Zum Phänomen Massenpanik
(Quelle Tagi)
Das sagt der Katastrophenforscher
Der Soziologe Martin Voss leitet die Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel. Er erforscht das oft nicht vorhersehbare Verhalten in Katastrophen.
Wie kommt es zu einer Massenpanik wie in Duisburg?
Die Auslöser können ganz unterschiedlicher Natur sein. In Duisburg waren die Besucher mit einem positiven Ziel unterwegs. Sie hatten Freude und Spass am Tanzen, waren mit Freunden beim Fest und haben sicherlich auch Alkohol oder andere Drogen zu sich genommen. In solch einer Menschenmenge kann es zu einem Kollektivrausch kommen.
Das klingt positiv. Wie kippte dann die Stimmung?
Je voller und enger es wird, desto leichter verliert man die Orientierung. Das geht einem nur schon so, wenn man zu fünft zu einem Restaurant geht. Wenn einer den Weg weist, passen die anderen nicht mehr wirklich auf. In einer grossen Masse werden die Menschen richtig desorientiert. In Duisburg war es am Ein- und Ausgang der Love-Parade so eng, dass niemand mehr selbst kontrollieren konnte, wo er hinging. Es war eine Situation, in der die Menschen nicht mehr selbstständig entscheiden konnten. Sie wurden vom Subjekt zum Objekt.
Es war zu lesen, dass Leute, die vor dem Tunneleingang einen Abhang hochgeklettert waren, hinunterfielen und so die Panik auslösten.
Das kann sein. Vielleicht sind die Menschen auch den Abhang hochgeklettert, weil sie Erstickungsangst hatten, also schon vorher Panik im Tunnel herrschte und sie wegwollten. Das ist noch nicht geklärt. Die Gefahr ist, dass in solchen Situationen ein ganz geringer Anlass ausreicht, ein unkontrolliertes Verhalten hervorzurufen.
Zum Beispiel?
Es reicht, wenn jemand in der Menge auf ein Glas tritt, das am Boden liegt, und sich erschrickt und dann auch der Nachbar erschrocken reagiert.
Wieso bekommen die Menschen in einer Masse plötzlich Angst?
Sie haben keine Kontrolle mehr. Sie fühlen sich ganz alleine, haben Beklemmungszustände und bekommen ganz konkret keine Luft mehr. Da in Duisburg immer mehr Menschen nachdrängten, zerquetschte es einigen Leuten regelrecht die Lunge. Da entstand ein Druck, als ob ein Lastwagen gegen die Menge geschoben hätte. Hinzu kam, dass einige Leute zu schreien anfingen. Das heisst: Die Menschen konnten nicht mehr atmen, hörten nur noch Lärm, sahen nichts mehr.
Wie hätten die Verantwortlichen eine solche Situation verhindern können?
Die Zugänge und Abgänge, die auf ein Veranstaltungsareal führen, dürfen nicht zusammengelegt werden. In Duisburg diente der Tunnel als Ein- und Ausgang zum Festivalgelände. Die Besuchermassen hätten besser kanalisiert werden müssen. So etwas muss flexibel gestaltet sein. Sobald sich Massen verdichten, muss eine Möglichkeit vorhanden sein, Tore oder Fluchtwege zu öffnen.
In Duisburg scheint der Tunnel irgendwann abgesperrt worden zu sein, sodass zwar niemand mehr hineinkam, aber auch niemand mehr heraus.
Falls dem tatsächlich so war, wäre das ein Desaster. Man muss den Zulauf stoppen und den Rücklauf der Massen abfliessen lassen.
Es kamen wohl viel mehr Menschen, als das Festivalgelände fassen konnte. Hätten das die Veranstalter wissen können?
Es gibt zumindest die Möglichkeit, frühzeitig abzuschätzen, wie viele Leute kommen. Dafür kann man zum Beispiel die Zahl der verkauften Bahntickets hinzuziehen oder das Verkehrsaufkommen auf der Autobahn.
Dennoch scheint nicht ganz klar zu sein, wie viele Menschen tatsächlich in Duisburg waren. Wie kann man das berechnen?
Das ist eigentlich einfach: Ein gutes Luftbild gäbe eine ziemlich genaue Auskunft. Um zu verlässlichen Zahlen zu gelangen, muss man nur in einem räumlich klar definierten Bereich die Anzahl der Menschen zählen und dann hochrechnen.
