In Afghanistan beissen sich die Weltmächte seit 200 Jahren die Zähne aus,
Der erste westliche Staat, der sich in der Neuzeit in Afghanistan engagierte, war das Britische Empire im 19. Jahrhundert. Dies in direkter Konkurrenz zum Russischen Reich. Die Russen wollten ihr Herrschaftsgebiet bis zum Indischen Ozean ausdehnen, um einen eisfreien Marinehafen zu errichten. Das bedrohte die Herrschaft der Briten in Südasien.
Um seine Vormachtstellung im zentralasiatischen Raum abzusichern, unternahm das britische Empire ab 1839 einen ersten Versuch, Afghanistan zu erobern. Im Ersten Anglo-Afghanischen Krieg gelang es der gut ausgerüsteten Armee schnell, das Land einzunehmen. Doch bereits 1842 mussten sich die Briten nach einem Aufstand der Bevölkerung wieder aus Afghanistan zurückziehen
Mitte des 19. Jahrhunderts unterwarf das Russische Reich weitere Gebiete in Zentralasien und gründete das Generalgouvernement Turkestan in unmittelbarer Nachbarschaft zu Afghanistan. 1878 gewann Russland mit der Einrichtung einer Gesandtschaft in Kabul an Einfluss in Afghanistan
Als Antwort auf die russischen Erfolge marschierte ein Heer aus Briten und Indern erneut in Afghanistan ein. Im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg (1878-1880) gelang es dem Empire, das Land unter seine Kontrolle zu bringen, einen Emir einzusetzen und in der Folge für 40 Jahre die afghanische Aussenpolitik zu bestimmen.
Trotz des britischen Siegs wurde das Land immer wieder von Aufständen der Afghanen, die sich selber Paschtunen nennen, erschüttert. London beschloss darauf, das Land zu teilen. Die südöstlichen Gebiete wurden 1893 durch die Durand-Linie von Afghanistan abgetrennt und Britisch-Indien zugeschlagen. Bis heute bildet die Durand-Linie die nach wie vor umstrittene – und durchlässige – Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan.
Die Durand-Linie wurde von den Briten bewusst durch paschtunisches Gebiet
gelegt. Die Folgen sind bis heute spürbar. Die militant-islamistischen
Taliban rekrutieren ihre Mitglieder hauptsächlich aus den Reihen der
Paschtunen, die heute rund 40 Prozent der Bevölkerung Afghanistans (15 Millionen Menschen) ausmachen. Der weitaus grössere Teil der Paschtunen (23 Millionen) lebt in Pakistan.
1919 führten afghanische Unabhängigkeitsbestrebungen zum Dritten Anglo-Afghanischen Krieg. Er endete im August 1919 im Frieden von Rawalpindi. Afghanistan erlangte darin seine Unabhängigkeit, musste aber die Durand-Linie anerkennen. Afghanistan wurde so zu einer Pufferzone zwischen den Einflusssphären Russlands und des Britischen Empires.
Nach der Unabhängigkeit gründete Amanullah Khan das Königreich Afghanistan. Er reformierte das Land und stärkte unter anderem die Rechte der Frauen (Ende der Burka-Tragepflicht) und führte die Schulpflicht für Mädchen ein.
Die Reformen Amanullah Khans stiessen bei vielen Stämmen und religiösen Führern auf Widerstand, was 1928 zum Afghanischen Bürgerkrieg führte. Aus den Kriegswirren ging 1933 der 19-jährige Mohammed Zahir Shah als neuer König hervor. Er sollte bis 1973 herrschen. Zahir Schah führte im Zuge seiner Herrschaft demokratische Wahlen, ein Zweikammerparlament, das Frauenwahlrecht und Pressefreiheit ein.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Afghanistan neutral. Es profitierte aber insofern vom Kalten Krieg, als dass sowohl die USA als auch die Sowjetunion um die Gunst Kabuls buhlten. Beide Staaten butterten in der Nachkriegszeit viel Geld in Infrastrukturprojekte wie Autobahnen und Flughäfen
1973 wurde Zahir Shah während eines Italienaufenthalts in einem relativ unblutigen Staatsstreich durch seinen Cousin Mohammed Daoud Khan gestürzt. Khan rief die Republik aus und wurde erster Präsident Afghanistans. Er genoss vorerst die Unterstützung der kommunistischen Partei DVP, die er allerdings 1977 von der Regierung ausschloss. Zudem zog er den Zorn Moskaus auf sich, da er ab 1975 eine auf Blockfreiheit ausgerichtete Aussenpolitik verfolgte
1978 kam es zur Saurrevolution. Die DVP tötete Daoud Khan und übernahm die Macht. Damit endete eine fast fünfzigjährige Friedenszeit und begann der bis heute andauernde Konflikt um Afghanistan. Innerhalb der DVP setzte sich der paschtunische Flügel durch
Die vom neuen Präsidenten Hafizullah Amin verfolgten Reformpläne führten zu Aufständen in der Bevölkerung und zum Bruch mit der Sowjetunion, die eine Anlehnung Afghanistans an die USA fürchteten. Im Dezember 1979 marschierte die Sowjetarmee in Afghanistan ein und tötete Amin.
Die Sowjetunion setzte einen neuen Präsidenten ein und hoffte, sich nach einigen Monaten wieder aus Afghanistan zurückziehen zu können. Doch in der Bevölkerung formierte sich breiter Widerstand gegen die kommunistische Regierung von Moskaus Gnaden. Der militärische Widerstand wurde von islamistischen Guerillas, den Mujahedin
In der zehnjährigen Besatzungszeit gelang es der Sowjetunion nicht, den Widerstand der Mujahedin zu brechen. In dieser Zeit starben rund eine Million Afghanen, vier Millionen flüchteten nach Pakistan und in den Iran. 1988 wurde schliesslich im Genfer Abkommen der Abzug der Sowjetarmee beschlossen.
