Freitag, 23. September 2011

Kravalle und Medien


Die Event-Chaoten freuen sich, wenn sie zu Hause am Bildschirm ihre Aktionen nochmals bewundern können. Deshalb gibt es Stimmen, die möchten solche Bilder lieber totschweigen. Die Medien haben jedoch eine Informationspflicht. Was tun?


Roger Blum findet in einem Tagi Interview (Mein Kommentar GELB):

 



Die Krawalle in Zürich sind derzeit ein grosses Thema. Bereits wird die nächste illegale Party angekündigt. Haben Medien die Pflicht, das zu melden oder sollten sie darauf verzichten, um dem Anlass nicht noch mehr Publizität zu verleihen?


Zwei Grundsätze stehen sich gegenüber. Einerseits sollen die Medien berichten, nicht schweigen. Es ist ihre Aufgabe, relevante Informationen weiterzugeben und nicht zurückzuhalten. Sie müssen vor allem begründen können, warum sie über etwas nicht berichten. Es gehört zur Grundaufgabe der Medien, die Krawalle kritisch zu behandeln und zu reflektieren. Andererseits sollen Medien Gewalt nicht fördern oder gar verherrlichen. Wenn ein Medium detailliert bekannt gibt, wann und wo eine solche Veranstaltung stattfindet, dann wirkt das wie ein Plakat. In einem solchen Fall kann man sich vorwerfen lassen, dass man zur Gewalt beitrage.


Kommentar: Medien dürfen relevante Informationen nicht verschweigen. Wenn sie jedoch auf Gewaltaktionen mit Ort und Datum hinweisen, so müssen sie sich bewusst sein, dass sie zu Steigbügelhaltern der Akteure werden.


Am Samstag erhielten alle, die die Tagi-App aktiviert hatten, eine Push-Meldung, als die Krawalle ausbrachen. Dadurch bestand die Möglichkeit, dass Junge spontan an den Ausschreitungen teilnahmen. Ist ein solches Risiko gerechtfertigt oder sollte man auf solche Pushs verzichten?


Eine solche Nachricht hat nicht nur einen Wert für potenzielle Krawall-Teilnehmer. Es ist auch eine wichtige Information für all die Leute, welche die Gegend meiden wollen – ähnlich wie Autofahrer, die vor einem Stau am Gotthard gewarnt werden wollen. Deshalb ist der Nachrichtenwert hoch.



Kommentar: Informationen während der Gewalttaten, die relevant sind für die Bevölkerung, gehören zur Informationspflicht. Der Nachrichtenwert ist gross.


Überwiegt der Nachrichtenwert das Risiko, Krawallanten möglicherweise «anzulocken»?


Die Empfänger der Push-Nachrichten sind ein sehr gemischtes Publikum. Neben der relativ kleinen Gruppe, welche von den Krawallen angezogen wird, ist die Gruppe jener, die sich für die Information interessiert, um nicht in die Ausschreitungen zu geraten, ungleich grösser. Deshalb überwiegt der Nachrichtenwert klar.


Solche Ereignisse liefern jeweils viel Bildmaterial. Sollen diese Fotos gezeigt werden?


Hier gilt das Gebot der Zurückhaltung. Bei Horror-Bildern von Schwerverletzten oder gar Toten und solchen, die die Würde des Menschen herabsetzen, ist grösste Zurückhaltung geboten. Wenn aber Autos umgekippt werden oder Container brennen, dann kann das bei den einen Begeisterung, bei den andern aber Entsetzen auslösen. Es ist auf jeden Fall eine allgemeine Information, die zunächst neutral ist. Ein solches Bild zeigt: «So ist es passiert.»


Kommentar: Bei den 1. Mai Unruhen wurden früher die Gewalttaten der Autonomen ausgeklammert - die Einsätze der Polizei mit Filmsequenzen hingegen mit Nahaufnahmen (Gummigeschosse, Tränengaseinsätze, Verhaftungen, verletzte Chaoten) gezeigt hatten. Die Polizei sah sich nach zahlreichen "einseitig gefärbten Bildberichten" genötigt, die Gewalttaten selbst neutral zu dokumentieren - mit fix eingerichtete Kameras, die alles ohne Schnitt oder Zoom aufgenommen hatten. Ich erinnere mich noch als der Informationschef der Stadtpolizei diese neutral gefilmten Sequenzen den Behörden vorgeführt hatte. Da sprach die Behörde nicht mehr von einem unverhältnismässigen Einsatz der Polizei. Es ist wichtig, dass möglichst neutral gezeigt wird, was effektiv abgelaufen ist (Fakten). Ich hatte damals die Polizisten bewundert, weil sie sich ins Gesicht spucken liessen und ohne auszurasten, sich als "Bullenschweine" beschimpfen liessen. Den Betrachtern wurde bewusst, dass es auch verletzte Polizisten gab, die von Pflastersteinen getroffen worden sind.



 
Derzeit kursieren bereits wieder SMS, die zur nächsten illegalen Veranstaltung aufrufen. Sie kommen aus verschiedenen Gruppen oder werden von Einzelpersonen verschickt. Die Urheber sind kaum auszumachen, die Quellen diffus. Soll man deshalb darauf verzichten, die Infos weiterzugeben?


Solange man als Medium einen Grund hat, etwas zu verbreiten, soll man relevante Informationen öffentlich machen. Dabei ist man in derselben Situation wie in kriegerischen Konflikten: Die Parteien sind Interessengruppen, bei denen man nie weiss, ob etwas stimmt. Sie neigen dazu, die eigene Position zu beschönigen und die Gegner schlecht zu machen. Wichtig ist die Distanz zu den Quellen – und dass man sie immer angibt, also einen Hinweis macht, woher die Infos stammen.


Wird man als Medium durch die breite Berichterstattung irgendwann Teil der Ereignisse?


Dieser Vorwurf wurde dem Tagi in den 80er-Jahren gemacht, als er die Vollversammlungen der Jugendbewegung besuchte und darüber berichtete. Nur weil andere Medien gar nicht darüber berichteten, war indessen der Vorwurf nicht richtig. Er ist dann berechtigt, wenn ein Medium durch die Berichte zu einem PR-Organ wird. In diese Richtung ging im Mai 1968 die Berichterstattung des Radiosenders Europe 1, der in Paris von Privatwohnungen aus über die Proteste berichtete und in dem die Studentenführer regelmässig auftreten und die nächste Demo ankündigen konnten. Aber das wurde auch dadurch begünstigt, dass die öffentlichen Sender nicht direkt aus dem Quartier latin berichten durften. Durch Europe 1 wurde halb Europa auf dem Laufenden gehalten, was in Paris passierte.


Solange man kritisch Distanz hält, gerät man nicht in die Lage, Teil der Ereignisse zu werden.
(Tagesanzeiger.ch/Newsn