Jürg Jegge gesteht die sexuallen Uebergriffe
DAS INTERVIEW:
"Dummheit ist nicht lernbar, die ist gegeben, so wie die Uneinsichtbarkeit."
BLICK: Ihr ehemaliger Schüler Markus Zangger beschreibt in einem Buch, wie er von Ihnen jahrelang sexuell missbraucht wurde. Stimmt es, was im Buch steht?
Jürg Jegge:
Ich muss es vielleicht so sagen, ich habe mich als Lehrer wahnsinnig
für meine Schülerinnen und Schüler eingesetzt. Das ging so weit, dass
die Schüler bei mir zu jeder Tag- und Nachzeit reinlaufen konnten.
Stimmt es, was im Buch steht?Zwei
Sachen waren mir damals wichtig. Das eine war die seelische Stärkung
der Kinder, das andere war möglichst viel Anregung. Im Rahmen dieser
seelischen Stärkung war das dazumal in diesem grün-linken Kuchen und in
der Zeit der sexuellen Befreiung wirklich fast Allgemeingut.
Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern waren auch damals kein Allgemeingut.Allgemeingut
ist vielleicht übertrieben, aber es wurde schwerstens diskutiert, es
gab Tagungen und Bücher dazu. Mir ging es nicht nur um die sexuelle
Befreiung, sondern ich habe mich generell für ein anderes Körpergefühl
eingesetzt.
Kam es zu sexuellen Kontakten?Ja, es kam zu sexuellen Kontakten. Ich habe das damals als spielerisch angeschaut. Wir haben viel gelacht.
Wieviele Opfer gibt es?Es sind ein paar. Was ich nicht will, ist, dass man jetzt damit beginnt, die Beteiligten auszugraben.
Wieviele sind es?Es sind auf jeden Fall unter zehn.
Waren alle in der gleichen Klasse wie Markus Zangger?Ja. Mit einer Ausnahme.
Warum haben Sie sexuell mit Ihren Schülern verkehrt?Ich war der Meinung, dass das möglicherweise etwas bringt. Nicht allen Schülern, aber gewissen.
Sie sagen damit also: Sie haben das zum Wohl der Buben gemacht?Ganz stimmt das nicht. Jeder Mensch, der mit einem anderen Menschen zärtlich ist, befriedigt dabei auch eigene Bedürfnisse. Wichtig ist nur, dass der andere mehr davon hat, als man selber. So sah ich das damals.
Wie kamen Sie auf die Idee, dass Ihre Schüler das wollten?Wir haben darüber sehr offen gesprochen. Sachen, die jemand nicht wollte, passierten auch nicht. Was ich damals nicht sah: Die Spiesse waren nicht gleich lang. Ich war schon damals die gewichtigere Person.
Ihre Opfer waren Sonderschüler - die Schwächsten also.Nein, ich habe mich ein Leben lang für die Schwächsten eingesetzt. Es ging immer darum, dass sie mehr Selbstvertrauen bekommen. Sie konnten sich immer wehren, wenn ihnen zum Beispiel das Rechnen stinkte. Wir haben gesagt, es waren unter zehn Opfer: Das waren alles schwachbegabte Schüler und jeder von denen hat eine dreijährige Berufslehre gemacht. Das muss man auch mal sagen.
Sie konnten sich gegen das Rechnen aber nicht gegen die sexuellen Kontakte mit Ihnen wehren.Das ist der Punkt, den man heute anders sieht.
Sie haben Pädagogik-Bestseller geschrieben. Wenn Sie es damals richtig fanden, warum haben Sie darüber kein Buch geschrieben?Es war damals weniger tabuisiert, aber schon tabuisiert. Ich habe mir überlegt, dass ich so viel schreiben müsste, um das alles zu erklären. Ich habe das immer als Randgeschichte angeschaut.
Für Ihr Opfer Markus Zangger ist der Missbrauch keine Randgeschichte.Im Buch bin ich der grösste Unmensch. Da steht, wie ich Markus plage und quäle, eben so Zeugs. Es ist einfach aus seiner Perspektive geschrieben.
Was ist Ihre Perspektive?Eine andere dazumal.
Und Ihre heutige Perspektive?Heute würde ich sagen, es war ein grosser Fehler, dass ich das nicht realisiert habe. Ich ging mit bester Absicht vor.
Sie sagen nicht: Es ist falsch, was ich gemacht habe.Aus heutiger Sicht schon. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Heute ist das dermassen Pfui, würde man heute so etwas machen und wäre es mit noch so guten Absichten, brächte man einen jungen Menschen in furchtbare Zwiespälte.
Sie haben vor 30 Jahren die Stiftung Märtplatz gegründet. Kam es dort zu Übergriffen?In der Anfangsphase des Märtplatz waren dort nicht nur Jugendliche. Sondern auch Leute, die generell Mühe hatten, einen Beruf zu finden. Einer war mein Freund. Er war zehn Jahre älter als sein Lehrmeister. Mit dem hatte ich eine Beziehung.
Vorfälle mit Minderjährigen gab es nicht?Nein.
