
wird man zum Messie? Und wie kann man überhaupt so leben? Wir haben zwei
Betroffene getroffen.
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Ordnung, das ist für Dominik Schneider nur das halbe Leben. Er
selbst leidet sehr darunter, ein Messie zu sein und lässt deshalb
niemanden in seine Wohnung.
Elmira kämpft sich durch Stapel von Kassetten, Büchern, Zeitungen und
Elektrogeräten. Der Weg von der Stube ins Badezimmer wird zum
Hindernislauf, eine Kletterpartie durch die eigene Wohnung, die durch
unglaubliche Mengen an Plunder zugestellt ist. Elmira spielt keine
Rolle, die Szene entstammt Ulrich Grossenbachers Dokumentarfilm
«Messies, ein schönes Chaos», der jetzt im Kino läuft.
Messies fürchten, aufgrund ihres Leidens stigmatisiert zu werden: Lucrezia B. und Dominik S. möchten lieber unerkannt bleiben.
Messies, ein schönes Chaos
Das Messie-Syndrom
Laut dem Messie-Verband LessMess sind zwischen 10 bis 15 Prozent
aller Menschen vom Messie-Syndrom betroffen. Häufig denken diese
Menschen, sie seien die einzigen, die unter dem Problem, nicht aufräumen
zu können, leiden: Sie quält die Unfähigkeit, ihren Haushalt zeitlich
so zu organisieren, dass sie sich wohlfühlen. Häufig ziehen sie sich
zurück, brechen den Kontakt zur Aussenwelt ab – es droht der Rückzug und
die soziale Isolation. Die Gründe, die einen Menschen zum Messie werden
lassen, sind bislang nicht vollumfänglich geklärt, wissenschaftliche
Untersuchungen sind rar.
Hilfe und Unterstützung für Betroffene und Angehörige bietet der Verband LessMess.
Steckt in Ihnen ein Messie? Hier gehts zum Selbsttest von LessMess.
Zurück ins Leben, fernab von der Leinwand: Vor dem Fenster eines
kleinen Cafés in der Zürcher Innenstadt vertreibt die Wintersonne
morgendliche Nebelschwaden. «Grüezi, Dominik Schneider*». Ein Mann von
mittlerer Statur streckt mir seine Hand zum Gruss entgegen, er wirkt
sympathisch, eine gepflegte Erscheinung: Nicht ein kleiner Fussel am
Pullover, schon gar kein Fleck. Unter dem Pulli blitzt ein blütenweisser
Hemdkragen hervor. So sieht also ein Messie aus?
Bloss nichts wegwerfen!
Wir
nehmen an einem kleinen Tisch in der Ecke des Cafés Platz, er bestellt
ein Frühstück, beginnt zu plaudern. Anfang 60 sei er und ledig - zu
einer längeren Beziehung habe es irgendwie nie gereicht. In der Freizeit
mache er viel Sport, das tue ihm körperlich und seelisch gut. Sport,
sagt er, das sei ohnehin seine grosse Leidenschaft. «Ich muss so Ende 30
gewesen sein ...», erzählt der Zürcher, der vor seiner Pensionierung im
Büro arbeitete, mehr will er nicht verraten, «meine Mutter kam damals
zu Besuch und fragte mich, warum so viele Stapel Sport-Zeitungen im Gang
herumstehen würden. Wegwerfen? Das ging nicht! Vielleicht hätte ich
nochmal etwas nachlesen wollen ...»
Es blieb nicht bei den Zeitungen: In der Küche türmte sich das
schmutzige Geschirr, vor dem Schlafzimmer-Schrank häufte sich die
Bügelwäsche. «Dass da etwas aus dem Ruder läuft, habe ich schon damals
bemerkt», meint er und nippt kurz an der Kaffeetasse. «Es fängt langsam
an, irgendwann wird es zu viel, dann kommt dieses Gefühl von
Hilflosigkeit. Man weiss gar nicht, was man machen soll. Es gelingt
nicht, etwas zu ändern und man will sich auch niemandem mitteilen.»
Wissenschaftlich inexistentes Durcheinander
Nichts
fürchtet Schneider mehr, als Überraschungsbesuche. Viele Besucher
reagierten seiner Erfahrung nach schockiert und verständnislos: «Da hab
ich das Gefühl, einen Teil meiner Seele nach Aussen kehren zu müssen».
Um niemanden in die Wohnung zu lassen, wurde er auch mal erfinderisch:
«Ich sagte einfach, dass der Kaffee ausgegangen ist oder ich nichts zu
essen im Hause habe».
Heinz Lippuner ist klinischer Psychologe und
Psychotherapeut in Zürich und kennt die Probleme von Messies. Vor elf
Jahren half er dabei, die erste Selbsthilfegruppe für Betroffene in der
Schweiz aufzubauen. «Eigentlich gibt es das Messie-Syndrom als solches
gar nicht - zumindest ist es nicht wissenschaftlich anerkannt», sagt der
Psychologe. Gemäss Sandra Felton - Mitbegründerin der Messie-Bewegung -
leitet sich der Begriff Messie aus dem englischen «mess» (Chaos), ab.
