Mittwoch, 3. September 2014

Ein Interview, das die Causa Geri Müller transparent macht

Der Grünen-Politiker Müller ist nicht der einzige, der mit Selfies Schlagzeilen macht. Medienrechtler Peter Studer schaut zurück und sagt, wie die Medien heute mit den neuen Kommunikationsmitteln umgehen.
Journalisten im Bundeshaus vor einer halb verschlossenen Türe.
Bildlegende: Studer: «Die Medien sind vor allem die richtige Instanz, um redaktionell moderierte moralische Kritik zu präsentieren.» Keystone/Symbolbild

Das ist geschehen

Geri Müller hat von seinem Büro aus während der Arbeitszeit einer Bekannten Nacktbilder von sich geschickt. Die Bekannte wurde darauf von der Stadtpolizei Baden befragt. Müller sagt, er habe die Polizei eingeschaltet, weil die Frau mit Suizid gedroht habe. Die Frau aber verneint letzteres. Müller habe sie aber gedrängt, die Fotos zu löschen.

Zur Person

Zur Person Peter Studer, 79, ist Jurist und Publizist. Von 1978 bis 1987 war er Chefredaktor des Zürcher «Tages-Anzeigers», von 1990 bis 1999 Chefredaktor des Schweizer Fernsehens. Danach stand er während sieben Jahren dem Schweizer Presserat vor.

SRF Online: Noch gilt die Unschuldsvermutung für Nationalrat Geri Müller. Und doch ist der Politiker schon jetzt stark geschädigt. Böse Medien?

Peter Studer: Wenn man alle Facetten dieser Geschichte liest, so wie sie der Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag», Patrik Müller, ausgebreitet hat, dann ist das öffentliche Interesse hoch. Erstens ist die betroffene Hauptperson, Geri Müller, ein prominenter vom Volk gewählter Politiker und Magistrat. Zweitens soll er Selfie-Nacktbilder in den Amtsräumen der Stadt Baden hergestellt haben. Drittens hat offenbar er die Polizei mobilisiert und die junge Frau nach Baden bestellt, wo sie von der Polizei einvernommen wurde. Viertens steht der Vorwurf des Amtsmissbrauchs und ein gegenseitiger Vorwurf von Nötigung im Raum. Nötigung muss von Amtes wegen untersucht werden.

Es bleiben aber alles Anschuldigungen.

Die Anschuldigungen allein hätten nicht genügt, wenn nicht Chefredaktor Patrik Müller betont hätte, er besitze die einschlägigen Bilder und Chat-Texte. Er hat das Fairnessgebot eingehalten und Geri Müller die Gelegenheit offeriert, sich zu den Indizien zu äussern (der Politiker verzichtete). Die Geschichte basiert auf belegten Behauptungen, nicht bloss auf Gerüchten. Das Vorgehen ist grundsätzlich in Ordnung.

Früher wäre so eine Geschichte gar nicht an die Öffentlichkeit gekommen. Heute ist wegen der neuen Kommunikationsmittel viel mehr viel schneller an grosse Publika zu bringen. Inwieweit verändert dies das Verhalten der Medien?

Es sind kaum mehr persönlichkeitsverletzende Berichte in den klassischen Schweizer Medien feststellbar als noch vor zehn Jahren. Allerdings ist die Versuchung für Journalisten hoch, denn die Menschen geben wegen der neuen Kommunikationsmittel viel mehr von sich preis als in der Vergangenheit. Es wäre früher nie vorgekommen, dass sich eine Angestellte im Bundeshaus auszieht, ihre Geschlechtsteile und dazu noch ihr Gesicht zeigt und dies dann auch noch via Twitter verbreitet.
Übertretungen von Seiten der Medien gibt es aber immer wieder.

