Sonntag, 2. März 2014

Das Jugendstrafrecht müsste überarbeitet werden

Carlos erhält ein neues Sondersetting. Strafrechtler Martin Killias sagt: «Die Behörden hatten keine andere Wahl – es braucht ein schärferes Jugendstrafrecht.»


  Martin Killias (65) fordert ein schärferes Jugendstrafrecht. (Keystone)
 Ich zitiere Blick-online:
Straftäter Carlos (18) ist frei und erhält ein neues Sondersetting. Darüber informierte gestern der Zürcher Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper. Sogar ins Thaibox-Training darf Carlos wieder.
19'000 Franken pro Monat kostet die Sondermassnahme – 10'000 Franken weniger als bisher.

Keine andere Wahl

Für den St. Galler Strafrechtsprofessor Martin Killias (65) ist klar: Mit dem heutigen Jugendstrafrecht haben die Behörden gar keine andere Wahl: «Entweder sie behandeln Carlos im Rahmen eines Sondersettings oder sie müssen ihn frei lassen.»
Dann hätte Carlos auf der ganzen Linie gewonnen.

«Man kann nichts machen»

«Das Grundproblem bei unserem Jugendstrafrecht ist, dass man nichts machen kann, wenn ein Jugendlicher in einer Massnahme nicht kooperiert», sagt Killias.
Er fordert deshalb eine Verschärfung des Jugendstrafrechts: «Hinter einer Massnahme braucht es eine unbedingte, relativ lange Freiheitsstrafe, damit im Notfall nicht nur ein ‹Club Méditerranée-Programm› in Frage kommt.»

Gesetz muss revidiert werden

Dazu müsste das Gesetz revidiert werden. «Wir haben das mildeste und wohl auch teuerste Jugendstrafrecht Europas, aber durchaus nicht unbedingt das beste», sagt Kilias.
Killias macht den Behörden nur soweit einen Vorwurf, als dass sie das heute geltende lasche Jugendstrafrecht durch alle Instanzen hindurch verteidigen. «Dabei braucht es hier dringend eine Verbesserung.»
Auch dass man Thaiboxen in einem derart gewaltgeneigten Umfeld verordnet, kann er nicht nachvollziehen.

Dauer des Sondersettings offen

In der Zwischenzeit bleibt Carlos im Sondersetting des Kantons Zürich. Wie lange dieses dauern wird, konnte Justizdirektor Martin Graf gestern nicht sagen – nur so viel: «Grundsätzlich nicht länger als bis zum 22. Lebensjahr.» (pin)



«Bundesgericht segnet Querulantentum ab»

Der Zürcher Justizdirektor Martin Graf übt massive Kritik an den Schweizer Richtern im Fall Carlos. Das Bundesgericht habe mit seinem Entscheid die «Obstruktion eines Jugendlichen» belohnt.
«Müsste ich ein schlechtes Gewissen haben?»: Regierungsrat und Justizdirektor Martin Graf.
«Müsste ich ein schlechtes Gewissen haben?»: Regierungsrat und Justizdirektor Martin Graf.
Bild: Sophie Stieger

Haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Nein. Müsste ich?
Ein Fall in Ihrer Direktion lief ein halbes Jahr lang schief.
Wir machten Fehler, die wir korrigieren. Es war falsch, dass der Fall Carlos durch einen TV-Beitrag über die Jugendanwaltschaft öffentlich wurde und einen Medienrummel verursachte. Das erste Sondersetting war zu wenig sorgfältig ausgearbeitet: Es gab keine Psychotherapie und zu wenig Bildung, dafür zu hohe Kosten und sogar bezahltes Thaiboxen. Das Controlling war nicht genügend.
Das alles ist vor mehr als einem halben Jahr passiert. Seither lief alles richtig?
Nein. Als Carlos im August ins Gefängnis Limmattal kam, dauerte es zu lange, bis wir die Lösung mit dem Massnahmenzentrum Uitikon fanden. Dann haben wir Carlos’ Kooperationsbereitschaft falsch beurteilt. Vielleicht hätten wir mehr in die Kommunikation mit ihm und seinem Anwalt investieren müssen.
Wer trägt die Verantwortung dafür?
Ich und die Oberjugendanwaltschaft. Wir sind daran, das Controlling zu verbessern.
Einen zentralen Fehler verschweigen Sie: Laut Bundesgericht durfte man Carlos nicht einsperren.
Das Obergericht sah das anders. Wenn Juristen einen Fall derart unterschiedlich beurteilen, wird es schwierig. Wir haben Carlos für den offenen Vollzug vorgesehen. Das Massnahmenzentrum stellte richtigerweise die Bedingung, dass er – wie jeder andere – zuerst zur Beurteilung in die geschlossene Abteilung kommt. Hätte er kooperiert, wäre er heute im offenen Vollzug. Das Bundesgericht hat das alles ausgeblendet.
Was denken Sie über das Urteil?
Es ärgerte mich massiv, dass ein Jugendlicher Obstruktion mit Segen des Bundesgerichts betreiben kann. Ich meine nach wie vor, wir handelten richtig.
Sie hörten doch nur auf die vielen Stimmen, die Wegsperren forderten.
Das ist nicht wahr. Und es ärgert mich, dass Sie dies einfach so behaupten.
Sie können sich rechtfertigen.
Es wäre einfacher gewesen, direkt ein neues Sondersetting aufzustellen, was vertretbar gewesen wäre. Weder die Oberjugendanwaltschaft noch ich fanden dies langfristig die richtige Lösung.
Sie sagten zur geschlossenen Unterbringung, das Leben sei kein Wunschprogramm. Gilt das noch?
Aber sicher. Es ärgert mich sehr, dass ein Jugendlicher uns durch Obstruktion zu einer Massnahme zwingen kann. Dass das Bundesgericht Querulantentum absegnet. Und dass es einen Rechtsprofessor gibt, der Carlos’ Renitenz gut findet. Das ist nicht nach meinem Gusto.
Das Bundesgericht sagt, das Wegsperren im Fall Carlos sei willkürlich.
Dem Urteil sieht man an, dass mehrere Personen daran geschrieben haben. Vermutlich gab es Diskussionen unter den Richtern. Wir akzeptieren den Entscheid. Wir vollziehen ihn selbstverständlich. Aber es widerstrebt mir.
Jetzt steht man vor einem Scherbenhaufen und setzt eine Lösung um, die schon vor Monaten bestand.
Im Nachhinein wäre es gescheiter gewesen, Carlos aus dem Gefängnis Limmattal ohne Zusatzschlaufe in ein Sondersetting zu bringen. Es war für mich aber wichtig, mit dem Massnahmenzentrum einen nachhaltigen Weg zu beschreiten. Das ist eine erstklassige Einrichtung mit zwanzig Berufsausbildungsmöglichkeiten. Carlos hätte seinen Schulrückstand aufholen können. Kooperationsbereitschaft war nicht vorhanden. Ich weiss nicht, ob Angehörige und der Anwalt Carlos hier instrumentalisierten.
Welche Hinweise haben Sie?
Er stand in engem Kontakt zum Vater, der ihn in dieser Hinsicht nicht unbedingt unterstützte. Ich bedauere dies.
Sie schreiben von «ungeklärtem Gefährlichkeitspotenzial». Vorher hatte Carlos 13 Monate in einer Wohnung im Baselbiet gelebt, ohne Vorfälle. Veränderte ihn die Haft?
Ein psychiatrisches Gutachten von 2012 attestiert ihm eine hohe Rückfallgefahr. Daran hat sich nichts geändert. Das sieht auch das Massnahmenzentrum so.
Und wie wollen Sie jetzt die Sicherheit gewährleisten?
Da müssen Sie das Bundesgericht fragen. Es schreibt vor, Carlos in einem offenen Setting zu platzieren oder zu entlassen. Das war nicht mein Vorschlag.
Sie schieben die Verantwortung ab.
Nein. Aber im Sondersetting ist es schwieriger, die Sicherheit zu gewährleisten. Wir glauben, dass es mit einer Eins-zu-eins-Betreuung möglich sein sollte. Wir hoffen, dass es gut kommt.
Haben Sie je mit Jugendanwalt Hans-Ueli Gürber gesprochen, der Carlos am besten kennt?
Zur aktuellen Fallführung nicht, sonst schon. Er ist der Oberjugendanwaltschaft und nicht mir unterstellt.
Haben Sie je mit Carlos persönlich gesprochen?
Nein, das wäre ein Präjudiz für alle 1528 Gefangenen im Kanton Zürich. Das würde unerfüllbare Erwartungen wecken. Sonst wollen plötzlich auch andere Gefangene mit mir reden.
Welchen Einfluss übten Sie aus, als Carlos im August verhaftet wurde?
Meine Rolle beschränkte sich auf eine Mitbeurteilung. Die Oberjugendanwaltschaft schätzte die Situation ein und veranlasste die Festnahme. Natürlich wurde ich zuvor informiert, und ich unterstützte den Entscheid. Bei der Verlegung nach Uitikon verhielt es sich gleich.
Weshalb liessen Sie jemanden einschliessen, der seine Strafe verbüsst hatte und sich nichts mehr zuschulden kommen liess?
Beim Fall Carlos kochen alle Beteiligten ihr eigenes Süppchen. Fast niemand ging es dabei darum, ihn zu lösen. Den Medien schon gar nicht, bitte schreiben Sie das! Es ging um Positionen der Parteien, um politische Karrieren und um die Rehabilitierung der Eltern, die vielleicht ein schlechtes Gewissen haben.
Sie haben damit die Frage noch nicht beantwortet.
Carlos wurde zu neun Monaten Haft verurteilt, die zugunsten einer offenen Massnahme aufgeschoben wurden. Diese kann abgeändert werden. Bei Carlos waren mit der Medienkampagne und seinem Widerstand diese Umstände dafür aus meiner Sicht erfüllt.
Was halten Sie von Rücktrittsforderungen an Ihre Adresse?
Wenn andere auf mein Amt aspirieren, sind solche Forderungen logisch. Ich halte nichts davon, auch nicht beim Oberjugendanwalt. Ich bin mit seiner Arbeit bis auf wenige Punkte zufrieden. (Tages-Anzeiger)
KOMMENTAR:
Es dürfte nicht sein, dass sich Querulantentum lohnt.
Wenn Daniel Jositsch findet, die 29'000.-- Fr. Kosten pro Monat wären angemessen, wenn ein Jugendlicher wieder eingegliedert werden könne, so gilt es auch zu bedenken, dass die Opfer von Messerstechern leer ausgehen, wenn es darum geht, sie wieder einzugliedern. Wenn ältere Leute krank werden, müssen Sie zuerst alles verkaufen, bis sie vom Staat unterstützt werden. Carlos Eltern werden aber nicht verpflichtet, an die teuren Therapiekosten ihres Sohnes einen Anteil mit  beizutragen. Der Staat übernimmt die ganze Luxustherapie. Das leistet sich nur die Schweiz. 

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