Meinungspornographie
Beschimpfungen und Drohungen im Netz sind an der Tagesordnung
Faktoren, die zur Verrohung der Kommunikationskultur führen:
Méline Sieber wurde vom Regionaljournal Zürich Schaffhausen dazu befragt,
was die Gründe dafür sind, dass im Netz eine unsägliche Kommentarkultur
herrscht. Wüste Beschimpfungen und Drohungen sind an der Tagesordnung.
Mitarbeitende von Newsportalen sind mit der Kommentarflut überfordert.
Es ist naheliegend, eine Verrohung der Sitten zu konstatieren.
Schnell wird angeführt, früher, also zu Zeiten des Usenets oder des
frühen Internets, habe eine »Netiquette« dafür gesorgt, dass Spielregeln
eingehalten worden seien. Das Zerfallsnarrativ halte ich für
irreführend (eigentlich immer – Zerfall entsteht nicht zufällig).
Zielführender scheint es mir, vier Faktoren zu beschreiben, welche die
Kommentarkultur beeinflussen. Dann wird deutlich, dass durchaus auch
Interessen dahinter stecken, welche diesen Zustand mit finanziellen und
politischen Mitteln herbeigeführt haben und für wünschenswert halten.
Dasselbe gilt für das Publikum: Es gewöhnt sich schnell an ein bestimmtes Level von Wut oder Aggression und ist fasziniert von Grenzüberschreitungen. Zivilisierte Gesellschaften wandeln Aggressionen in differenzierte Ersatzsysteme um: Die Kommentarschlacht ist eines davon. Es führt die mögliche Aggression und Wut vor, reduziert komplexe Probleme darauf.
Das funktioniert psychologisch auch deshalb, weil sich schnell Nischen bilden. Anders als am Mittagstisch sind alle in einer bestimmten Facebook-Gruppe gleicher Meinung. Um herauszuragen, braucht es extremere Positionen oder krassere Formulierungen. Und weil eine Reihe anderer bereits gezeigt hat, dass es akzeptabel ist, ausfällig zu werden, sind User bereit, einen Schritt weiterzugehen.
Dazu werden die Schwellen gesenkt. War das Usenet einer Elite vorbehalten, kann in Europa heute jede und jeder ins Netz. Und soll dort als identifizierbares Individuum agieren. Es bilden sich weniger geschlossene Interessensgruppen und Gemeinschaften, die bereit sind, einen Aufwand zu betreiben und eine konstruktive Diskussion zu ermöglichen. Diskussionen spielen sich auf scheinbar anonymen Plattformen ab, deren Vertreterinnen und Vertreter als Teil des Systems wahrgenommen werden, das nichts anderes zu tun hat, als die eigenen Interessen zu befriedigen.
Kurz: Social-Media-Anbieter agieren nicht neutral. Es entspricht ihrem Geschäftsmodell, intensive Diskussionen zuzulassen und Regeln kaum durchzusetzen. Ihre neoliberale Argumentation besagt, dass sich alle selbst vor Übergriffen schützen müssen.
Extreme Meinungen werden so belohnt. Noch immer ist die Erwähnung in Massenmedien ein klares Zeichen von Relevanz. Werden Kommentare abgedruckt oder zitiert, adelt sie das.
Kurz: Massenmedien wollen »Meinungspornografie«, weil sie ihnen Aufmerksamkeit, Klicks und damit auch Einnahmen bringt.
Geschickt taktierende Politikerinnen und Politiker äußern die entsprechenden Kommentare nicht selbst. Sie distanzieren sich gar: Aber es entspricht genau ihren Zielen, dass sie so geäußert werden.
Die Kommentare entsprechen einem gesellschaftlichen Bedürfnis, Komplexität reduzieren zu können. Die Morddrohung gegenüber einer Person ist die reduzierteste Form der Schuldzuschreibung und der Übergabe von Verantwortung. Die symbolische Auslöschung einer Person entspricht dem Bedürfnis nach monokausalen Erklärungen.
Wer eine Verbesserung der Kommentarkultur anstrebt, muss alle vier Faktoren berücksichtigen. Es ist also naiv, wenn Newsportale denken, sie hätten die Möglichkeiten in der Hand, gesittete Diskussionen zu ermöglichen. Aber genauso naiv wäre es, wenn sich die Verantwortlichen einredeten, dass nur externe Faktoren zu diesem Zustand führen.
(Quelle: schulesocialmedia.com)
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