Vertiefender Hintergrundbeitrag zum Fall Jegge in der NZZ
Jürg Jegge
Wie die Reformpädagogik Täter schützte
Hinweise
auf sexuelle Übergriffe gab es auch in Embrach, dem Dorf von Jürg
Jegges Sonderklasse. Doch der Täter, gefeierter Pädagoge, nützte die
Skepsis geschickt, um sie zu seinem Vorteil umzumünzen.
1989, zehn Jahre nachdem er sich von Jürg Jegge gelöst hatte, suchte Andreas Guggenberger gemäss seinen Aussagen in der NZZ
Hilfe bei der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (ZFA). Auf der
Zweigstelle in Oerlikon sprach er mit seinem Berater über den
jahrelangen sexuellen Missbrauch durch Jegge. Doch nichts geschah.
Niemand half Guggenberger. Es wurde weder Anzeige eingereicht noch
untersucht. So blieben Jegges dunkle Seiten weitere 28 Jahre unentdeckt.
Jegge leitete bis zu seiner Pensionierung die Eingliederungsstätte
«Märtplatz» für Jugendliche mit psychischen oder sozialen
Schwierigkeiten, ohne dass jemand seinen Nimbus als Starpädagoge je
infrage gestellt hätte. Noch 2011 wurde Jegge von der von Marc Rich
gegründeten Stiftung Doron für sein soziales Engagement ausgezeichnet.
Diese
Immunität selbst gegenüber schwersten Anwürfen ist nicht die einzige
Parallele zu Gerold Becker, dem Reformpädagogen und Leiter der
Odenwaldschule, der sich wie Jegge systematisch an seinen Schülern
vergriff und doch bis zuletzt höchstes Ansehen genoss. Auch bei Becker
gab es lange vor seinem Fall im Jahr 2010 Hinweise auf seine Verbrechen.
1999 berichtete gar die «Frankfurter Rundschau» über jahrelangen
sexuellen Missbrauch, ohne dass der Artikel Wirkung zeigte. Bei Jegge
fehlten solche Berichte, doch es muss deutliche Indizien für seine
Übergriffe gegeben haben, lange vor Guggenbergers Hilferuf von 1989.
Bereits 1973 erliess die Schulpflege von Embrach, wo sich Jegges
Sonderklasse befand, eine Weisung mit zwölf Punkten, die es Jegge unter
anderem verbot, seine Schüler bei sich zu Hause zu unterrichten. Es ist
kaum vorstellbar, dass eine solche Anordnung ohne konkrete Anhaltspunkte
erlassen wurde.
Weshalb schaute niemand hin?
Auch
im Umfeld Jegges war dessen Schwäche offenbar bekannt: «Jürg sagte
damals, er habe Mühe, sich abzugrenzen», sagte Jegges langjähriger
Weggefährte Hans Wyler, ebenfalls Sonderschullehrer in Embrach, der «NZZ
am Sonntag». Philipp Gurt, als Heimkind selbst Opfer sexuellen
Missbrauchs und Autor des Buches «Schattenkinder», hat nach eigenen
Angaben Kontakt mit einem früheren Erzieher aus dem Umfeld Jegges, der
dessen Veranlagung als allgemein bekannt bezeichne. In seinem Bestseller
«Dummheit ist lernbar» beschrieb Jürg Jegge die Irritationen selber, zu
denen seine Person und seine Neigungen damals Anlass gegeben hatten:
«Was bin ich doch in den Augen der Leute nicht schon alles gewesen!
Bauernfänger, Kommunist, Homosexueller, Mädchenverführer, verspätet
Pubertierender.» Die Passage erscheint heute in ganz anderem Licht:
Warum hat damals niemand richtig hingeschaut?
Nicht
der Missbrauch an sich, doch die Umstände seien typisch für diese Zeit,
in der die radikale Reformpädagogik auch in der Schweiz auf wachsendes
Interesse gestossen sei, erklärt der Erziehungswissenschafter Jürgen
Oelkers. Er hat den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule untersucht.
