Wenn Kinder zu Tyrannen werden
Der Bonner Psychiater Michael Winterhoff warnt:
Die Kinder werden zunehmend zu Partnern der Eltern und Lehrer gemacht – und das überfordert sie. Ein pädagogisches Debakel droht.
Mit Michael Winterhoff sprach Alexandra Kedves
Er ist die Supernanny auf Wissenschaftsniveau: Michael Winterhoff, Kinderpsychiater in Bonn, Tiefenpsychologe, zweifacher Vater – und Verfasser eines Buches, das an die Spitze der deutschen Bestsellerlisten geschnellt ist. Auch Japan und Korea haben sich schon die Rechte an «Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit» gesichert. Seine Verbindung von freudianischer Kindheitsdeutung mit neuen neurologischen Erkenntnissen zum Lernprozess («nicht reden, sondern üben») bietet vielen die lang ersehnte Erklärung für die Misere daheim und in den Schulen. Mangelnde Leistungsfähigkeit, mangelnde Sozialkompetenz, immense Anspruchshaltung: Was Universitäten, Schulen und Firmen bei ihren Zöglingen zunehmend feststellen, führt der Psychologe auf eine fatale Verschiebung der hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Familie zurück.
Die Klage «früher waren die Kinder braver, klüger, fleissiger» kennt man schon aus der Antike. Was ist heute anders?
Ich bin 1955 geboren, führe seit 1988 eine eigene Praxis – und meine Klientel hat sich in den letzten rund fünfzehn Jahren massiv verändert. Früher gabs vielleicht zwei, drei auffällige Kinder pro Schulklasse. Inzwischen sind es oft dreimal so viel, und die Störung, die vorliegt, ist meist die gleiche: ein Narzissmus, der vom Entwicklungsstand eines Zweijährigen zeugt. Alarmierend! Zweijährige als die Generation, die morgen am Ruder sein wird: Da sehe ich schwarz.
Woran machen Sie diesen Narzissmus fest?
Es zeigt sich schon beim ersten Gespräch: Ich betrete das Wartezimmer, der zehnjährige Patient in spe lümmelt am Boden und würdigt mich keines Blickes. Die Aufforderung, mir bitte zu folgen, muss ich mindestens einmal wiederholen. Und im Gespräch ist er cool wie ein kleiner Erwachsener oder wirkt wie behindert.
Das klingt nach ganz normalem Trotzkopf.
Mit zehn? Das ist nicht einmal mit fünf Jahren in Ordnung. Mit drei Jahren ist ein Kind in der Lage, den anderen, das Gegenüber zu erkennen. Die Fantasie, alle steuern zu können, und das Gefühl der eigenen Grenzenlosigkeit vergehen. Das Kind beginnt, Dinge für den übergeordneten Erwachsenen zu tun. Das reicht vom Tischdecken bis zum Hausaufgabenmachen. Meine These ist:
Das neurobiologische Training, das Menschen zum sozialkompetenten, leistungsfähigen und frustrationsresistenten Wesen macht, findet häufig nicht mehr statt.
Ihr Ziel ist der bindungsfähige Mensch mit gut entwickelter Gewissensinstanz, der in Arbeitskontexten funktioniert und seine Emotionen im Griff hat. Was ist da mit den Gefahren der (Über-)Anpassung?
Den Schritt zur echten Freiheit schafft man nur von gesichertem Terrain aus. Montessori-Schulen, allgemein Schulen mit offenen Konzepten und individuellem Förderansatz sind wunderbar für reife Kinder, die Regeln verinnerlicht haben. Für narzisstische Kinder sind sie meistens eine Katastrophe. Anpassung und wahre Kreativität sind keine Gegensätze.
Wieso hapert es heute mit der Reife?
Elternschaft hat sich historisch verändert. Bis zu den 68ern herrschte hier zu Lande ein autoritär-diktatorischer Erziehungsstil. Den will ich nicht schönreden: Da wurde viel kaputtgemacht, und heraus kamen devote Persönlichkeiten. Zwischen 1970 und 1990 gab es in den Mittelschichtsfamilien aber eine gute Synthese: Die Kleinkinder wurden angeleitet, den Jugendlichen wurde dann mehr Eigenverantwortung zugemutet. Ein Weg von Hierarchie zu Partnerschaft. Doch mit dem Wohlstand, der ja ironischerweise mit einer Verunsicherung einhergeht, verrutschte auch die Wahrnehmung des Kleinkinds. Es wurde Partner. Es soll alles haben: sich im Kindergarten je nach Neigung «verwirklichen», bei der Ferienwahl mitbestimmen usw.
Ist das so schlimm?
Noch schlimmer! Kinder im Alter von zwei, drei Jahren sind keine Persönlichkeiten. Sie werden erst welche unter richtiger Führung. Es ist tragisch für ganze Kindergenerationen, dass man Freud und Co. in die Mottenkiste geräumt hat: Sein Phasenkonzept hat durchaus Berechtigung; besonders Anna Freud hat Überzeugendes über den frühkindlichen Narzissmus als Durchgangsphase geschrieben. Neurologisch übersetzt: Die Kinder müssen früh ihre Sozialprägung trainieren, sozusagen eine «Nervenzelle Mensch» ausbilden. Ich kritisiere nicht die so genannte Overprotection oder die Wohlstandsverwahrlosung. Sondern immer mehr Kinder heute sind schlicht nicht gereift – und das gerade deshalb, weil sie nicht Kind sein durften!
Sie sind psychisch zweijährig – aber durften keine Kinder sein? Wie geht das?
