Dienstag, 24. Juni 2008

Simonis-Klage: Eine lehrreiche Paparazzi Geschichte

Die Persönlichkeitsrechte und die Rechte für Journalisten, Photos von Promis zu veröffentlichen - ein Dauerthema. Es geht um einen Interessenkonflikt.

Spiegel-online publiziert heute eine aufschlussreiche Geschichte zu dieser Thematik:

Ex-Ministerpräsidentin Simonis: Ohne Erfolg in Karlsruhe
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DDP

Ex-Ministerpräsidentin Simonis: Ohne Erfolg in Karlsruhe

PAPARAZZI-STREIT

Simonis verliert gegen "Bild"

Shoppen mit Heide ist okay - und sie dabei zu fotografieren, kann sogar von zeitgeschichtlicher Relevanz sein. Ex-Ministerpräsidentin Heide Simonis ist mit einer Klage gegen Fotos in der "Bild"-Zeitung gescheitert, die die Politikerin nach ihrer Abwahl beim Einkaufen zeigen. Manchmal kommt auch einer Shopping-Tour zeithistorische Bedeutung zu.

An den unmittelbar nach Heide Simonis' Abwahl aufgenommenen Bildern, die sie beim Einkaufen zeigten, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am Dienstag.

"Wir sind der Auffassung, dass sich ein Politiker in einer solchen Situation auch unter Berufung auf sein Persönlichkeitsrecht nicht ohne weiteres der Berichterstattung entziehen kann", sagte die Senatsvorsitzende Gerda Müller in Karlsruhe.

Heide Simonis (SPD), Ex-Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, sah ihr Persönlichkeitsrecht verletzt, weil die "Bild"-Zeitung unter der Überschrift "Danach ging Heide erst mal shoppen" Fotos gedruckt hatte, die Simonis Stunden nach ihrer Niederlage am 27. April 2005 beim Shopping in Kiel zeigen.

Auch am Tag darauf warteten Fotojournalisten vor ihrer Wohnung und folgten ihr mit dem Auto. Simonis brach daraufhin einen geplanten Privatbesuch auf halber Strecke ab und fuhr wieder nach Hause. Die zuvor entstandenen Fotos wurden bis heute nicht veröffentlicht. Simonis klagte aber auf Auskunft, was auf den Aufnahmen zu sehen sei und welche Fotos vom Tag nach ihrer Abwahl sich noch im "Bild"-Archiv befinden.

Das Kammergericht Berlin sprach ihr im Juni 2006 diesen Anspruch auf Auskunft zu. Der BGH entschied dagegen in einem Grundsatzurteil, dass die Presse nicht verpflichtet ist, Prominenten unveröffentlichte Fotos zur Kenntnis vorzulegen, die ohne deren Einwilligung im Privatbereich entstehen. Auch die Klage auf Herausgabe der bisher unveröffentlichten Paparazzi-Fotos blieb damit erfolglos. BGH-Vizepräsidentin Müller machte deutlich, dass Politiker unter Umständen auch Privatfotos dulden müssen: "Hier geht es um einen Vorgang von historisch-politischer Bedeutung." Zwar müssten die Umstände berücksichtigt werden, unter denen die Aufnahmen zustande gekommen seien. Doch werde die Ex-Politikerin in einer unverfänglichen Situation gezeigt, die wohl nicht den Kernbereich der Privatsphäre betreffe.

Simonis' Anwalt Joachim Kummer hatte seine Klage auf das Vorgehen der Fotografen gestützt, und vor Gericht ausgeführt, wie der Ex-Ministerpräsidentin nachgestellt worden sei. Simonis sei vom Landeshaus über das Einkaufszentrum bis zum Wohnhaus regelrecht "observiert" worden. Ihren Fahrer habe sie deshalb zu "ungewöhnlichen Fahr- und Wendemanövern" veranlasst. Schließlich hätten die Fotografen sie im Kieler Einkaufszentrum "Sophienhof" bedrängt, "ständig wetterleuchteten die Blitzlichter", weswegen Simonis sogar auf die Anprobe eines Hosenanzugs verzichtet habe. Das Verhalten der Fotografen sei "skandalös" und nicht durch die Kontrollfunktion der Medien gerechtfertigt. "Die Presse soll der Wachhund sein, sie soll nicht der Jagdhund sein." "Bild"-Anwalt Thomas von Plehwe unterstrich dagegen die historisch-politische Bedeutung der Aufnahmen. Er erinnerte daran, dass der 27. April 2005 als Schlusspunkt einer schweren Niederlage von Simonis zu betrachten sei, da nur wenige Wochen zuvor deren Wiederwahl im März spektakulär gescheitert war:

"Wir haben es hier mit einem zeitgeschichtlichen Augenblick zu tun."

Zudem habe sich Simonis zuvor mehrfach mit ihren privaten Konsumgewohnheiten - etwa dem Besuch von Flohmärkten oder dem Sammeln von Tassen - selbst in der Presse präsentiert.