Der antiautoritären Pädagogik mit Bezug zu Alexander Neill und Wilhelm
Reich kam laut Oelkers für die Täter dieser Epoche eine doppelte
Funktion zu. Einerseits ist dieser Lehre der Keim des sexuellen
Missbrauchs inhärent: Eine neue, durch Nähe und Liebe gekennzeichnete
Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sollte den alten, autoritären
Erziehungsstil ablösen. Und ihre Fundamentalkritik an den öffentlichen
Schulen verhalf den Vertretern dieser Reformpädagogik zu einer
Legitimation, die staatliche Kontrolle erschwerte. Missbrauch wurde
damit von Anfang an erleichtert. Gustav Wyneken, Alternativpädagoge der
ersten Stunde, wurde schon 1921 wegen sexuellen Missbrauchs in zwei
Fällen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Missbrauchen und sich gut dabei fühlen
«Die
Ideologie war der Pass, um Missbräuche zu begehen und sich dabei auch
noch gut zu fühlen», diagnostiziert Oelkers. Auch Jegge positionierte
sich wie Becker nicht nur selbst als Reformpädagoge, sondern berief sich
auf Vertreter dieser Ideologie, etwa den Darmstädter Pädagogen
Hans-Jochen Gamm. Das gesamte Gefüge in und um die Embracher
Sonderklasse erinnert an die Vorgänge an der Odenwaldschule: In beiden
Fällen untergruben die Täter weitab auf dem Land die bestehende
Eltern-Kind-Beziehung in scheinbar natürlicher, kindgerechter Umgebung.
So schafften sie die nötige Nähe und Abhängigkeit, um ihre Opfer
auszubeuten. Das alles geschah nicht nur nach aussen hin zum Wohl des
Kindes, sondern auch gemäss innerer Auffassung des Täters. «Ich war
damals der Überzeugung, dass eine derartige Sexualität einen Beitrag
leiste zur Selbstbefreiung und zur persönlichen Weiterentwicklung der
Schüler», sagte Jegge vorletzte Woche im Interview mit der NZZ.
Diese
Art der Reformpädagogik lieferte Jegge mehr als die passende
Rechtfertigung, an der er bis heute festhält: Sie verschaffte ihm den
bestmöglichen Schutz vor der Entdeckung seiner Taten. «Nach dem
Bucherfolg von Jürg Jegge ist nie mehr jemand auf die Idee gekommen,
dass etwas nicht stimmen könnte», erklärt Oelkers. Sein Bestseller
«machte Jürg zum Star», so beschreibt Markus Zangger die Situation in
seinem Buch. Jegge war unantastbar: Er galt in der Öffentlichkeit fortan
als Experte, Schriftsteller, Visionär, während niemand mehr hinter die
Mauern in Embrach blickte. «So gab es in seiner Schule ein verdrängtes,
scham- und angsterfülltes Schweigen, das vom Öffentlichkeitsglanz Jegges
überdeckt wurde», schreibt Guggenberger in der NZZ. Selbst die
anhaltende Skepsis gegenüber dem linken Lehrer in und um Embrach, wie
sie Zangger beschreibt, deutete der Täter zu seinen Gunsten um: Sie war
Beleg für die Biederkeit von Volk und Behörden.
Ideologische Schutzmauer
Das
System aus Gewalt, Macht und Abhängigkeit «basierte auf stabilen
Glaubenssätzen, auf einer nicht irritierbaren Pädagogik, die wie eine
ideologische Mauer benutzt wurde», schreibt Oelkers in einem seiner
zahlreichen Aufsätze mit Bezug auf Gerold Becker. Das sei bei Jürg Jegge
nicht anders gewesen. Die Zahl von 200 000 verkauften Exemplaren von
Jegges Bestseller deutet darauf hin, wie dick diese Brandmauer war.
Nicht nur die linken 68er waren begeistert, auch die NZZ zeigte sich
beeindruckt. Dieser Schutz hielt über Jahre und Jahrzehnte an: «Jegge
ist ein Mann, bei dem die Lebenslust, der Idealismus und vor allem die
Liebe zu den sogenannten Problemkindern mit jeder Gestik, jedem Satz zum
Ausdruck kommt», jubelte die «Weltwoche» noch vor einem halben Jahr.
Dabei sei «Liebe» im professionellen Verhältnis zwischen Lehrern und
Schülern kaum das richtige Wort, weil sie eine in diesem Rahmen
unangemessene Intimität und Übergriffigkeit nach sich ziehen könne, wie
die Fälle zeigten, meint Oelkers dazu.
Stets
suchen sich die Täter die Strategie, die zu ihrer Situation passt.
Reformpädagogische Konzepte waren nicht die Ursache für Jegges
Übergriffe. Doch sie verschafften ihm das theoretische Fundament und
Schutz. Jegge erhielt die Möglichkeit, seine Bedürfnisse im Windschatten
des Zeitgeistes auszuleben. Markus Zangger und Andreas Guggenberger
hatten keine Chance.
Missbrauchsopfer wollen Jegge nicht davonkommen lassen
Jürg Jegge hat die sexuellen Übergriffe auf mehrere seiner Schüler in
verschiedenen Medieninterviews öffentlich eingestanden. Zwar hat die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich in der vergangenen Woche ein
Vorabklärungsverfahren eingeleitet und beim früheren Lehrer eine
Hausdurchsuchung durchgeführt. Doch weil sich die Taten in den früheren
siebziger und achtziger Jahren abspielten, sind sie verjährt. Falls
keine neuen Missbrauchsfälle bekanntwerden, die sich nach 1987 zutrugen,
kann Jegge für sexuelle Übergriffe strafrechtlich nicht mehr zur
Verantwortung gezogen werden.
