Montag, 22. September 2008

Pietätlos? Respektlos?

Ich sah die Sequenzen in der Tagesschau anlässlich des Beitrages über den Zusammenbruch des Finanzministers. Man konnte beim Helitransport keine Person erkennen. Es waren jedenfalls keine Nahaufnahmen. Ich ging davon aus, dass es sich um Sequenzen aus dem Archiv gehandelt hatte - von einer Landung eines Rettungshelikopters nach irgend einem Unfall. Nachdem Bundespräsident Couchepin am Montag das FErnsehen der Respektlosigkeitbezichtigt hatte, könnte man eher bei den BLICK-Aufnahmen in der Montagausgabe von Pietätlosigkeit sprechen aber nicht bei den Tagesschausequenzen.

Ich zitiere 20 Min:

«Blick»-Bilder von Merz

Inselspital ermöglichte Paparazzi-Fotos

Nahaufnahme des Bundesrats im Koma: Der «Blick» zeigte heute ein Bild von der Einlieferung ins Inselspital Bern auf der Titelseite. Das Krankenhaus will sich bei den Angehörigen entschuldigen, da es die Einwilligung gab. Gegen den «Blick» klärt der Bund rechtliche Schritte ab.

Die heute grossflächig aufgemachten Bilder vom Helitransport von Hans-Rudolf Merz sorgen für Empörung. Amtskollege Pascal Couchepin zeigte sich heute Morgen verärgert: «Ich war negativ überrascht, als ich die Bilder von Bundesrat Merz sah», sagte er an einer Medienkonferenz. Die Aufnahmen zeigen Bundesrat Hans-Rudolf Merz, wie er am Sonntagnachmittag im Inselspital vom Rega-Helikopter in die Notaufnahme gefahren wird. Der Bund ist deshalb aktiv geworden und hat beim Inselspital interveniert. «Wir haben eine Erklärung verlangt, wie es möglich ist, dass Herr Merz heute auf der Titelseite des ‹Blicks› erscheint», sagt Bundesratssprecher Oswald Sigg.

Spital-Angestellter hilft Paparazzi

Das Aussergewöhnliche an den Paparazzi-Bildern: Sie waren erlaubt. Der Mediensprecher des Inselspitals hat die Aufnahmen ermöglicht. Markus Hächler hat Fotografen des «Blicks» sowie ein Kamerateam des Schweizer Fernsehens auf jenes Dach geführt, das eine perfekte Sicht auf Merz ermöglichte.

Der Inselspital-Mediensprecher gibt sich nun kleinlaut: «Das war mein Fehler. Ich hätte das verhindern müssen», sagte Hächler zerknirscht. Er habe mit den Journalisten ausgemacht, dass sie nur den Helikopter zeigen dürfen. «Offenbar ist das beim ‹Blick›-Fotografen nicht angekommen», kritisiert er. Hächler habe bisher gute Erfahrungen gemacht, muss nun aber eingestehen: «Ich war zu leichtgläubig. Ein zweites Mal wird das nicht passieren.» Das Inselspital entschuldigt sich als Reaktion auf die bundesrätliche Schelte. «Wir schreiben einen Brief an den Sohn von Bundesrat Merz, in dem wir uns entschuldigen», sagt Hächler.

Schritte gegen Ringier werden geprüft

Für Bundesratssprecher Sigg ist damit die Sache, was das Inselspital angeht, erledigt. Doch auch der «Blick» habe eine journalistische Verantwortung, Bilder nicht zu veröffentlichen, wenn sie die Privatsphäre verletzen. Noch hat der Bund nichts gegen den «Blick»-Verlag Ringier unternommen. Sigg sagt aber: «Wir überlegen uns mögliche Schritte. Eventuell werden wir diesbezüglich an den Presserat gelangen.»

Bei Ringier ist man sich keiner Schuld bewusst: «Es ist die Aufgabe von Boulevard, immer etwas näher heranzugehen», sagt Pressesprecher Stefan Hackh. Dabei sei Rücksicht auf die Person Merz genommen worden. «Die Bildauswahl für das Titelbild ist selbstverständlich diskutiert worden.» Hackh sieht sie als richtig an: «Herr Bundesrat Merz ist ja glückerweise nicht verstorben.»