Sicher. Am Sonntag haben alle über das sogenannte «Geri-Müller-Gate» geschrieben und gesendet, ohne Primärquellen zur Verfügung zu haben.
Es gab aber noch andere problematische Fälle an diesem Wochenende. Da hat zum Beispiel die «SonntagsZeitung» über den «ISIS-Fanclub der Massenmörder» eine ganze Seite publiziert. Schweizer Sympathisanten des grausamen Kalifats Islamischer Staat (IS) im Nahen Osten erschienen mit Initialen, Wohnort und Beruf im Bild. Einige Gesichter waren mit einem «Zündholz» nur notdürftig abgedeckt.
Eine ganze Reihe von Leuten wurden aufgrund von Facebook-Einträgen so dargestellt, dass man sie in einem grösseren Kreis von Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzten usw. erkennt. Gemäss Praxis des Presserats bedeutet ein Facebook-Eintrag nicht bereits Freigabe für ein unbeschränktes Empfängerpublikum der gedruckten Massenmedien. Anders, wenn eine Website zu Gewalt aufruft – dann werden die Verantwortlichen vom Staatsanwalt verfolgt – was schon mehrmals geschehen ist.

Gleichen sich die Schweizer Medien den angelsächsischen an, wenn es ums Privatleben von Politikern geht?

In der Schweiz stelle ich diesbezüglich nicht unbedingt Veränderungen fest. Im Gegenteil, beim «Blick» bemühen sich die Journalisten verstärkt um Relevanz. Es sind mehr politische Meldungen da, auch Meinungsäusserungen des «Blick»-Kaders gibt es öfter als früher.
Und was sagen Sie zu den anderen nationalen Medien wie «Tages-Anzeiger», «NZZ» oder SRF?

Da kann ich weder beim «Tages-Anzeiger» noch bei der «NZZ» noch beim Schweizer Radio und Fernsehen massive Veränderungen feststellen. Natürlich gibt es heute die Klatsch-Sendung «glanz & gloria», die ich selber als Chefredaktor des Schweizer Fernsehens nicht eingeführt hätte. Und es erscheinen Unterhaltungssendungen von zweifelhaftem Geschmack. Aber auch dort hält sich das Eindringen in geschützte Persönlichkeitssphären in engen Grenzen. Am ehesten gibt es eine Zunahme relativ billiger Unterhaltung.
Aber auch hier muss ich relativieren. Ich habe mir am Samstag zufällig «SRF bi de Lüt» angeschaut. Das war eine vielleicht etwas lange, aber sorgfältig geplante, interessante und locker moderierte Sendung über das Städtchen Weinfelden im Thurgau. Und offensichtlich wurde die Sendung mit grosser Anteilnahme der Bevölkerung produziert. Wenn man vom SRF Service public verlangt, dass sich der Sender abhebt von den kommerziellen Programmen, dann sind das gelungene populäre Versuche.

Politische Geschäfte werden zunehmend komplizierter. Köpfe und Parteien werden deshalb immer mehr zu moralischen Instanzen, die dem Wähler eine Richtung für seine Entscheidung vorgeben. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen diesem Fakt und der Art und Weise der Berichterstattung in den Medien?

Es gibt sicher einen Zusammenhang zwischen der Bedeutungsabnahme der klassischen Moralinstanzen wie Kirche, Elternhaus und Verein und dem Aufkommen von Ersatz-Plattformen. Da denke ich zuerst einmal an die Massenmedien. Diese nehme heute sehr viel öfter zu moralischen Fragen Stellung als noch vor 20 oder 30 Jahren – teils mit eigenen redaktionellen Kommentaren, mehr noch, indem sie «Experten» das Wort geben. Aber das gilt natürlich auch für die Politik. Wenn wir die Rolle der SVP in den letzten paar Jahren beobachten: Diese Partei versucht, an den klassischen Instanzen – Parteien, Parlament und Verwaltung vorbei – direkt Grundsatzentscheide via radikal vereinfachte Volksinitiativen zu erzwingen. Hier ist eine Klimaveränderung im Gange.

Sind Medien überhaupt die richtige Instanz, um moralische Kritik zu üben?

Die Medien sind vor allem die richtige Instanz, um redaktionell moderierte moralische Kritik zu präsentieren.

Das Interview führte Christa Gall.

 

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