Haben Sie heute Kontakt zu den jungen Leuten der Stiftung Märtplatz?Nein, nur noch zu einzelnen Lehrmeistern.
Dem «BLICK» hat ein zweites Opfer seine Geschichte erzählt.Das war ein Lehrmeister vom Märtplatz. Das war jemand, der mir gefiel, und ich habe ihm Avancen gemacht. Fertig. Das war ein erwachsener Mensch.
Haben Sie diese Woche Kontakt mit den anderen Opfer gesucht?Nein, weil ich weiss, dass der Markus ziemlich weibelt und versucht, die auf seine Seite zu ziehen. Es geht ja jetzt auch darum, nicht noch mehr Schaden anzurichten.
Haben Sie heute grundsätzlich noch Kontakt zu Opfern?Ja, zu gewissen sind recht gute Freundschaften entstanden.
Sie trinken Kaffee zusammen.Ja klar. Natürlich nicht mit allen.
Die sexuellen Kontakte aber haben aufgehört. Warum?Einer nach dem anderen hat gesagt: Vergessen wir das. Ich habe gesagt: Das ist in Ordnung, lassen wir das. Ich bin denen nicht nachgelaufen und habe gesagt: Komm ins Bettli.
Fürchteten Sie, dass es herauskommt?Nicht wirklich. Das einzige, was ich mir überlegte, war, dass die Stiftung Märtplatz da hineingezogen werden könnte. Weil das schadet denen, die heute dort arbeiten.
Sie lebten in Angst.Mir ist so viel passiert in meinem Leben. Oft ist es gar nicht so schlimm, wie man sich das vorgestellt hat, wenn man mittendrin ist. Dann merkt man, dass man es schon aushält.
Bereuen Sie, was Sie getan haben?Ich muss so sagen: Wenn das Leuten geschadet hat, dann bereue ich das.
Sie gingen seit dem Dienstag nicht mehr ins Dorfcafé.Ich hatte viel zu tun.
Schämen Sie sich?Wissen Sie, ich war jahrelang der schlechteste Lehrer von Embrach. Ich bin mir das gewohnt. Wobei diese Vorwürfe sind natürlich happiger, als ein schlechter Lehrer zu sein.
Wie war die Reaktion der Leute aus Ihrem Umfeld?Ich habe von vielen ehemaligen Schülern sehr viele Unterstützungsmails bekommen, auch Kondolenzmails. Sie schreiben: Es tut mir leid, wie du da in den Medien herumgezogen wirst.
Möchten Sie mit Markus Zangger reden?Wir hatten in meinen Augen eine gute Zeit miteinander. Wenn er mit mir darüber sprechen will, bin ich sehr gern dazu bereit.
BEDENKLICH, dass Jürg Jegge sich von der 68 er Euphorie noch nicht gelöst hat.
Jürg Jegge zeigt sich uneinsichtig:
- Er sei damals der Überzeugung gewesen, dass man den Unterschied zwischen Lehrer und Schüler möglichst klein halten sollte.
- Er habe nie Gewalt angewandt, deshalb sei es in seinen Augen auch kein Missbrauch.
Er bereut seine"Therapien" nicht. Er sagt im Interview nur, er würde es heute nicht mehr machen.
Ich zitiere:
Hatten Sie damals das Gefühl, Ihre «Therapien», die sexuelle Kontakte mit Minderjährigen beinhalteten, seien ein revolutionärer Akt?
Das kann man so sagen. Es ging um die Selbstbefreiung, darum, dass sexuelle Befreiung zu einer Gesamtbefreiung beitragen kann. Das wurde alles so diskutiert und teilweise auch so gemacht. In den deutschen Kinderläden kam der Samichlaus und hat die Kinder füdliblutt ausgezogen. Alles so Zeug. Das zeigt auch die Diskussion um die Grüne Partei in Deutschland und ihre Beziehung zur Pädosexualität in den Siebzigerjahren.
Haben Sie sich mit anderen Pädagogen über die sexuellen Kontakte mit Kindern ausgetauscht?
Ja. Nicht sehr häufig, aber es kam vor. Wir waren der Meinung, dass man Kinder gleich behandeln soll wie Erwachsene. Und zwar auf der ganzen Linie.
Mit wem haben Sie sich ausgetauscht?
Gleichgesinnten, ich will keine Namen nennen. Wir waren nicht organisiert. Das geschah zum Beispiel im Rahmen einer Supervision. Natürlich hat man dafür gesorgt, dass das nicht überall rumerzählt wurde. In der Wissenschaft wurde die Thematik aber öffentlich diskutiert. Es gab sogar Tagungen. Da war aber nur ein sehr kleiner Teil der Forschenden involviert.
Wissen Sie konkret von anderen Pädagogen, die mit Schülern sexuell verkehrten?
Ja, ich weiss, dass das auch andernorts stattfand.
Bereuen Sie heute Ihre Taten?
Aus heutiger Sicht würde ich so etwas nicht mehr machen. Hauptsächlich deshalb, weil es zwischen Lehrer und Schüler eben ein Ungleichgewicht gibt. Und weil die allgemeine Diskussion heute eine andere ist.
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