Opfer von sexuellem Missbrauch, die das Erlebte selber oft nach Jahrzehnten nicht vollständig verarbeitet haben, stossen sich aber nicht nur an der Verjährung, sondern auch am Aussageverhalten von Jegge. Dass dieser seine Taten mit Hinweis auf pädagogische Konzepte bis heute rechtfertige und sein Verhalten als Folge des Zeitgeistes darstelle, verletze die Persönlichkeit der Opfer, erklärt Carlo Häfeli, Anwalt und Präsident der Opferberatungsstelle «Weisser Ring Schweiz», auf Anfrage. In einem Brief an Jegge, der der NZZ vorliegt, verlangt der Weisse Ring von diesem eine Entschuldigung nicht nur für die verjährten Straftaten, sondern auch für «Ihre Äusserungen in der NZZ vom 7. April». Unterzeichnet ist das Schreiben von Häfeli sowie von Philipp Gurt, der als Heimkind selber missbraucht wurde und das Erlebte in seinem Buch «Schattenkinder» aufgearbeitet hat.
Verlangt wird, dass sich Jegge mit seinen Opfern zum Gespräch trifft und sich von zahlreichen Aussagen distanziert, die er zur Erklärung seiner Taten beigezogen hatte. Erwähnt ist beispielsweise Jegges These, wonach Sexualität mit Schülern «ein Beitrag zu deren Selbstbefreiung und persönlicher Weiterentwicklung» gewesen sein soll. Eingestehen soll Jegge auch, dass er durch seine Übergriffe den Buben in jedem Fall schwer geschadet habe.
Interessant ist, dass der Weisse Ring seine Forderungen nicht nur im Zusammenhang mit den verjährten Taten, sondern auch mit Jegges jetzigen Äusserungen stellt. Damit stellt sich die Frage nach Genugtuungszahlungen. Dies sei nicht das unmittelbare Ziel, sagt Häfeli. Angestrebt werde eine einvernehmliche Einigung mit Jegge. Gurt möchte, dass die Betroffenen aus ihrer Opferrolle kommen und sich gegen Jegge zur Wehr setzen: «Es darf nicht sein, dass seine Äusserungen stehenbleiben.» Er werde nicht ruhen, sagte Gurt, «bis die Sache in Ordnung ist».
Opfer von sexuellem Missbrauch, die das Erlebte selber oft nach Jahrzehnten nicht vollständig verarbeitet haben, stossen sich aber nicht nur an der Verjährung, sondern auch am Aussageverhalten von Jegge. Dass dieser seine Taten mit Hinweis auf pädagogische Konzepte bis heute rechtfertige und sein Verhalten als Folge des Zeitgeistes darstelle, verletze die Persönlichkeit der Opfer, erklärt Carlo Häfeli, Anwalt und Präsident der Opferberatungsstelle «Weisser Ring Schweiz», auf Anfrage. In einem Brief an Jegge, der der NZZ vorliegt, verlangt der Weisse Ring von diesem eine Entschuldigung nicht nur für die verjährten Straftaten, sondern auch für «Ihre Äusserungen in der NZZ vom 7. April». Unterzeichnet ist das Schreiben von Häfeli sowie von Philipp Gurt, der als Heimkind selber missbraucht wurde und das Erlebte in seinem Buch «Schattenkinder» aufgearbeitet hat.
Verlangt wird, dass sich Jegge mit seinen Opfern zum Gespräch trifft und sich von zahlreichen Aussagen distanziert, die er zur Erklärung seiner Taten beigezogen hatte. Erwähnt ist beispielsweise Jegges These, wonach Sexualität mit Schülern «ein Beitrag zu deren Selbstbefreiung und persönlicher Weiterentwicklung» gewesen sein soll. Eingestehen soll Jegge auch, dass er durch seine Übergriffe den Buben in jedem Fall schwer geschadet habe.
Interessant ist, dass der Weisse Ring seine Forderungen nicht nur im Zusammenhang mit den verjährten Taten, sondern auch mit Jegges jetzigen Äusserungen stellt. Damit stellt sich die Frage nach Genugtuungszahlungen. Dies sei nicht das unmittelbare Ziel, sagt Häfeli. Angestrebt werde eine einvernehmliche Einigung mit Jegge. Gurt möchte, dass die Betroffenen aus ihrer Opferrolle kommen und sich gegen Jegge zur Wehr setzen: «Es darf nicht sein, dass seine Äusserungen stehenbleiben.» Er werde nicht ruhen, sagte Gurt, «bis die Sache in Ordnung ist».
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen