Herr
Reichenbach, in mehreren Zürcher Gemeinden protestieren Eltern und
Lehrer gegen alternative Lernformen wie das selbstorganisierte und das
altersdurchmischte Lernen. Sie behaupten, diese Unterrichtsformen
sorgten für Unruhe und Überforderung. Ist diese Kritik berechtigt oder
ein Aufschrei von Ewiggestrigen?
Die
beiden Themen, selbstorganisiertes Lernen und altersdurchmischte
Schulklassen, sind zu unterscheiden, auch wenn sie oft kombiniert
werden. Im Hintergrund des selbstorganisierten Lernens steht das
Bildungsziel der Selbstregulation. Diese Vokabel hat momentan eine hohe
gesellschaftliche Akzeptanz. Die pädagogische Frage ist aber, ob, wann
und in Bezug auf welche Inhalte die Schüler und Schülerinnen fähig sind,
mehr oder weniger selbstbestimmt und selbstkontrolliert zu lernen. Die
Realität des Lernens mag eine ganz andere sein, als der verführende
Begriff suggeriert. Gerade mittelstarke und vor allem leistungsschwache
Kinder brauchen mehr Führung, Unterstützung und Kontrolle
durch die
Lehrperson – ihnen könnte ein falsch verstandenes didaktisches Konzept
besonders schaden, während die Starken
in praktisch jeder pädagogischen
Welt gute Leistungen zeigen.
Sie sagen «könnte schaden» – gibt es dafür Belege?
Ja.
Offene Lernformen haben zwar überall einen sehr guten Ruf, aber in
empirischen Studien schneiden sie meist höchst
ambivalent ab. Gerade
dass bei schwächeren Schülern die
Leistung sinkt, wenn man ihnen zu viel
zumutet, ist gut belegt.
So hat der neuseeländische Bildungsforscher
John Hattie festgestellt, dass der Lehrer für den Lernerfolg zentral ist
–
wobei der Erfolg am grössten ist, wenn er den Unterricht
möglichst
lenkt und strukturiert. Die Studie hat im
Bildungsbetrieb viele Leute
verärgert. Denn sie sagt
genau das Gegenteil von dem, was heute
propagiert wird.
Wie beurteilen Sie das Konzept des altersdurchmischten Lernens?
Zunächst
sollte man akzeptieren, dass sich meist eh schon
zirka drei Jahrgänge
von Kindern in der Regelklasse
versammeln. Die Befürchtungen der Eltern,
die älteren
Kinder würden weniger profitieren, wenn sie mit jüngeren
die Klasse teilen, ist aber auch bei den bekannten Versuchen,
etwa in
der Basisstufe, unbegründet. Altersdurchmischung
ist ein Faktum des
sozialen Lebens, die Altershomogenität
in der Schule ist künstlich und
im Grunde neuen Datums.
Während altersdurchmischte Gruppen akademisch
weder
stärker noch schwächer werden, profitieren sie im Bereich
des
sozialen Lernens.
Inwiefern?
In
Untersuchungen hat man festgestellt, dass die Kleinen
dank dem Kontakt
mit Erst- und Zweitklässlern einen
leichten Wissenszuwachs gegenüber
Gleichaltrigen
aufweisen. Wichtig scheint mir aber, dass ältere Kinder
von den Kleinen nicht am Lernerfolg gehindert werden.
Diese Befürchtung
hört man oft von Eltern mit Aspirationen
im Bildungsbereich, aber sie
trifft nicht zu.
Was ist mit dem oft ins Feld geführten Lärmpegel?
Das
ist ein grosses Problem, aber kein spezifisches des altersdurchmischten
Lernens. Im Fall des selbstorganisierten Lernens würde ich dagegen klar
von einem spezifischen
Problem sprechen. Dieses Konzept ist pädagogisch
zu wenig durchdacht. Denn wenn jeder Schüler
hauptsächlich für sich
selber lernen soll, warum braucht
es dann überhaupt noch Klassenzimmer?
Der Lehrer spielt im Fall des selbstorganisierten
Lernens nur noch eine (Neben-)Rolle als «Coach».
Kommt das gut?
Dahinter
steckt die Ansicht, dass alles, was der Mensch
selber tut, gut ist. Und
dass alles, was von aussen kommt,
schlecht ist. Da schimmert die alte
Angst vor der Macht des
Lehrers durch, die in den siebziger Jahren zu
faktischen Berufsverboten für linke Lehrer führte. Heute spricht
niemand
mehr von «Indoktrinierung», aber es ist, als
ob die Lehrperson
didaktisch überflüssig gemacht werden
soll. Dabei wissen alle, dass sie
wichtig ist. Nicht nur jeder,
der ernsthaft über seine eigene
Schulkarriere nachdenkt,
sondern auch die empirischen Bildungsforscher
wissen es –
oder besser gesagt, sie könnten es wissen, sofern sie bereit
wären, dieses biedere Element der schulischen Bildung zu akzeptieren.
Wäre
in Zeiten, in denen jeder mit seinem Handy
beschäftigt ist, nicht mehr
gemeinsamer Unterricht
gefragt, unter Anleitung eines Klassenlehrers?
Der
meiste Unterricht ist auch heute «lehrerzentriert»,
was für mich
übrigens kein Schimpfwort ist. Klassenlehrer
sind besonders bedeutsam.
Was kann es Besseres für ein
Schulkind geben als eine Lehrperson, die
dem Kind drei
Dinge zeigt: Erstens, dass das, was gelernt werden soll,
wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler diesen Inhalt lernen
kann.
Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei unterstützt.
Das sind die
Elementarien. Der Rest sind eher Oberflächenphänomene, über die viel
sinnlos gestritten wird.
