Jedem seine psychische Störung
Immer neue Diagnosen machen ehemals normales
Verhalten zur psychischen Störung, warnt der renommierte US-Psychiater
und Buchautor Allen Frances.
Wutausbrüche bei Kindern können völlig normal sein, sagt Allen Frances.
Bild: Meyer/Tendence Floue)
Artikel zum Thema
Allen Frances
Normal.
Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen.
Dumont: ca. 36 Fr. (Bild: thehealthcareblog.com)
Es begann mit nächtlichen Kühlschrankplünderungen in den frühen
Teenagerjahren. Später, als Student und Ringer, gelang es ihm wegen
seiner Fressattacken nur mühsam, das Wettkampfgewicht von 80 Kilogramm
einzuhalten. Nach den samstäglichen Einsätzen auf der Ringermatte folgte
jeweils eine zweitägige Völlerei, die ihn 7 Kilogramm zulegen liessen.
Den Rest der Woche galt es dann, sich wieder auf 80 Kilogramm
herunterzuhungern. Bis heute, im Alter von 70 Jahren, vergeht keine
Woche, ohne dass ihn Fressanfälle heimsuchen: «Ich bin bekannt als die
Geissel aller Buffets und All-you-can-eat-Restaurants.»
Der Mann,
der sich zu seinen «katastrophalen Essgewohnheiten» bekennt, heisst
Allen Frances. Der emeritierte Professor an der Duke University ist
einer der profiliertesten Psychiater weltweit. In den letzten Jahren
machte er sich allerdings vor allem als engagierter Kritiker seines
eigenen Fachs einen Namen. Mit viel Getöse kämpft er gegen die Tendenz
in der Psychiatrie, laufend neue Diagnosen zu finden und bestehende so
auszuweiten, dass ehemals normale Verhaltensweisen zu Krankheiten
werden. «Inflation psychiatrischer Diagnosen» nennt dies Frances in
seinem soeben erschienenen Buch «Normal».
Seine Einwände sind
fundiert. Denn Frances ist ein Insider und ein ehemals einflussreicher
Akteur, der die Mechanismen in der Psychiatrie aus langjähriger
Erfahrung kennt. Und selbst wenn die ihm bekannten amerikanischen
Verhältnisse teilweise extremer sind als in Europa, lassen sich viele
der kritisierten Entwicklungen auch hier beobachten.
Ein psychisch kranker Vielfrass
Die
eigenen Essgewohnheiten dienen Frances als Beispiel für eine
verbreitete Verhaltensweise, die neu zu einer psychischen Störung
definiert wird. Er selbst hält sich eigentlich bloss für einen
durchschnittlichen Vielfrass. Schon bald wird aber sein Essverhalten den
Namen Binge-Eating-Störung (BES) tragen. Schuld daran trägt die fünfte
Ausgabe des Psychiatriehandbuchs DSM (Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders), welche im Mai in Kraft treten soll und künftig
weltweit die Arbeit von Psychiatern beeinflussen wird. BES hat, wer
während dreier Monate einmal pro Woche eine Fressattacke hat.
Schätzungen gehen davon aus, dass 3 bis 5 Prozent von BES betroffen
sind. «Warten wir ab, was passiert, wenn die Öffentlichkeit und die
Ärzte ihre pharmafinanzierte ‹Aufklärung› erhalten haben», warnt
Frances. Er prognostiziert, dass die Verbreitung dann auf 10 Prozent
hochschnellen könnte.
Die Binge-Eating-Störung ist nur eine von
vielen problematischen Änderungen im DSM-5. Führende Fachleute haben sie
mit besten Absichten eingefügt, jedoch ohne die Folgen ihrer neuen und
erweiterten Kriterien zu bedenken. Das Zeug zu einer Modediagnose hat
etwa die Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) für Kinder, die
zu Wutausbrüchen neigen, daneben aber tieftraurig sein können. Damit
werde Tür und Tor geöffnet «für Fehldiagnosen bei normalen Kindern, die
eine Phase durchlaufen oder einfach temperamentvoll sind», glaubt
Frances. Auch den Alten droht Ungemach: Mit der neuen Diagnose Mild
Neurocognitive Disorder (MNCD) werde normale Altersvergesslichkeit zur
Krankheit, so Frances. Eigentlich sollten damit Personen erfasst werden,
die wegen Vergesslichkeitssymptomen ein Risiko für eine spätere Demenz
haben. Doch der Voraussagewert sei so gering, dass die Mehrheit der
Diagnostizierten nie ein Problem mit Demenz haben werde.
