Zurück in die Zukunft
Vom der Bildung in Neuseeland lernen:
Gebt den Kindern einen Grund zum Lernen
Verena Friederike Hasel hat in Neuseeland hat unsere Autorin ein Bildungssystem
kennengelernt, das uns weiterbrignen könnte. In DIE ZEIT fasst sie zusammen, was sie
dort gelernt hat.
Über Bildung wird bei uns viel diskutiert und gestritten. Notenfreie Schule? Hausaufgaben Ja oder Nein? Autonomes lernen mit Lerninseln ist In. Zwölf oder dreizehn Schuljahre? Und immer wieder der Ruf nach
mehr Geld, kleineren Klassen und Tablets für alle. Aber kommt es auf diese
Dinge an, wenn wir Schulen verbessern wollen?
Die Autorin lebte mit ihren drei Kindern in Neuseeland. Währen dieser Zeit hat sie
festgestellt,
dass ganz andere Dinge wichtig sind, wenn Bildung gelingen soll. In
internationalen Rankings schneidet dieses Land stets sehr gut ab.
Gebt den Kindern einen Grund, zu schreiben
Morgens entdecken die Schüler einer zweiten Klasse, die ich besuche, eine kleine
Tür an der Wand, im Miniatur-Briefkasten daneben steckt ein Zettelchen. Unterschrieben
von einer Fee, die, so steht es im Brief, hinter dieser Tür eingezogen ist. Von
da an herrscht rege Korrespondenz zwischen ihr und den Kindern, an der sich
selbst die schreibfaulsten begeistert beteiligen. Wer lässt sich schon die
Gelegenheit entgehen, eine Fee zur Brieffreundin zu haben?
In einer
anderen Klasse finden die Schüler einen Koffer mit einem Amulett und alten Landkarten.
Aufgeregt reden sie durcheinander: Wer ist der Besitzer? Sind sie einem
Geheimnis auf der Spur? "Schreibt doch etwas", sagt die Lehrerin, und die
Kinder lassen sich nicht lang bitten.
Ob Feenbriefe
oder Schatzkoffer: In Neuseeland werden Kinder nach allen Regeln der
Kunst zum
Schreiben verführt. Auch die Aufsatzthemen, die sich Lehrer ausdenken,
sind verlockend. "Wenn ich drei Wünsche frei hätte" oder "Wenn ich
fliegen könnte".
Und den Kindern fällt so viel ein, dass sie gar nicht mehr aufhören
wollen zu
schreiben.
KOMMENTAR: Es ist erwiesen, dass Schreiben das Lernen erleichtert. Vor allem von Hand. Während des Schreibens müssen die Gedanken zusammengefasst werden und das Umformulieren festigt das Gehörte. Schreiben ist ein Lernprozess. Ich habe im Gymnasium selbst erkannt, dass ich bei jenen Lehrers die den Stoff schriftlich abgegeben haben mit der Bemerkung: "Ihr braucht nicht mit zu schreiben", heute den Stoff weitgehend vergessen habe. Jedoch dort, wo ich mitgeschrieben, mitgezeichnet oder ein Mindmap skiziert habe, vieles heute noch gespeichert ist. Ich habe mir angwöhnt bei spannende Präsentationen Notizen zu machen. Ich speichere das Geschriebene nicht auf. Das Gehirn hat das Wesentliche in einm "Dokument" bereits verankert.
Feiert den Fehler
An zahlreichen deutschen
Schulen lernen Kinder, nach Gehör zu schreiben. Fehler werden nicht korrigiert,
weil man fürchtet, die Kinder sonst zu entmutigen. Eine Methode, die man in
Neuseeland abwegig findet: Warum zulassen, dass sich Kinder an etwas Falsches
gewöhnen, wenn doch jeder weiß, wie schwer es ist, einmal Gelerntes wieder zu
entlernen? Außerdem käme keiner auf die Idee, dass der Hinweis auf einen Fehler
ein Kind demotivieren würde, denn in Neuseeland sind Fehler nichts Schlimmes.
Im Gegenteil: Man feiert sie. "Was für ein großartiger Fehler!", ruft die
Lehrerin, als ein Mädchen im Matheunterricht ein falsches Ergebnis nennt, weil
dahinter eine interessante Strategie steckt, und in der ersten Klasse werden
die Radierer aus den Federtaschen verbannt, weil Fehler nichts sind, was man
beschämt entfernen muss. "Und wieder wächst dein Gehirn ein bisschen", sagen
die Lehrer, wenn ein Kind einen Fehler macht.
Als ich mir
anschaue, wie die neuseeländischen Lehrer einer Grundschule, die ich besuche, Aufsätze
korrigieren, merke ich aber, dass sie sehr genau wissen, wie viel Frustration
sie einem Kind zumuten können. Der ursprüngliche Text des Kindes wird immer
stehen gelassen, und alles, was man mit einem Häkchen versehen kann, weil es
richtig ist, bekommt auch eins. Als Ansporn. Die Verbesserungen stehen gut
lesbar darüber. Für sie benutzen Lehrer grundsätzlich einen grünen Stift, da
Rot zu sehr Symbol für alles Negative geworden ist.
