Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey:
Hohe Popularität beim Volk - schlechte Akzeptanz im Parlament
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Bundesrätin Calmy-Rey wurde mit einem äusserst mageren Resultat zur Bundespräsidentin gewählt.
Die Sensation:
Seit 1939 (d.h. seit 67 Jahren) ist dies das schlechteste Wahlergebnis, obschon vor der Bundespräsdidentenwahl kein einziger Widerstand angemeldet wurde.
1939 wurde damals Pilet Golaz so schlecht gewählt, weil er sich bei den Nazis angebiedert hatte.
Man musste sich deshalb fragen, aus welchen Gründen der populären Bundesrätin eine Ohrfeige verpasst wurde.
War sie zu links?
Oder müssen wir uns auf die abgegriffenen Formel berufen die immer wieder bemührt wird: Das Geschlecht. Die schlechte Wahl könnte vor allem darauf zurückzuführen sein, weil die künftige Präsidentin eine Frau ist.
Wir haben die Magistratin jahrelang beobachtet, analysiert und kommentiert. Es fiel auf, dass sie sich im Parlament schlecht integriert hatte. Im Umgang mit den Medien war im Laufe der Zeit eine wesentliche Verbesserung zu beobachten. Jahrelang agierte sie zu forsch. Sie politisiert heute etwas bedachter. Wir prognostizieren ganz am Anfang:
Diese Frau wird im Bundesrat auf freundliche Art die Zähne zeigen (So kommentierten wir das aufgesetzte Standardlächeln). Frau Calmy-Rey und Christoph Blocher haben etwas gemeinsam: Sie provozieren beide und gehen für ihre unterschiedlichen Anliegen gradlinig nach vorn, ohne Rücksicht auf Verluste oder einen allfälligen Imageverlust.
Beide riskieren, anzuecken. Sie werden ständig kritisiert, haben Feinde und riskieren damit auch, bei Wahlen schlecht wegzukommen.
Es hat sich gezeigt, dass Micheline Calmy-Rey in Bern ihr persönliches Netzwerk vernachlässigt. Sogar ihre Mitarbeiter schütteln manchmal den Kopf über die eigenwillige Chefin. Es zeigt sich auf Bundesebene, dass diese Powerfrau - die bereits in Genf als Regierungsrätin mit der Zuschreibung "Cruelle" (die Schreckliche) leben musste - etwas bewegt.
Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund
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Die "öffentliche Diplomatie" von Micheline Calmy-Rey wurde zwar stark kritisiert. Sie hat aber der Schweiz eine starke Sichtbarkeit im Ausland gebracht.
Kürzlich erst hatte sie - nachdem sie schon öfters am Unilateralismus der US-Aussenpolitik gekratzt hat - öffentlich die "unverhältnismässigen" israelischen Angriffe auf den Libanon und den Gazastreifen beanstandet. Sie forderte auch die Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat.
Freimut, klare eindeutige Positionen und Überraschungscoups - wie die Überschreitung der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea - machten Calmy-Rey zwar zum "Liebling" der Medien und zur beliebtesten Bundesrätin.
Doch dieser direkte Stil des Politisierens ist vielen sauer aufgestossen. Kritik kommt namentlich aus der bürgerlichen Ecke, hauptsächlich von der Schweizerischen Volkspartei (SVP).
Angeprangert wird ihr "Aktivismus", der gegen die Neutralität der Schweiz gerichtet sei. Von Ueli Maurer (Präsident der SVP) wurde sogar gefordert, sie solle ihr Aussendepartement abgeben.
Der Spagat
"Einerseits ist die Bundesrätin sehr liebenswürdig, positiv, offen, schwer zu kritisieren. Andererseits ist ihre Politik, mit ihrer Idee der 'öffentlichen Diplomatie', der Neutralität der Schweiz sehr abträglich", meint Luzi Stamm. "Wenn wir so weiterfahren, verlieren wir den Ruf als neutrales Land."
Eine "statische" Vision der Neutralität, wischt die Chefin der Schweizer Diplomatie mit einer Handbewegung vom Tisch.
"Wer schweigt, wenn unschuldige Zivilisten zum Spielball militärischer Aktionen werden oder wer sich nicht gegen den Terror auflehnt, ist nicht neutral, sondern einverstanden", sagt sie immer wieder.
Aktion oder Selbst- Promotion?
Die Über-Mediatisierung der kleinsten Aktion unserer Aussenministerin ist für viele ebenfalls ein Aergernis. Die Kritiker fragen sich, ob es sich bei den öffentlichen Auftritte wirklich immer um reale Aktionen handelt oder ob es bei ihr nicht manchmal eher um gezielte PR-Aktionen geht.
Stur, gradlinig, leicht egozentrisch»
Micheline Calmy-Rey ist im Volk populär, polarisiert aber im Parlament. Wie Bundesrat Blocher macht ihr das Provozieren keine Mühe. Gegen Kritik scheinen Blocher und Calmy-Rey immun zu sein.
Der couragierter Stil von beiden findet angeblich bei der Bevölkerung Gefallen.