Ich lebe im Chaos - holt mich hier raus!
Der
gesellschaftlich leider immer noch verbreiteten Meinung, Messies hätten
ein Problem mit der Disziplin, seien schlicht faul und liessen sich
gehen, widerspricht Lippuner: «Oftmals lautet die Reaktion von
Aussenstehenden: ‹Ja, dann räum halt auf!›. Aber genau das kann der
Messie eben nicht.» Viele psychiatrisch Tätige sehen Messies auch als
relativ stark chronifizierte Depressive an, wie der Spezialist betont:
«Bei der Depression gibt es das Phänomen ‹Ich kann nicht wollen›. Der
Messie will schon, doch er erlebt Blockaden und zwanghafte Zustände,
wenn er mit dem Aufräumen anfangen will».
Dieses Gefühl ist auch
Lucrezia Bühler* bekannt, die gerade das Café betritt. Eine kleine, gut
gekleidete Frau mit offener, herzlicher Ausstrahlung. Lange, sagt die
Rentnerin, habe sie selbst geglaubt, ein Messie zu sein. Sie setzt sich
neben Dominik Schneider, man kennt sich. «Es fing vor 20 Jahren an, als
meine Eltern krank wurden und in ihre Heimat Italien zurückgingen. Kurze
Zeit später starb mein Vater. Ich glaube, damals erlebte ich meine
erste Depression». Über die Jahre sammelte sich immer mehr an: Möbel,
Lampen, ein buntes Allerlei. «Ich hatte eine Art Gerümpelzimmer und
einen Lagerraum, der mit Sachen vollgepackt war».
Aufgeräumte Seele, aufgeräumte Wohnung ...
Heute,
so sagt sie, sei ihr bewusst, dass sie kein Messie im klassischen Sinne
sei. «Ich war krank und schwach und hatte vorübergehend nicht die
Kraft, aufzuräumen.» Vor zehn Jahren suchte sie deshalb Hilfe bei der
schweizerischen Organisation LessMess, begann eine Psychotherapie. Als
sie etwas später umziehen musste, beauftragte sie einen Aufräum-Service,
der ihr half, das Chaos in den Griff zu bekommen. Die Menschen, die sie
über
LessMess
kennenlernte, wuchsen ihr ans Herz. Bis heute kümmert sie sich
ehrenamtlich um die Sorgen und Nöte von Betroffenen und Angehörigen.
Lippuner
arbeitet nur mit Messies, die bereit sind, eine professionelle
Aufräumhilfe in ihre Wohnung zu lassen. «Es ist wichtig, dass neben der
Psychotherapie auch im praktischen Sinne am Problem gearbeitet, sprich,
aufgeräumt wird.» Doch genau davor scheuen sich viele Messies: Sie haben
Angst, dass geliebte Gegenstände einfach im Müll landen. «Wir verstehen
uns als Coaches, wir gehen sensibel mit den Menschen um», sagt Helene
Karrer vom professionellen Aufräumdienst Homemanagement. Der Messie
selbst entscheidet beim Räumen mit und bestimmt, wovon er sich definitiv
trennen kann und was er noch behalten will. «Ich hatte schon mit
Betroffenen zu tun, bei denen einfach alles ausgeräumt wurde, ganz ohne
Beratung. Diese Menschen haben ihr ganzes Leben verloren.»
Messietum versus Verslummung
Behausungen,
die mit Tierexkrementen und vergammelten Speiseresten vermüllt sind,
sieht Karrer nur selten: «Dabei handelt es sich nicht um Messietum, das
ist dann schon Verslummung. Da kann man nur noch mit Schutzanzügen und
grossen Schaufeln rein. Solche Fälle laufen dann aber eher über den
Sozialdienst oder den Stadtarzt.» Das bestätigt auch der Psychologe: «Es
ist schwierig festzustellen, wo die Grenzen genau liegen. Bei den
meisten ist aber weniger das Horten von geruchsintensiven Dingen das
Problem.»
Von einem Zustand der Verwahrlosung sind auch Dominik
Schneider und Lucrezia Bühler weit entfernt. «Dem Betroffenen selbst ist
es wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen», meint Lippuner und
ergänzt: «Das trifft auf den grössten Teil der Messies, die ich selbst
kennengelernt habe, definitiv zu.»
Die Psychotherapie und die
professionelle Aufräumhilfe habe sie sehr unterstützt, sagen Bühler und
Schneider, die beide vielseitig interessiert sind und über einen grossen
Freundeskreis verfügen. Auch Dominik Schneider bekam über LessMess
Hilfe. Heute besucht ihn alle zwei Wochen eine Reinigungskraft. «Bevor
sie kommt», erzählt er schmunzelnd «bin ich gezwungen, aufzuräumen - das
funktioniert gut». Wenns mit dem Ordnung Schaffen dann doch mal nicht
so gut klappt, überlistet er sich selbst: «Ich kopple das Stromkabel vom
Fernsehgerät ab und schicke es mir per Post selbst wieder zu. Da werde
ich zumindest für eine kurze Zeit nicht mehr vom TV abgelenkt.»
*Namen von der Redaktion geändert