KOMMENTAR: Jene Ermutigungs-Pädagogen, die Kinder am Anfang nach Gehör schreiben lassen, sind sich nicht bewusst, dass ein Mensch, der zuerst Fehler d.h. ein fehlerhaftes Wortbild einprägt und wiederholt falsch schreibt, letztlich länger hat, um fehlerfrei zu schreiben, als jene, die sich an das korrekte Wortbild gewöhnt haben. Wer orthographisch falsch schreiben lernt, frustriert das Kind. Jene Lehrer, die Kinder Texte selbst korrigieren können, festigen die korrekte Schreibweise. So gesehen ist das belächelte Diktat wieder modern.
KOMMENTAR: Jene Ermutigungs-Pädagogen, die Kinder am Anfang nach Gehör schreiben lassen, sind sich nicht bewusst, dass ein Mensch, der zuerst Fehler d.h. ein fehlerhaftes Wortbild einprägt und wiederholt falsch schreibt, letztlich länger hat, um fehlerfrei zu schreiben, als jene, die sich an das korrekte Wortbild gewöhnt haben. Wer orthographisch falsch schreiben lernt, frustriert das Kind. Jene Lehrer, die Kinder Texte selbst korrigieren können, festigen die korrekte Schreibweise. So gesehen ist das belächelte Diktat wieder modern.
Bringt den Kindern die Liebe zu Büchern bei
"Puh", stöhnt
die Lehrerin, als sie den Klassenraum betritt. "Die ist aber schwer." In der
Hand hält sie eine Reisetasche. Als sie den Reissverschluss öffnet, purzeln
Gummistiefel und Stilettos, Turnschuhe und Sandalen heraus.
Die Lehrerin schlüpft
in ein Paar Stiefel, als sei es das Natürlichste der Welt, dass sie mit dem gesamten
Inhalt ihres Schuhschranks in der Schule aufgetaucht ist. "Sehr bequem. Aber in
ein paar Tagen gehe ich abends aus. Welche Schuhe ziehe ich da an?" Ein Kind
zeigt auf ein Paar Pumps. Die Lehrerin nickt. "Wollt ihr mitmachen?", fragt
sie. Die nächste halbe Stunde probieren sich die Schüler durch den Schuhhaufen,
und am Ende sagt die Lehrerin: "Ihr seht: Es ist gar nicht einfach, Schuhe zu
finden. Manchmal muss man eine Weile suchen." Sie macht eine Pause. "Mit
Büchern ist es dasselbe. Das perfekte Buch muss genauso gut zu euch passen wie
der richtige Schuh."
Lesen lernen in
Neuseeland, die erste und wichtigste Lektion: Kinder, die ungern lesen, gibt es
nicht. Es gibt nur Kinder, die noch nicht das richtige Buch gefunden haben.
KOMMENTAR:
Früher haben Kinder nachts heimlich gelesen, weil Eltern und Erzieher gewisse, sogenannte Schundliteratur, selbst Bücher von Karl May verboten hatten. Lasst die Kinder doch Lesen.
Wichtig ist vor allem, dass ihnen lesen später keine Mühe bereitet. Kinder, die viel lesen, machen auch beim Schreiben weniger Fehler. Der Wortschatz wird beim Lesen automatisch erweitert. Wir müssen nur erkennen, welche Bücher für das Kind altergemäss sind und dem individuellen Interesse entspricht. Als Ombudsmann an einer Kantonsschule habe ich bei einem Schüler, der eine schlechte Lesekompetenz hatte innert drei Monaten eine Verbesserung erreicht, indem ich dem fussballvernarrten Jungen Bücher rund um die Thematik Fussballssport als Pflichtlektüre "verordnete". Der Erfolg war erstaunlich.
Gebt den Kindern Erlebnisse
Periodensysteme,
Atlanten, Schautafeln zur Vererbung – all das hat natürlich seinen Platz im naturwissenschaftlichen
Unterricht in Neuseeland. Aber viel wichtiger als pure Theorie sind Erlebnisse.
So gehen Oberstufenschüler mit ihrem Lehrer Mountainbike fahren und erfahren auf
diese Weise am eigenen Leib, dass es mehr Kraft erfordert, loszufahren als bei
gleichbleibender Geschwindigkeit weiterzufahren, bevor sie die Newtonschen
Gesetze durchnehmen, welche die Erklärung für dieses Phänomen liefern.