Das forsche Politisieren hat der Politikerin beim Volk nie geschadet. In Umfragen über die glaubwürdigsten Köpfe in der Politik nahm sie sogar eine Spitzenposition ein. Für die grosse Masse wirkt Micheline Calmy-Rey glaubwürdig.
Was beanstanden die Kritiker?
SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli nennt den Grund, um Micheline Calmy- Rey die Stimme zu verweigern. Die SVP werde Micheline Calmy-Rey deshalb nicht mit Applaus zur Bundespräsidentin wählen, weil die SP offen für die Abwahl von Christoph Blocher werbe, fand er vor der Wahl.
Den nationalkonservativen Kräften geht es jedoch um etwas anderes: Die von Calmy-Rey propagierte «aktive Neutralität» und ihr profiliertes Auftreten als Aussenministerin sind ihnen ein Dorn im Auge. Auch im Bundesrat kommt ihr forsches Vorgehen selten gut an: So musste das Kollegium Calmy-Rey mehrmals zurückpfeifen, etwa als sie sich wiederholt für die formelle Unabhängigkeit Kosovos aussprach oder israelische Völkerrechtsverletzungen im Libanonkrieg anprangerte.
Alles in allem habe Calmy-Rey «mehr Lob als Kritik» verdient, sagte CVP-Präsident Christophe Darbellay. Als Bundespräsidentin werde sie jedoch noch mehr gefordert, darauf zu achten, dass die Schweiz in der Aussenpolitik mit einer Stimme spreche.
Vier Politiker beschrieben die Aussenministerin in drei Stichworten:
Mörgeli: «Eigensinnig, sprunghaft, stur.»
Wyss: «Gradlinig, einnehmend, kämpferisch.»
Markwalder: «Eloquent, zielstrebig, stur.»
Darbellay: «Ehrgeizig, Dossier-sicher, leicht egozentrisch.»
Wir sehen aus diesen Kurzformeln, dass die unbequeme Politikerin nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Nur Adjektive, wie "stur" und "zielstrebig" dominieren.
Nach unserem Dafürhalten werden Calmy-Rey und Blocher die Wogen der Kritik überstehen.
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Ein Interview, das zu reden gab
Nach "Blick" fühlte sich Calmy-Rey von «10 vor 10» mies behandelt
Es war unübersehbar. Micheline Calmy Rey nervte sich am 12.12, nach der Wahl, bei einem aufgezeichneten Interview für das 10 vor 10 fürchterlich.
Das Interview wurde nicht live, sondern am Mittwoch kurz nach 20 Uhr im Bundeshaus-Studio aufgezeichnet. Micheline Calmy-Rey war müde, hatte Hunger und musste bei der Aufzeichnung aus technischen Gründen eine Viertelstunde warten. Im Studio soll sie gesagt haben: «Lange warte ich nicht mehr. Sonst gehe ich.» (Quelle: Blick)
Daniela Lager befragte die frischgewählte Bundespräsidentin. «10 vor 10» zeigte im Filmbeitrag Calmy-Reys Wirken als Aussenministerin. Die Bundesrätin hatte die Sequenzen zuvor gesehen. Aber sie realisierte nicht , dass nach der schlechten Wahl auch kritische Fragen gestellt werden mussten.
Blick fand, die Bundesrätin sei einseitig dargestellt worden.
Die Boulevardpresse zeigte seit Jahren vor allem die positiven Seiten der Aussenministerin.
Dem BLICK verriet Calmy-Rey: «Da wurde nicht ICH gezeigt. Ich lasse mich nicht auf solche Bilder reduzieren. Sie geben nicht meine Arbeit wieder.»
Wir haben die Sendung mehrmals angeschaut und kommen zu einem völlig anderen Schluss. Die Wut der Bundespräsidentin ist nicht berechtigt.
Daniela Lager hatte nachweisbar einen guten Job gemacht.
Sie hat beides - die Höhen und Tiefen der Aussenministerin - angesprochen,
Micheline Calmy-Rey antwortete im ersten Teil vorbildlich.
Nur am Schluss verlor sie die Nerven.
Als Profi - Journalistin musste Daniele Lager auch das schlechte Wahlresultat ansprechen Die Frage war ebenfalls berechtigt, ob sie als Bundespräsidentin weiterhin viel reise. Denn bisher sei es üblich gewesen, dass die Bundespräsidenten zu Hause bleiben.
Es war unverkennbar, dass diese Frage nicht antizipiert worden war und die Aussenministerin unbeherrscht reagiert hatte.
Wir teilen die Meinung des Blicks nicht, Micheline Calmy-Rey sei einseitig dargestellt worden. Der Filmbeitrag widerspiegelte Beides: Die Erfolge und Misserfolge der Aussenministerin.
Die Filmsequenz beweist, dass Bundesrätin Calmy-Rey im ersten Teil rhetorisch sehr geschickt geantwortet hatte:
Auf die Frage, was der Grund sein könnte, dass so viele Parlamentarier den Respekt verweigert haben sagte sie:
"Fragen Sie diese!"