Wie schwierig es ist, in der globalisierten Welt mit all den atomisierten Ich-AGs, die in einer Hire-and-Fire-Gesellschaft ohne sichere Werte durch den Alltag strampeln, psychisch zu überleben, sieht man am Nachwuchs. So viel Wohlstand und Wahlmöglichkeiten, gekoppelt mit so vielen Negativprognosen – in Sachen Umwelt, Arbeit, Sicherheit – hält kein Mensch aus. Wo liegt der Sinn? Also suchen manche nach dem Glück in der Elternschaft. Solche Eltern – nicht nur die Mütter – entwickeln eine symbiotische Beziehung zu ihren Kindern. Das kindliche Glück ist die letzte Perspektive, die ihnen noch bleibt in der diffusen Welt; der letzte Sinn. Diese Projektion aber führt zur Machtumkehr innerhalb der Familie. Diese Eltern tun alles, um geliebt zu werden – ja, sie brauchen es, dass das Kind sie im Hamsterrad seiner Bedürfnisse rennen lässt. Und sie bürden damit ihrem Kind eine Rolle auf, der es buchstäblich nicht gewachsen ist: Es ist eine Ersatzelternrolle.
Aber «Mutterliebe» ist seit dem 18. Jahrhundert ein Topos, und die Opferbereitschaft von Eltern gibt es schon in alten Mythen.
Darum geht es nicht. Die Kinder heute sind wie ein weiterer Arm der Mutter. Die Mutter merkt gar nicht, dass es stört, wenn ihr Fünfjähriger über Tische klettert, während man sich unterhält. Sie spürt seine Frechheit nicht. Vor zwanzig Jahren hatten Eltern, die in meine Praxis kamen, eine viel realistischere Einschätzung der Problematik und der Aussenwirkung ihrer Kinder als heute. Den Eltern fehlt das In-sich-Ruhen, das Abgegrenztsein und Sich-abgrenzen-Können. Sie leben mit ihren Sprösslingen in Symbiose. Der gesunde Instinkt wird dadurch überdeckt.
«Gesunder Instinkt», Narzissmus, Hierarchie. Das hört sich an wie aus einem anderen Jahrhundert. Ein Backlash?
Nicht in die schwarze Pädagogik. Aber in ein förderliches Verhalten – gestützt auf moderne Neurobiologie. Noch im 20. Jahrhundert liessen Eltern ihr Kind auch einmal warten und schreien. Mittlerweile wird man in Deutschland in der Strassenbahn beschimpft, wenn man nicht sofort das Fläschchen zückt. Überhaupt: die Flasche bei Dreijährigen oder sogar Fünfjährigen: Das hat es im Strassenbild vor zwei Jahrzehnten nicht gegeben. Diese Unsitte der Instant Gratification nagelt die Kinder in der narzisstischen Phase fest. Und die Schule tut ein Übriges dazu.
Was hat sich in der Schule verändert?
Alles: Man hat Gruppentische, hat offenen Strukturen mit wechselnden Betreuungspersonen, «Neigungsgruppen» ohne stabilen Klassenverband. Es gibt keine Hausaufgabenkontrolle, keine Noten, dafür Projektunterricht mit viel Freiarbeit, wo jedes Kind nach seinem Lerntempo arbeitet – oder eben nicht. Das ist fatal. Dazu sind gerade die unausgereiften, narzisstischen Kinder nicht in der Lage. Häufig steht hinter solchen Konzepten eine partnerschaftliche Sicht des Kindes: eine verkehrte Sicht! Für manche Lehrer ist dieser «Unterricht» zwar bequem. Für engagierte aber ist er ein Drama. Denn Grundschüler können nicht partnerschaftlich angeleitet werden. Die meisten brauchen klare Anweisungen und die enge Beziehung zu einer starken Lehrperson, für die sie arbeiten. Gehorsam ist nicht etwas Eingedrilltes, kein «Kadavergehorsam», sondern das natürliche Verhalten von Heranwachsenden gegenüber einer überzeugenden Leitfigur.
Was ist mit der Freude an der Sache?
Interessengeleitetes ernsthaftes Arbeiten kommt in der Entwicklung viel, viel später; den narzisstischen Kindern ist es gar nicht möglich. Der heutige Unterricht verstösst damit eklatant gegen neurologische Erkenntnisse. Also hat man einfach die Erwartungen heruntergeschraubt. In Nordrhein-Westfalen etwa musste ein Grundschüler früher 4000 Wörter schreiben können; heute sind es 1000. Was das bedeutet, sieht man an der Pisa-Studie. Und ein Symptom ist auch die zunehmende Suchtproblematik im Jugendalter: Das nicht ausgereifte Kind kann den Verführungen solcher Kurzzeitbefriedigungen viel schlechter widerstehen.
Was tun?
Mein Buch ist weder Schuldzuweisung noch Ratgeber. Aber Therapie ist möglich: Eltern wie Schulen müssen nachfassen.
Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008
Kommentar: In allen Beiträgen auf unseren Seiten in rhetorik.ch vertraten wir bei Themen, Erziehung, Jugendgewalt usw. seit Jahren die Meinung, dass weder die autoritäre noch die permissive Erziehung richtig ist. Unsere Botschaft war immer:
Wertschätzung des Kindes
Präsenz ist wichtig
auch die Konsequenz
und das situative flexible Verhalten
Eine geregelte Struktur und sinnvolle Spielregeln erleichtern die Erziehungsarbeit.
Eindeutig falsch finden wir:
Wenn Kinder sich selbst überlassen bleiben
Wenn Kinder überfordert werden, indem sie beispielsweise schon im Vorschulalter selbst über alles entscheiden müssen (Essen, Kleider, Bettruhe usw.)
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