Eine
andere Klasse, die das Thema Antarktis durchnimmt, übernachtet bei den
Pinguinen im Aquarium, und Schulanfänger machen das erste Experiment ihres
Lebens mit Schokobonbons, essen diese aber nicht auf, sondern stellen Hypothesen
auf, wie Schokolade schmilzt. Ein Junge, der sich daran erinnert, dass er in
seinem schwarzen Pulli stärker schwitzt als im weißen, legt seine Drops auf
einen schwarzen Eimer in die Sonne, und ein Mädchen reibt sie, weil sie festgestellt
hat, dass ihre Hände auf diese Weise warm werden.
An vielen Schulen Neuseelands wurde außerdem die
Geniestunde eingeführt. Immer freitags arbeiten die Kinder für einige Stunden
an einem selbst gewählten Projekt.
Stellt den Lehrer in den Mittelpunkt
In
Deutschland wird die Rolle von Lehrern seit einiger Zeit beständig
heruntermoderiert. Mitunter sieht man sie nur noch als Unterrichtsbegleiter, und
die Pädagogen selbst glauben auch nicht mehr so recht an ihren eigenen
Einfluss. In einer Befragung durch das Allensbach-Institut schrieben sich
lediglich acht Prozent eine "sehr große Bedeutung" für die Entwicklung ihrer
Schüler zu. In Neuseeland sieht man den Lehrer dagegen als absolut zentral für
erfolgreiches Lernen an. Er ist kein Moderator oder Vermittler, sondern ganz im
Gegenteil eine starke Figur, die den Unterricht klar strukturiert und steuert.
Entsprechend ernst nimmt man auch die Frage, wie er sich stetig verbessern
kann.
In Deutschland wird kaum überprüft, ob ein Lehrer seiner Fortbildungspflicht
nachkommt. Neuseeländische Lehrer müssen ihre Lehrerlaubnis dagegen alle drei
Jahre erneuern – und das dürfen sie nur, wenn sie an Fortbildungen teilgenommen
haben. Dafür sind diese aber auch extrem wirkungsvoll. Während Fortbildungen in
Deutschland meist externe Vorträge sind, die der Lehrer nach Unterrichtsschluss
besucht, obwohl so etwas nachgewiesenermaßen wenig bringt, kommen die
Fortbilder in Neuseeland direkt an die einzelne Schule, geben Modellstunden
und gehen auf die individuellen Probleme und Fragen des Lehrers ein.
KOMMENTAR: Kinder wollen EINE Bezugsperson auf der Elementarstufe. Sie schätzen auch eine gewisse "Nestwärme". Ein eigenes Klassenzimmer, einen Hauptlehrer, eine "eigene" Schulbank.
Fixe Strukturen vereinfachen den Unterricht. Viele Probleme sind Haus-gemacht, weil feste Strukturen fehlen und damit die schädliche "Orientierungslosigkeit" gefördert wird.
KOMMENTAR: Kinder wollen EINE Bezugsperson auf der Elementarstufe. Sie schätzen auch eine gewisse "Nestwärme". Ein eigenes Klassenzimmer, einen Hauptlehrer, eine "eigene" Schulbank.
Fixe Strukturen vereinfachen den Unterricht. Viele Probleme sind Haus-gemacht, weil feste Strukturen fehlen und damit die schädliche "Orientierungslosigkeit" gefördert wird.
Bereitet die Kinder auf die Freiheit vor
Fragt man die
18-jährige Abiturientin Julia nach dem Höhepunkt ihrer Schulzeit, muss sie
nicht lange überlegen. "Das war das Solo Camp", sagt die Neuseeländerin. Das
Solo Camp ist Teil des Faches Education outside the classroom, das es an vielen
neuseeländischen Schulen gibt, und geht so: Schüler verbringen 48 Stunden
allein im Wald, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, Telefon, Bücher und Musik
sind verboten. Es handelt sich nicht um Überlebenstraining, die Jugendlichen
müssen sich nicht von Spinnen und Mäusen ernähren, aber sie müssen etwas viel
Schwierigeres tun. Schweigen, meditieren, allein sein.
"Zu lernen, wie man sich
selbst aushält, ist das Wichtigste überhaupt", sagt Julias Lehrer. Er hat alle
Zwölftklässler, die am Solo Camp teilgenommen haben, an ihre Schlafplätze im
Wald geführt, so weit voneinander entfernt, dass sie sich weder sehen noch
hören konnten, hat ihnen für den Notfall eine Trillerpfeife zugesteckt und außerdem
ein Buch mit leeren Seiten, über die er Fragen geschrieben hat: Wem möchtest du
danken? Was hat dich geprägt? Wo möchtest du in sechs Monaten sein? Darüber
sollten die Schüler während ihrer 48 Stunden allein im Wald nachdenken.
Julia sagt,
dass sich natürlich längst nicht alle Fragen geklärt hätten. Noch immer sei die
Zukunft unsicher, aber Angst, nein, die habe sie nicht mehr. "Und wenn ich mich
doch mal vor etwas fürchte, dann sage ich mir: Wenn ich 48 Stunden allein im
Wald überleben kann, schaffe ich das hier auch."
KOMMENTAR: Siehe oben "erlebnisorientierter Unterricht"