Auch die Begründung des schlechten Resultates, beantwortete die Magistratin geschickt:
Das sei logisch, sagte sie, denn die beste Aussenministerin wäre jene, die in allen vier Landessprachen schweigt."
Erst auf die Frage nach den Auftritten der künftigen Bundespräsidentin reagiert Micheline Calmy-Rey ungehalten und sauer.
Sie liess durchblicken, dass sie auch als Bundespräsidentin ihren Einsatz für die Minderheiten weiter pflegen werde (Damit verriet sie indirekt, dass sie sich als Aussenministerin nicht an den bisherigen Modus halten werde).
Kommentar:
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass bei kurzen Auftritten meist nur jene Sequenz haften bleibt, bei der Emotionen im Spiel sind. Die guten rhetorischen Antworten werden meist überhört. Zu reden gab auch in diesem kurzen Interview nur noch jene Sequenz, die aussergewöhnlich war.
Erkenntnis:
Wenn eine Politikerin die aufgezeichnete Aussagen abgesegnet hat, darf sie nicht nachträglich sagen, sie sei unfair behandelt worden. Journalisten dürfen (müssen oft) unangenehme Fragen stellen.
Nachtrag vom 1.1.07:
Recherchen haben uns nun bestätigt, dass die angehende Bundespräsidentin Texte und Bilder des umstrittenen Interviews perönlich abgesegnet hatte. Damit ist es uns unverständlich, dass nachträglich so getan wurde, als sei die Bundesrätin unfair behandelt worden. Dass die Bundesrätin aus technischen Gründen etwas warten musste, das stimmt. Doch muss eine Magistratin fähig sein, mit Stress und Kritik umzugehen.
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Aufschlussreicher Kommentar über die Aussenministerin. Quelle: espace.ch:
Jenseits der Rhetorik und Symbolik betreibt die 61-jährige Calmy-Rey eine höchst pragmatische Aussenpolitik: In Verhandlungszimmern in Brüssel und in drei eidgenössischen Abstimmungskämpfen hat sie tatkräftig mitgeholfen, den bilateralen Weg zu sichern. Das ist der Weg, auf dem die Wirtschaft das Glück der Schweiz sieht. In Interviews verurteilt die sozialdemokratische Calmy-Rey furios EU-Versuche, die kantonale Steuerhoheit und damit den Schweizer Steuerwettbewerb anzutasten.
Im Wissen, dass die Schweiz noch viele Jahre nicht der EU beitreten wird, hat die Aussenministerin zudem eine sanfte Akzentverschiebung auf andere Weltregionen eingeleitet, um hier Türen für Schweizer Unternehmen und Produkte zu öffnen.
Auch jene Unternehmen, die am umstrittenen Ilisu-Stau-dammprojekt in der Türkei mitverdienen wollen, können mit dem Verständnis von Calmy-Rey rechnen. Auf jeden Fall sind aus dem Aussenministerium auffällig zurückhaltende Töne zu hören, wenn es um die Frage geht, ob der Bundesrat eine Exportrisikogarantie gewähren soll: Ein kategorisches Nein, so heisst es, würde in der Türkei als Affront verstanden und könnte die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen belasten.
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So viel Realismus und Pragmatismus passt in der SP nicht allen. Vor allem in der EU-Frage sind einige verunsichert: Sie wissen nicht, ob der von der SP in Wahlmanifesten geforderte Beitritt der Aussenministerin überhaupt ein Anliegen ist. Auch dass die Sozialdemokratin der EU im Kampf um die kantonalen Steuerpraktiken so deutlich die Zähne zeigt, missfällt vielen in der SP. Immerhin will die Partei mit einer Volksinitiative den Steuerwettbewerb eindämmen.
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Anderen in der Partei bereitet Calmy-Reys Führungsstil Sorge. Denn neben der charmanten Seite, die das Publikum sieht, gibt es auch die schwierige Seite, die Leute in ihrem engeren Umfeld zu spüren bekommen. Calmy-Rey wird als stur und extrem fordernd beschrieben, wobei nicht immer alle Forderungen erfüllbar seien. Zudem falle es der Chefin schwer zu delegieren, zu häufig kümmere sie sich um Details. Die SP beobachtet das Geschehen im Aussendepartement aufmerksam, um mit dem Feuerlöscher herbeizueilen, falls aus dem Rauch plötzlich ein Brand wird.
Noch etwas irritiert SP-Strategen. Calmy-Rey, so heisst es, sei im Bundesrat ziemlich isoliert. Es falle ihr schwer, Allianzen zu schmieden, zusammen mit Kollegen nach Kompromissen zu suchen und auf diese Weise über ihre Dossiers hinaus Einfluss zu nehmen.
Das schmerzt die SP umso mehr, als sich Moritz Leuenberger ebenfalls nur mit begrenztem Ehrgeiz in die Geschäfte der bürgerlichen Kollegen einmischt. Aber von all dem wird im Communiqué der SP zur heutigen Wahl der neuen Bundespräsidentin selbstverständlich nichts stehen.
Patrick Feuz