Kommentar: Für mich besteht zwischen den Tagesschausequenzen und den BLICK-Bildern ein grosser Unterschied. Doch macht der Medienwirbel einmal mehr deutlich, dass man mit der Veröffentlichung von Unfallbildern sehr vorsichtig umgehen muss.

Nahaufnahmen bei BLICK:

Der Medienauftritt des Herzspezialisten nach der Operation

Ein Chirurg muss in erster Linie gut operieren können - doch muss er auch fähig sein, die Oeffentlichkeit sachgerecht, verständlich und mediengerecht zu informieren!

Ich zitiere Tagi-online:

«Der Herzstillstand dauerte vier Minuten»

Der Bundesrat liegt noch im Koma, wie Thierry Carell eben am Inselspital bekannt gab. In den nächsten 24 Stunden soll versucht werden, ihn zu wecken.

Ich habe den Medienauftritt von Thierry Carell am Bildschirm gesehen. Die mit Spannung erwarteten Informationen wurden von zahlreichen Fernsehstationen , Radiostationen und der Presse mitverfolgt. Ich fand den Auftritt überzeugend und glaubwürdig. Vor allem schätze ich, dass jedes Wort bedacht wurde. Es fehlten Spekulationen und Hypothesen. Man darf sagen: Es war ein vorbildlicher Auftritt. Die Person (das Menschliche), die Fakten (die Sachbezogenheit) und die Stimme - alles stimmte überein.

Zum Auftritt (Tagi online):

Heute Nachmittag und am Dienstag früh sollen die Medikamente reduziert werden, so dass Merz wieder zu Bewusstsein kommen könnte.

Bei Bundesrat Merz musste ein fünffacher Bypass am Herz eingeführt werden, was keine unübliche Operation sei, wie Carell betont.

Merz bleibt auf der Intensivstation

Carell rechnet damit, dass Merz einige Tage bis Wochen auf der Intensivstation bleiben muss.

Die Operation sei sofort durchgeführt worden, weil die Ärzte weitere Komplikationen befürchteten. Die Operation sei ohne grössere Probleme verlaufen.

Die Ärzte gehen nicht davon aus, dass andere Organe durch den Kreislaufkollaps Schaden genommen haben. Der Herzstillstand habe drei bis vier Minuten gedauert. Wie sich das auf die Hirnfunktionen auswirke, könne man noch nicht sagen.

Professor Thierry Carell informierte zuerst die Angehörigen, bevor er vor die Medien trat. Die Söhne und die Frau von Hans-Rudolf Merz haben jederzeit die Möglichkeit, den Bundesrat zu besuchen.

Der Gesundheitszustand von Bundesrat Merz stösst schweizweit auf grosses Interessen: Mehrere Radio- und Fernsehstationen berichten live von der Medienkonferenz im Inselspital.

Tagi online über den Auftritt:

Der beste Mann fürs Herz

Thierry Carrel ist der Star der medizinischen Königsdisziplin. Der Freiburger ist nicht nur ein herausragender Herzchirurg –

er ist auch ein begnadeter Kommunikator.

Finanzminister Merz in besten Händen.

1/4 Thierry Carrel am Sonntagabend vor den Medien, nur wenige Minuten nach gelungener Operation am Herzen von Bundesrat Hans-Rudolf Merz.

«Der Eingriff ist sehr gut verlaufen. Wir haben fünf Bypässe angelegt. Das ist eine normale Operation.» Ruhig und konzentriert erläutert Herz-Chirurg Thierry Carrel gestern Abend den Verlauf der heiklen Operation am Herzen von Finanzminister Merz. Kein Zweifel:

Hier spricht ein Spitzenmediziner, der die Sache vollkommen im Griff hat. Flüssig, wortgewandt und auch für Laien verständlich, beantwortet er die Fragen der Journalisten in seinem sympathischen Welsch-Schweizerdeutschen Dialekt. Es ist nicht zu übersehen: Dieser Arzt verfügt nicht nur über herausragende medizinische Fähigkeiten, sondern ist auch in der Kommunikation ein Ausnahmekönner. Für seinen Auftritt erhält Carrel Bestnoten: «Er zeigte, dass man auch unter Druck verständlich und kompetent informieren kann», findet Marcus Knill, Experte für Medienrhetorik.

