Ich ziziere DIE WELT:
Mehrzweckhalle, das ist so
ein Wort aus der alten Bundesrepublik. Und wenn die Halle auch noch in
Göttingen steht, dann riecht das Wort nach dem revolutionären Schweiß
und Zigarettenqualm von Versammlungen der Siebzigerjahre. Kein
schlechter Ort, um
Jürgen Trittin
eine Frage zu stellen, die tief hineinführt in die Irrungen und
Wirrungen jener Zeit. Hier in Göttingen studierte Trittin damals. Hier
wurde aus dem studentischen Revoluzzer der Politiker, der er heute ist.
Heute, das ist
der Dienstagabend dieser Woche. Auf dem Podium der Mehrzweckhalle sitzen
die Bundestagskandidaten von SPD, FDP, CDU, der Linken und der Grünen.
Letzterer ist Jürgen Trittin. Es geht um die bekannten politischen
Themen. Aber noch eine andere Frage steht im Raum. Und nun stellt sie
der Moderator. Es ist die
Pädophilen-Frage: "Es gibt da Vorwürfe, Herr Trittin, bitte nehmen Sie kurz Stellung."
Trittin trägt
eine Krawatte, deren Farbe man als Metallicgrün beschreiben könnte. "Es
war 1981", beginnt er, "da habe ich hier in Göttingen die AGIL
mitgegründet." Diese Alternative Grüne Initiativen-Liste war ein Bündnis
aller möglichen linken Gruppen, damals typisch für Uni-Städte. Die
Fraktionen der Studentenbewegung zerbröselten, aber die Bewegung musste
weitergehen, und so tat man sich vorerst in solchen Listen zusammen.
Aus denen
entstanden dann oft Ortsgruppen der Grünen. In solche Listen drängte
damals alles, was auf dem Unterdrückte-Minderheiten-Ticket unterwegs
war. Auch propagierende und praktizierende Pädophile.
"Das muss Betroffenen wie Hohn erschienen sein"
"Im Rahmen des
Kommunalwahlprogramms", fährt Trittin fort, "haben wir damals die
Streichung des Homosexuellen-Paragrafen 175 gefordert, aber auch von
Paragrafen, die sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern
unter Strafe stellen."
Dann wird er
deutlich: "Diese Formulierung geht fehl. Sie ist schlicht falsch. Es
gibt keine einvernehmlichen Formen sexueller Beziehungen zwischen
Erwachsenen und Kindern. Wir müssen uns vorwerfen lassen, dass wir zu
lange gebraucht haben, bis wir diese Position abgelegt haben. Das muss
vielen Betroffenen wie Hohn erschienen sein." Nun aber habe seine Partei
unabhängige Forscher beauftragt, das alles aufzuarbeiten. "Wir klären
auf!"
Das Podium
begrüßt Trittins Erklärung einhellig. Vom Mann der Linken über den
SPD-Mann und den FDP-Mann bis zur CDU dankt man ihm für die klaren
Worte.
Einzig der
CDU-Mann merkt an, Trittin müsse einmal darüber nachdenken, wie sein
moralischer Rigorismus etwa in der Causa Guttenberg, dessen Rücktritt er
vehement gefordert hatte, zu seiner Haltung jetzt in eigener Sache
passe. "Aber das muss er selbst wissen." Und Pfusch bei einer
Doktorarbeit, sagt er noch, sei ja wohl mit pädophilen Aktivitäten nicht
zu vergleichen.
Jürgen Trittin,
der neben dem CDU-Mann sitzt, duckt sich leicht. Eine Geste, als wolle
er sich zwischen die hochgezogenen Schultern zurückziehen. Das ist er
nicht gewohnt, man sieht es ihm an: moralisch infrage gestellt zu
werden. Das war doch sein Part: andere moralisch infrage zu stellen.
Vielleicht ist es das erste Mal seit Jahrzehnten, dass er sich einer
solchen Lage ausgesetzt sieht. Wie der strenge Pastor, der immer so
scharf predigt, und dann wird er im Bordell erwischt, so schaut er jetzt
aus.