Wie wichtig sind Unterrichtssysteme überhaupt für den Lernerfolg?
Wenn
mit «Unterrichtssystemen» konkrete Varianten des Unterrichtens gemeint
sind, dann ist die positive oder
negative Wirkung auf den Lernerfolg
sehr gross. Wenn
damit das Bildungssystem als Ganzes oder das
Schulsystem gemeint ist, dann gilt: Die Wirkung auf konkretes Lernen
ist
gering. Wie gesagt: Einer der stärksten Faktoren für den Lernerfolg ist
die Lehrperson. Statt das anzuerkennen,
erfindet man dauernd neue
Unterrichtskonzepte und geht
damit auf die Kinder los, mitunter
getrieben von einem
llzu grossen Machbarkeitsglauben.
Dennoch
sind neue Lernformen im Trend, gerade an den Pädagogischen Hochschulen.
Wie gross ist der moralische Druck auf die Schulen, diesem Trend zu
folgen?
Es gibt meines Erachtens
verschiedene pädagogische
Gottesdienste. Momentan ist typisch, dass das
Nicht-Typische besonders hohe Anerkennung bewirkt. Dafür wird der
herkömmliche Unterricht mit moralisierenden Argumenten
eher
schlechtgeredet. Das halte ich nicht für begrüssenswert.
Die Stärken
«herkömmlichen» Unterrichts gilt es ebenso anzuerkennen. Es ist
bedenklich, wenn die Schule der Innovationsrhetorik auf den Leim geht.
Erneuerungen sind,
wenn überhaupt, nur langsam umzusetzen. Die Trägheit
des Systems ist auch ein Garant für Verlässlichkeit und Stabilität,
nicht einfach bloss Indiz mangelnder Anpassungsbereitschaft.
Es gibt
auch in der Schule eine «Neo-Manie», die
abzulehnen ist. Es gibt
Erneuerungen, die grossartig sind,
dies aber eher einmal im Jahrhundert
als einmal pro Monat –
etwa die Erkenntnis, dass das Kind Bedürfnisse
hat, die
man ernst nehmen sollte, statt diese zu bekämpfen.
Heute
experimentieren die Volksschulen mit
individualisierten Lernformen, um
der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen.
Wie müsste
die Schule Ihrer Meinung nach mit diesem
Problem umgehen?
Heterogenität
ist ein soziales Faktum, Homogenität
eine Illusion. Die Unterschiede
zwischen den
Menschen können das Unterrichten – aus
unterschiedlichen
Gründen – extrem erschweren.
Zu behaupten, dass diese Probleme mit
individualisiertem Unterricht alle gelöst werden können, halte ich für
blauäugig.
Die Debatte über die Inklusion lernschwacher Schüler zeugt
von dieser Manie der politischen Korrektheit. Wer die Schwierigkeiten,
Befürchtungen und Hoffnungen von
Eltern, Lehrpersonen und Schülern nicht
ernst nimmt
und es einfach besser weiss, was für die Schule richtig und
gut ist, wird in diesem Land meistens früher oder später
jäh gebremst.
Selbstregulation ist also nicht nur eine
Chimäre.
Gemäss
herrschender Lehrmeinung ist heute nicht
primär reines Wissen gefragt.
Im Zentrum stehen Kompetenzen wie Selbständigkeit und soziales Handeln.
Teilen Sie diese Einschätzung?
Da niemand
etwas gegen Kompetenzen haben kann,
handelt es sich auch hier um einen
Gottesdienst, um ewig wiederholte, kaum analysierte oder kritisch
reflektierte
Vokabeln, bildungspolitische und -praktische Mantras.
Natürlich sind Kompetenzen wichtig, und natürlich
müssen sie gefördert
werden. Doch sämtliche schulischen Lerninhalte nur noch durch die
Kompetenz-Perspektive zu betrachten, ist so unnötig wie ärgerlich.
Richtig ist, dass
es Wissen gibt, das nicht unmittelbar «anwendbar» und
handlungswirksam ist. Wer das allerdings für
problematisch hält, sollte
besser nicht im Bereich der Schule wirken.
Roland
Reichenbach ist Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der
Universität Zürich. Er ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft
für Bildungsforschung und lebt in Basel.
KOMMENTAR:
Aehnliche Bestrebungen wie in der Schule gibt es auch im Management und an Hochschulen. ES kann nicht alles selbst reguliert werden. An einer namhaften Universität werden die Dozenten angehalten, die Studierenden einen Auftrag zu geben, damit sie selbst den Stoff erarbeiten können. Der Professor steht Fragen zur Verfügung und ist gleichsam Coach.
Das Zauberwort SELBSTREGULATION wird vergoldet.
Im Management kursiert der Begriff: "Veränderungsmanagement".
Dabei wird ausgeklammert, dass es nicht nur um Veränderung gehen kann. Denn schlechter werden ist auch eine Veränderung.
Wenn etwas verändert wird muss es zwingend zu einer VERBESSERUNG führen. Und das darf bei den Resultaten der Innovationsrhetorikern beweifelt werden.
Die Bemühungen bei unserer Volksschule in Richtung selbstorganisierte Lernen missachtet die Erkenntnis, dass die Lehrperson bei den Lernprozessen keine Nebenrolle, sondern eine zentrale Rolle spielt. Erziehungswissenschafter Reichenbach bringt es auf den Punkt:
"Klassenlehrer sind besonders bedeutsam.
Was kann es Besseres für ein Schulkind geben als eine Lehrperson, die
dem Kind drei Dinge zeigt: Erstens, dass das, was gelernt werden soll,
wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler diesen Inhalt lernen kann.
Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei unterstützt. Das sind die
Elementarien!"