Samstag, 2. November 2019

Auf den Punkt gebracht

Im Alter von zehn Jahren wird Brian, den die Medien bislang «Carlos» nannten, erstmals kriminell. Mit 15 sticht er jemandem ein Messer in den Rücken, das Opfer überlebt nur knapp.
Landesweit bekannt wird Brian alias «Carlos» 2013 wegen eines «Sondersettings», das die Behörden für ihn arrangiert haben: Er lebt mitsamt Betreuerin in einer 4,5-Zimmer-Wohnung, verbringt viel Zeit im Fitnessstudio, geniesst unter anderem Thaibox-Unterricht (auch deshalb ist er heute so gefährlich). Kosten für den Steuerzahler: 29’000 Franken im Monat!
Diverse Straftaten und Gefängnisaufenthalte später hätte Brian am Mittwoch erneut vor Gericht stehen sollen. 29 Delikte werden ihm vorgeworfen. Doch er hat keine Lust. Ein Sonderkommando der Polizei scheitert daran, ihn aus der Zelle zu holen, auch der Richter kann ihn nicht überzeugen, freiwillig zu erscheinen.
Brian narrt Polizei, Justiz, Behörden – alle. Er bringt unser Rechtssystem an seine Grenzen, das auf jeden Täter individuell eingehen und ihn wieder in die Gesellschaft eingliedern will. In vielen anderen Ländern wäre Brian längst ohne viel Federlesens weggesperrt und seinem Schicksal überlassen worden – ohne zweite Chance, ohne psychiatrische Hilfe, ohne Resozialisierung.
Doch zum Glück leben wir in einem Rechtsstaat und nicht in der Barbarei. Wir sollten uns jedoch davor hüten, plötzlich allen anderen die Schuld zu geben – nur nicht mehr dem Kriminellen!
Die konservative «Neue Zürcher Zeitung» schreibt über Brian: «Die Verantwortung allein bei ihm zu suchen, wäre zu einfach.» Die linke «Wochenzeitung» vermutet, dass es «mit Isolation nicht besser wird». Das postmoderne Newsportal watson.ch schreibt von «Politikversagen», kritisiert das «unbarmherzige Vollzugssystem, das keinen Machtkampf mit einem Klienten duldet» und hält das kostspielige Sondersetting für «gut investiertes Geld».
Alle diese Medien unterliegen einem grotesken Irrtum: Sie machen aus dem Täter ein Opfer.
Ihr erster Irrtum betrifft das Sondersetting: Mag sein, dass eine Gefängniszelle mehr kostet als die Rundumbetreuung in einer schönen Wohnung. Aber es darf nicht sein, dass wir Straftätern ein Luxusleben mit Fitnessstudio und Boxunterricht finanzieren, das sich mancher Normalbürger nicht leisten kann. Hingegen muss der Staat die Gesellschaft vor gefährlichen Individuen schützen – egal, was das Gefängnis kostet.
Der zweite Irrtum betrifft die Schuldfrage: Wenn jemand droht, prügelt, beinahe tötet, ist niemand anders dafür verantwortlich als der Täter selbst. Das heisst nicht, dass die Behörden fehlerfrei vorgehen – aber sie tragen keine Mitschuld an solchen Taten. Auch wer in seinem Haus von einem Einbrecher überrascht wird, macht vielleicht nicht alles richtig, wenn er sich wehrt. Aber er ist gewiss nicht schuld am Einbruch.
Der Staatsanwalt betrachtet Brian als wandelnde Zeitbombe: «Er würde in Freiheit einen Menschen töten.» Deshalb will er ihn verwahren. Das ist hart für den Täter. Aber wenn das nicht geschieht, wäre es noch viel härter für Brians nächstes Zufallsopfer.

Kommentar: Ich teile nicht immer die Meinung von Blick, vor allem, wenn er den Kampagnenjournalismus pflegt. Doch im Fall Carlos zeigt der Chefredaktor, dass wir Täter nicht zu Opfern machen dürfen.
LINKS:
www.rhetorik.ch/Aktuell/14/03_07a/index.html
7. März 2014 ... Der Fall "Carlos" beansprucht die Medien. Carlos ist ein 18 jähriger Straftäter, der seit der Ausstrahlung einer Fernsehreportage im ...
www.rhetorik.ch/Aktuell/13/09_25a/index.html
25. Sept. 2013 ... Die folgende Analyse ist in der Zeitschrift Persönlich (www.persoenlich.com), dem online Portal der Schweizer Kommunikationswirtschaft im ...
www.rhetorik.ch/Aktuell/13/09_25a/09_13.pdf
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25. Sept. 2013 ... Die verbalen Verstrickungen im Fall «Carlos». Der Fall «Carlos» hat in den letzten Wochen die Gemüter erregt. Doch den Verantwortlichen ...
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23 Okt 13: Rhetorisch leuchtender Schlagerstern · 25 Sep 13: Verbale Verstrickungen im Fall Carlos · 28 Aug 13: Mea culpa hilft nicht immer · 27 Jun 13 : Eveline ...