Es galt das kommunistische Reinheitsgebot
Aber so ist es
ja gar nicht. In dem Milieu, aus dem er um 1980 herum kam, galt in
sexuellen Fragen das kommunistische Reinheitsgebot. "Verantwortlich im
Sinne des Presserechts" war Jürgen Trittin für das Wahlprogramm jener
Göttinger Liste, in dem das furchtbare Zeug stand. Mehr aber auch nicht.
Man möchte ihn
rütteln. Ihm sagen, jetzt sag doch mal was. Nicht viel. Ein, zwei Sätze,
meinetwegen abgehackt, unelegant, grammatisch falsch. Aber echt. Echtes
Bedauern. Ein Mitgefühl mit den Kindern, die auf dem Altar der
sexuellen Revolution vernascht wurden. Was hindert dich denn an so einem
Wort, möchte man ihn fragen, du selbst hast doch keinen Dreck am
Stecken? Du bist doch frei davon. Jetzt sag halt was!
Nun meldet sich
ein Herr aus dem Publikum: "Ich habe eine Frage an Herrn Trittin." Der
Moderator: "Nein! Wird nicht zugelassen." Der Herr mit der Frage setzt
nach: "Aber die Positionen auf dem Podium sind doch sehr homogen …" Der
Moderator: "Nein, nein! Nicht zugelassen. Da kämen wir ja vom
Hundertsten ins Tausendste." Und weiter geht's auf dem Podium, rasch hin
zu den brennenden Themen Handball und Sport in Göttingen.
Ein Aroma von
Volksfront steht in der Mehrzweckhalle. Man kann sich gut in die Lage
jedwedes Störenfriedes versetzen, der in seinem Dorf, seinem Verein oder
beim Elternabend auch mal eine Frage hat, die keiner hören will. Warum
sagt jetzt Jürgen Trittin nicht zum Moderator: "Nun lassen Sie doch den
Mann seine Frage stellen?"
"Keine Fragen aus dem Publikum"
Ja, warum
nicht? Weil das hier Politik ist. Große Politik. Wahlkampf, die letzten
Meter vorm Ziel. Weil Jürgen Trittin der Marathonmann der Grünen ist.
Weil er nicht sieht, dass der Moment gekommen ist, in dem er nicht
zuallererst Wahlkämpfer sein darf. Weil er sich bestätigt fühlt in
seiner unerschütterlichen Polit-Professionalität fast vom gesamten
Podium. Weil die Fünf-Minuten-Terrine, in der das störende Thema kurz
aufgewärmt wird, vorab so abgemacht war.
Der Moderator
sagt es explizit: "Wir haben das so verabredet. Keine Fragen aus dem
Publikum." Das wird jetzt so durchgezogen. Basta.
Und der
Göttinger Abend ist noch der ausführlichste, selbstkritischste auf
Jürgen Trittins Wahlkampftour via Bremen und Hamburg. In diesen Stunden
und Tagen kann man förmlich zuschauen, wie der pädophile Makel in der
wahlkampferhitzten grünen Moralverbrennungsanlage zu Asche wird.
Tags darauf, am
Mittwochmittag, spricht Jürgen Trittin in Bremen. Es ist der Höhepunkt
der grünen Wahlkampagne dort. Er spricht auf dem historischen Markt
seiner Heimatstadt, gegenüber wacht der steinerne Roland und über allem
der Dom. Es ist eine übersichtliche Schar von Anhängern, die um die
Bühne herum Platz genommen hat.
Eine
türkischstämmige Grüne, hier geboren, fordert mehr Geld für Bildung und
die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Bundestagsabgeordnete Marieluise
Beck spricht emotional und mitreißend von ihrem Traum eines ökologischen
Wirtschaftswunders, von dem der Norden bereits profitiere.
Er ist fähig zu öffentlichen Gefühle
"Und jetzt kommt Jürgen!"