Da die Mujahedin nicht am Genfer Abkommen beteiligt waren, brach 1989 der Bürgerkrieg aus. Zuerst kämpften die Aufständischen gegen die weiterhin von Moskau unterstütze Zentralregierung. Nach dem Fall Kabuls 1992 kam es zu anhaltenden Machtkämpfen verschiedener Gruppen, wodurch die Hauptstadt zu grossen Teilen zerstört wurde und es erneut zu einer Flüchtlingskrise kam.
1994 begann sich im von Paschtunen bewohnten Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan die Talibanbewegung zu formieren. Ihre Ideologie ist von einer sehr strengen Auslegung des islamischen Rechts und dem Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen geprägt. In der südafghanische Stadt Kandahar traten die Taliban 1994 erstmals in Erscheinung.
Ende 1994 leitete Verteidigungsminister Ahmad Shah Massoud einen Prozess der Aussöhnung ein, der zu demokratischen Wahlen führen sollte. Die Taliban lehnten aus Widerstand gegen eine demokratische Staatsform eine Teilnahme ab und belagerten in der Folge zwei Jahre lang Kabul, unterstützt von Saudiarabien und Pakistan.
Im September 1996 nahmen die Taliban Kabul ein und errichteten das «Islamische Emirat Afghanistan». Massoud zog sich mit seinen Truppen in den Nordosten Afghanistans zurück, von wo aus er den Widerstand gegen das Taliban-Regime leitete.
In den von ihnen kontrollierten Gebieten herrschten die Taliban strikt nach ihrer Auslegung der Scharia: Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, Frauen die Burka tragen. Die Taliban verboten Fernsehen, Musik und Kino und lehnten den Schulbesuch von Mädchen ab zehn Jahren ab. Zudem begingen sie systematische Massaker gegen die Zivilbevölkerung. Hunderttausende flohen in die von Massoud beherrschten Gebiete.
Die Taliban terrorisierten nicht nur die Bevölkerung, sie boten auch dem verbündeten Terrornetzwerk al-Qaida unter Osama Bin Laden einen sicheren Hafen. Am 9. September 2001 ermordeten zwei arabische Selbstmordattentäter Massoud. Der totale Triumph der Taliban schien nahe
Am 11. September 2001 verübten Mitglieder der al-Qaida in den USA mehrere Terroranschläge, denen rund 3000 Menschen zum Opfer fielen. Als Reaktion auf die Anschläge begann eine US-geführte Koalition am 7. Oktober die Operation Enduring Freedom mit dem Ziel, das Taliban-Regime zu stürzen und den Terrorfürsten Osama Bin Laden auszuschalten.
Die Koalition konnte das Talibanregime innert weniger Monate stürzen. Die Führung der Taliban floh nach Pakistan. Am 13. Juni 2002 bestimmte eine Grosse Ratsversammlung (Loja Dshirga) Hamid Karsai zum Präsidenten Afghanistans. (Bild: Hamid Karsai mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush.)
Im Januar 2004 trat die neue Verfassung in Kraft. Afghanistan wurde zur Islamischen Republik. In der ersten Präsidentenwahl in der Geschichte Afghanistans wurde Karsai im Amt bestätigt. Während in den folgenden Jahren besonders die USA die afghanischen Sicherheitskräfte und Regierungstruppen ausbildeten und ausrüsteten, kam es immer wieder zu Anschlägen auf Staatseinrichtungen und ausländische Truppen durch die Taliban.
Der Terrorfürst Osama Bin Laden wurde am 2. Mai 2011 während einer geheimen Operation von US-Spezialkräften im pakistanischen Abbottabad getötet.
Am 29. Februar 2020 unterzeichneten die USA unter Präsident Donald Trump mit den Taliban in Doha, Katar, ein Abkommen, das einen schrittweisen Abzug der Nato-Streitkräfte vorsah. Im Gegenzug versicherten die Taliban, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgehe.
Der offizielle Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan begann am 1. Mai 2021. US-Präsident Joe Biden wollte den Abzug bis zum 11. September 2021, dem 20. Jahrestag der Terroranschläge auf New York und Washington, abgeschlossen haben. Damit trug er der Kriegsmüdigkeit weiter Teile der US-Bevölkerung Rechnung.
Im August 2021 eroberten die Taliban mit einer von den westlichen Regierungen vollkommen unterschätzten Geschwindigkeit eine Provinzhauptstadt nach der anderen. Tausende Menschen flohen in die vermeintliche Sicherheit der Hauptstadt Kabul.
Am 15. August fiel Kabul an die Taliban, nachdem Präsident Ashraf Ghani das Land verlassen hatte. Die Radikalislamisten besetzten den Präsidentenpalast und brachten innert Stunden praktisch alle wichtigen staatlichen Einrichtungen unter ihre Kontrolle.
Nach dem Einmarsch der Taliban spielten sich am Flughafen Kabul erschütternde Szenen ab. Einheimische und Ausländer versuchten verzweifelt, noch ein Flugzeug zu erwischen, um vor den Taliban und ihrer zu erwartenden Schreckensherrschaft zu fliehen. Mehrere Menschen starben, darunter mindestens drei, die sich an eine US-Militärmaschine klammerten und nach dem Start aus grosser Höhe herunterfielen
Quelle: 20 Min Beitrag von Jean-Claude Gerber
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