Frances ist mitschuldig
Sorge
bereitet Frances auch, dass es nun möglich sein wird, bereits wenige
Wochen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen eine «schwere
Depression» zu diagnostizieren. Für Frances ist klar: «Dass nach einem
Todesfall für eine bestimmte Zeitspanne exakt die gleichen Symptome
auftreten wie bei einer klinischen Depression, gehört zum normalen
Trauerprozess.» Epidemien durch neue oder aufgeweichte Diagnosekriterien
erwartet der Psychiater auch für das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS
bei Erwachsenen und bei den neu eingeführten Verhaltenssüchten. Dazu
würde zwar erst die Glücksspielsucht gezählt, «aber Sie können jetzt
schon Ausschau nach falschen Suchtepidemien halten», schreibt Frances
und zählt auf: Internetsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Sexsucht und so
weiter. Problematisch ist auch die neu eingeführte Complex Somatic
Symptom Disorder (CSSD), die so grosszügig definiert ist, dass sie in
Tests bei fast jedem zehnten Gesunden gepasst hat.
Die erwarteten
Modediagnosen sind für Frances die Fortführung von Fehlentwicklungen,
die bereits bei der letzten DSM-Version von 1994 eingesetzt haben. Er
selbst war damals Vorsitzender des Gremiums, das den Inhalt festlegte.
Frances macht sich denn auch selbst Vorwürfe. Er hatte damals nicht
vorhergesehen, dass die vorgenommenen Änderungen zu «unechten Epidemien»
bei Kindern führen würden. So vervielfachten sich in den letzten beiden
Jahrzehnten nicht nur in den USA die Diagnosen von
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, autistischen Störungen
und bipolaren Störungen.
Frances geht es nicht um
Fundamentalkritik an seinem Fach: «Psychiatrie ist ein vornehmer
Berufsstand, im Kern gesund und, wenn sie richtig ausgeübt wird,
ausserordentlich effizient.» Es geht ihm um falsche Entwicklungen, die
dazu führten, dass Gesunde zu oft und zu ihrem Schaden therapiert
werden, während die wirklich Kranken häufig keine Behandlung erhalten.
Neben der Stigmatisierung Normaler hat dies einen vor allem in den USA
verbreiteten massiven Überkonsum von Psychopharmaka zur Folge. Im Jahr
2011 schluckten dort 11 Prozent Antidepressiva, fast drei Viertel ohne
eines der geltenden Symptome einer Depression. «Viele treue Kunden sind
harmlose Placebo-Responder, die spontan wieder genesen sind», so
Frances.
Hart kritisierte Pharmabranche
Schuld daran
trägt nicht alleine das DSM-5. Gemäss Frances entwickelt das
Psychiatriehandbuch seine ungute Wirkung vor allem dadurch, dass die
Pharmaindustrie weit gefasste Diagnosekriterien brutal ausnützt, um den
Umsatz ihrer Medikamente zu steigern. Der Psychiater geht in seinem Buch
hart ins Gericht mit den Herstellern von Psychopharmaka. Er wirft ihnen
vor, dass sie viel mehr Geld in Werbung und Marketing steckten statt in
die Entwicklung besserer Psychopharmaka. Und wenn geforscht werde, dann
erfolge dies mit falschen Methoden und aus falschen Beweggründen. Daten
blieben unter Verschluss, negative Ergebnisse würden regelmässig in der
Versenkung verschwinden und bedeutungslose Resultate aufgebauscht.
Zudem
würden die Firmen laufend versuchen, für ihre alten Medikamente neue
Märkte zu erschliessen, durch Patenterweiterungen für Kinder oder für
neue Krankheiten. Dies häufig auf dürftiger Datenlage. «Der beste Weg,
Psychopharmaka zu verkaufen, führt nun einmal über den Verkauf
psychiatrischer Leiden», schreibt Frances. Und so verbreite die
Industrie seit Jahren die falsche Behauptung, dass «viele der
unausweichlichen Probleme im Leben in Wahrheit psychische Störungen
seien, verursacht durch ein ‹chemisches Ungleichgewicht›, das sich durch
das Schlucken diverser Pillen wieder in Ordnung bringen lasse.»
Ein
offenes Geheimnis ist, dass sich die Firmen dabei oft jenseits der
Grenze der Legalität bewegen. «Nahezu alle Pharmaunternehmen haben
gewaltige Bussgelder und selbst strafrechtliche Sanktionen für ihre
illegalen Verkaufspraktiken kassiert», sagt Frances. Hier ist auch der
wahrscheinlich erfolgsversprechendste Ansatzpunkt, mit dem er der
Inflation begegnen will: durch Verbote von Pharmawerbung, finanzieller
Einflussnahme auf Ärzte, Behörden, Patienten, Wissenschaftler sowie
durch höhere Strafen für gesetzeswidrige Handlungen, nicht nur gegen
Unternehmen, sondern auch gegen deren Manager. «Hoffen wir, dass die
Vernunft am Ende siegt», schreibt Frances.
(Der Bund)