"Moin!", ruft
er in die kleine Menge. "Moin! Moin!", schallt es zurück. Es ist ein
Heimspiel, das zweite nach Göttingen. Aber hier ist es echt, hier sitzt
jeder Ton. Hier kommt er her. Seine Mutter sitzt in der ersten Reihe,
eine sympathische weißhaarige Dame, die ihren Sohn umarmt und sichtlich
stolz auf ihn ist. Er flicht eine Kindheitserinnerung in seine Rede ein
und spricht seine Mutter direkt an.
Er kann es
doch. Er ist fähig zu öffentlichen Gefühlen. Es tut ihm gut, hier zu
sein. Er kämpft, wirbt, baut Witze ein, er donnert gegen Schwarz-Gelb.
Ein Bremer Junge, der es weit gebracht hat.
Er spricht das
heikle Thema an, natürlich. Aber das hier ist keine Mehrzweckhalle, das
ist jetzt ein Marktplatz. Das ist richtig Wahlkampf. Es geht ums Ganze.
"Es wird sauknapp!", ruft er den Seinen zu. Die Selbstkritik ist jetzt
genau drei Sätze lang, und sie klingt wie eine Attacke: "Wenn wir Grünen
zu sexuellem Missbrauch eine falsche Position eingenommen haben, dann
sollte man zur Kenntnis nehmen, dass wir das überwunden haben! Wir
stellen uns diesem Anspruch! Wir lassen das aufarbeiten!"
Dann geht es
lang und breit gegen "die Schwarzen". Wie Seehofer, Kauder und andere im
Bundestag damals dagegen stimmten, dass Vergewaltigung in der Ehe unter
Strafe gestellt wurde. "Ich lasse mir von diesen Leuten nichts übers
Kindeswohl erzählen!" Und zehn Milliarden werden die Grünen in Kitas
stecken, in Betreuung, in Ganztagsschulen. Und das idiotische
Betreuungsgeld muss weg. Ja, wir tun was!
Die leidige
Pädo-Chose ist jetzt vor allem eines: eine Hetzkampagne der CDU. "Ja",
ruft Trittin, "aggressiv und zu Hetzkampagnen neigend, so ist er, der
Schwarze!"
In Hamburg wartet ein Zelt voller Bluesmusik
Und weiter geht
es nach Hamburg. Dort wartet in Winterhude ein Zelt voller Bluesmusik
und Jack-Wolfskin-Jacken auf ihn. Der Zufall will es, dass er just zu
der hübschen Liedzeile "You're so fine / let me love you all the time"
einzieht, durch ein Spalier aus Parteifreunden und Applaus. Menschen auf
Bänken, Bierhumpen auf den Tischen. Die Szene hat etwas Bayerisches.
Das täuscht. Gegen die Schwarzen da unten in Bayern lässt sich so ein
grünes Zelt allemal zum Kochen bringen.
Wieder kommt
die Selbstkritik, und diesmal ist sie wieder genauer, ausführlicher.
Fast so klar wie in Göttingen. Doch es ist nur das Vorspiel zum Angriff.
Die Grünen hätten aus ihren Fehlern gelernt, ruft Trittin seinen
Anhängern zu. "Diesen Lernprozess sollten die CSU-Leute uns zubilligen,
anstatt dieses Land mit einer Schmutzkampagne zu überziehen!" Als die
Namen Seehofer, Kauder, Hasselfeldt fallen, da tobt das Zelt.
Man kann das so
machen. Die Reihen schließen, das eigene Milieu mobilisieren. Für
Zweitstimmen werben. Die Grünen dieser Tage erinnern an die FDP,
funktional, versteht sich. "Nur mit uns!" Das ist die Aussage, in die
Trittins Wahlreden am Ende münden. Nur mit uns tut die CDU das Richtige,
sagt die FDP. Nur mit uns tut die SPD das Gute, sagt Trittin. Die
Volksparteien, hieß es doch vor gar nicht langer Zeit, seien mausetot.
Erinnert sich noch jemand daran?