Bei Carrel ist Bundesrat Merz in besten Händen: Der 48-Jährige hat schon über 10'000 Eingriffe am offenen Herzen vorgenommen. Ganz untypisch für seine Zunft zeichnet den ehemaligen Jesuitenschüler seine Bescheidenheit aus: Er redet nicht der Allmacht der Medizin das Wort, sondern beklagt vielmehr das Fehlen der Demut bei seinen Berufskollegen. Jeder Eingriff hat nach Auffassung Carrels auch ein religiöses Momentum und bedarf des Respekts vor der Natur. «Nicht alles was machbar ist, ist sinnvoll», erklärte er unlängst in einem Interview. Die Rolle der Ärzte beinhalte auch, ab und zu die Handbremse zu ziehen – selbst wenn das in der Spitzenmedizin nicht gerne thematisiert werde.

100 Stunden pro Woche im Einsatz

Carrel führt seit zehn Jahren die Herz- und Gefässklinik des Berner Inselspitals – und das äusserst erfolgreich: Das Herzzentrum Berns hat heute dem Unispital Zürich den Rang abgelaufen. Inzwischen werden in der Klinik der Hauptstadt mehr komplexe Operationen wie Bypässe, Herzklappen oder Ersatz der Hauptschlagader durchgeführt, als überall sonst in der Schweiz. Ein weiteres Beispiel für den Führungsanspruch: Im Januar 2008 setzte ein Team Carrels bei schlagendem Herzen eine künstliche Herzklappe seitlich durch die Brustwand ein; eine Premiere hierzulande. Der Aufstieg Berns mit Carrel als Chef lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: 2007 führte das Spital 1280 grosse Herzeingriffe durch, das sind fast 600 mehr als noch vor zwei Jahren. Seiner Klinik widmet sich Carrel rund um die Uhr: Bis zu 100 Stunden pro Woche ist der Chefchirurg im Einsatz. Er operiert, leitet die Klinik, die 15 Fachärzte und 16 Assistenzärzte beschäftigt, und bildet Studenten aus.

Zusatzbemerkung: Ich werde dieses gute Beispiel zur Veranschaulichung in den Seminaren gerne zeigen. Es gibt keine Hypothesen noch Spekulationen. Dennoch erfahren wir konkrete Details - wann beispielsweise das Aufwachprozedere eingeleitet wird.

Ein Herzchirurg als begnadeter Kommunikator.

Nachtrag nzz online 25. Sept 08:

Merz' Gesundheitszustand sehr zufriedenstellend

Aus dem Koma erwacht und gut ansprechbar – Ärzte optimistisch

Herzchirurg Carrel überbringt die gute Nachricht.
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Herzchirurg Carrel überbringt die gute Nachricht. (Bild: Reuters)

Nachtrag 10. Okt.08:

Unverständlich für mich, dass Aerzte und Spitäler den mediengewandten Chirurgen als Selbstdarsteller nachträglich abqualifizieren wollten. Aus meiner Sicht purer Neid und pure Eifersucht. Es ging bei den Kritiken bestimmt auch um die Reputation ihrer Spitäler. Zürich sah sich nach der erfolgreichen Operation nur noch im zweiten Glied. Ich habe dieses Konkurrenzdenken auch einmal unter Sportärzten erlebt. Sobald jemand von den Medien mehr zum Zuge kommt - weil er einfach und verständlich die komplizierten Sachverhalte darlegen kann - gibt es sofort Neider, die den Kollegen und "Medienstar" vom Sockel stossen wollen. Die kritischen Bemerkungen im Fall Carell enttäuschten mich. Sie machten mir bewusst, dass es auch in der Weisskittelgilde Neider gibt, die sich zu Bemerkungen hinreissen lassen, die nicht nur fragwürdig sind. Sie entsprechen dem Niveau von Kindern im Sandkasten.