Hätten die Menschen, als sie im Tunnel panisch reagierten, durch ruhige Musik oder sachliche Ansagen beruhigt werden können?
Sicherlich nicht. Eine Menge, die Musik und Party erwartet, wird nicht reagieren, wenn die Polizei sie über Megafon aufruft, sich bitte aufzulösen.
Ist eine Massenpanik eher bei einer Technoveranstaltung zu erwarten als bei einem Kirchentag?
Nein. Eine Massenpanik kann jederzeit auftreten. Ein Beispiel ist Mekka. Dort kommen regelmässig Pilger zu Tode. Es ist einfach die Menge an Menschen, die ausser Kontrolle gerät.
Im Nachhinein werden Stimmen laut, die sagen, dass Duisburg zu klein sei für eine Veranstaltung wie die Love-Parade. Zürich ist auch relativ klein, führt aber regelmässig Grossanlässe durch.
Was zählt, ist nicht die Grösse der Stadt, sondern der Infrastruktur. Eine grosse Wiese in einer kleinen Stadt mit guten Zugängen kann ausreichen.
In Zürich könnte es also auch enge Stellen geben, wo eine Massenpanik ausbrechen könnte?
Bei solchen Grossveranstaltungen muss man immer damit rechnen, dass etwas passiert. Wir Forscher versuchen deshalb im Vorfeld, die Gefahren zu sehen und zu helfen, diese möglichst zu minimieren.
Was in Duisburg nicht geklappt hat.
Nein, es liegt auch in der Natur des Menschen, immer die Grenzen zu testen. Und leider muss erst etwas so Schlimmes passieren, bis es wieder einen Schritt zurückgeht.
Kommentar:
In einer Stress-Situation funktioniert der Mensch immer nach dem gleichen Muster:
FLIEHEN - AGGRESSION - oder REGRESSION (Einfrieren)
Er handelt instinktiv. Es geht ums nackte Ueberleben. Der Selbsterhaltungstrieb blendet das rationale Denken aus. Es ist durchaus möglich, dass Leute über Leichen die rettende Treppe erreichen wollten und es nachher nicht verstehen können, dass es Leute gegeben hat, die auf Leichen getreten sind.
In der Panik entscheiden wir nicht mehr selbständig. Wir lassen uns von dem Massenverhalten leiten. Der Druck lähmt die Sinne. Es fehlt die Uebersicht . Das Geschrei blockiert den Gehörsinn.
Es liegt an der Menge, der Masse, die eine Kontrolle verunmöglicht. Jede Einflussnahme (Lautsprecherdurchsachen) kann ein Panikverhaltennicht mehr stoppen. Eine Eigendynamik ist in Gang gekommen.
Verhalten in Paniksituationen (Quelle Wikipedia)
Typische Stress-/Panik-/Krisen-Reaktionen bei:
- Erwachsenen (Schwerpunkte)
- Gehirn: Abbau von Gehirnmasse, Einschränkung der emotionalen Ebene, Durchblutungsstörungen im Gehirn
- Gefühle: Traurigkeit, Ärger, Schuld, Vorwürfe, Angst, Verlassenheit, Müdigkeit, Hilflosigkeit, „Schock“, Jammern, Taubheit, Leere, Hoffnungslosigkeit, Deprivation, Demütigung, Steigerung des aggressiven Verhaltens, Bewegungsdrang, Gereiztheit, emotionsloses Denken,
- Kognition: Ungläubigkeit, Verwirrung, Vorurteile, Konzentration, Halluzinationen, Depersonalisation, Vergesslichkeit.
- körperlich: Übelkeit, Enge in Kehle und Brust, Übersensibilität bei Lärm, Atemlosigkeit, Muskelschwäche, Verspannung von Muskeln, Mangel an Energie, trockener Mund, Magen- und Darmprobleme, zeitbedingte Impotenz, Haarausfall, schlechtes Hautbild, rötliche Augen, verminderte Mimik, Herzstechen, Hörsturz, Gelenkschmerzen, Hautausschlag, Schwächung des Immunsystems, langfristige Störung des Verdauungsprozesses sowie erhöhtes Risiko für Bluthochdruck, Schlaganfall und Herzinfarkt.
- Verhalten: verminderte Kreativität[4], Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Geistesabwesenheit, sozialer Rückzug, Träume über das Ereignis, Vermeidung von Nähe zu Tatort oder ähnlichen Situationen, Seufzen, Aktivismus, Weinen, Hüten von „Schätzen“