Simonis hat ein durchaus zerrüttetes Verhältnis zur "Bild". Im Juli 2006 zierte die Titelseite der "Bild" eine halbseitige Gegendarstellung der SPD-Frau. Darin widersprach der Anwalt der ehemaligen Ministerpräsidentin der "Bild"-Schlagzeile aus dem Mai: "Heide Simonis jetzt ins Dschungel-TV?"

Der Hintergrund: Im Frühjahr des Jahres war Simonis mäßig erfolgreich durch die RTL-Sendung "Let's Dance" getanzt, woraufhin "Bild" sie als "Hoppel-Heide" verhöhnt hatte. Zu "Dschungel-Heide" wollte die Ex-Politikerin nicht auch noch werden: Das Blatt hatte eine Fotomontage gezeigt, in der Simonis' Gesicht mit Maden bedeckt war. Ein paar Seiten weiter fanden sich Montagen, die Heide Simonis im Bikini, mit Jauche beschmiert oder auf einem elektrischen Bullen reitend zeigten.

Kommentar: Einmal mehr sehen wir bestätigt, dass man rechtzeitig die Grenze zwischen Privatheit und Oeffentlichkeit ziehen muss. Simonis war es, welche die Grenze verschob und bereits bei der RTL-Sendung "Let's Dance" öffentlich getanzt hatte, obschon sie nachträglich behaupten wollte, sie hätte nicht zugesagt.

Ferner zeigt sich , dass man mit einer Klage alte Geschichten nur unnötigerweise aufwärmt. Deshalb muss man sich gut überlegen, ob wir eine Klage einreichen wollen, weil dies kontraproduktiv sein kann. Ohne Simonis jüngste Intervention würden nämlich ihre alten Geschichten in diesem Blog auch nicht noch zusätzlich im Netz "verewigt".

1943 soll es in der Armee an der selben Stelle in der Kander schon einmal einen Schlauchbootunfall gegeben haben.

Quelle Blick- online:

Erinnerungen: Robert Rotzetter mit der «Schweizer Illustrierten»: Das Drama ­erinnert ihn an den Tod seines Bruders Josef. (Charly Rappo)

«Als ich die Fotos in den Zeitungen sah, war mir sofort klar: Das Armeeunglück vom 12. Juni passierte an genau der gleichen Stelle, an der auch mein Bruder im August 1943 ertrank. Oberhalb der Brücke zwischen Spiezwiler und Wimmis.» Robert Rotzetter (71) aus dem freiburgischen Rechthalten ist noch heute tief aufgewühlt, wenn er sich an den Tag erinnert, an dem der Dorfpfarrer die Todesnachricht vom älteren Bruder Josef überbrachte, der damals 21 Jahre alt war. Die Mutter habe «määrterlich prüelet», qualvoll geheult, erinnert sich Rotzetter, der in der zitternden Hand ein Foto hält, das den toten Bruder aufgebahrt in der heimischen Stube zeigt. «Ich kann den Schmerz der Angehörigen nachvollziehen und auch ihre Enttäuschung über die Armee.» Dass man nach 65 Jahren immer noch nichts dazugelernt habe, dass immer wieder junge Männer wegen «Dummheit, Sturheit und Blödheit von Vorgesetzten» sterben müssen, will ihm einfach nicht in den Kopf. Tatsächlich gleichen sich die beiden Unfälle bis ins Detail. Auch im August 1943 führte die Kander viel Wasser, am Vorabend waren im Oberland schwere Gewitter niedergegangen. Trotzdem befahl der Zugführer der Unteroffiziersschule in der Grenadierkompanie 1 seinen Leuten, den tosenden Fluss zu überqueren, und zwar in Vollpackung. «Den Namen des Zugführers will ich nicht nennen. Es geht mir nicht um persönliche Abrechnung», sagt Rotzetter. Aber dass er die Militärkarriere ungehindert fortsetzen konnte und danach im Freiburgischen «eine schöne Stelle» bekam, ärgert ihn noch heute. Das völlig unzureichend gesicherte Boot, in dem sein Bruder Josef sass, kenterte. Drei Soldaten stürzten ins Wasser. Zwei konnten sich an einem Seil ans Ufer ziehen. «Auch Josef hielt sich noch am Seil fest, erzählten mir seine Kameraden später. Aber dann riss ihn der Fluss mit.» Auch Josef habe man lange nicht gefunden, erzählt Rotzetter weiter. Obwohl zwei Kompanien nach ihm suchten. Der Kommandant habe nach Einstellung der Suche aber persönlich weiter die Kandermündung mit einem Schleppanker abgefahren. «Irgendwann erfasste der Anker dann die Packung zwischen dem Geröll und Josef konnte geborgen werden.» «Warum nur hat der Zugführer die Übung trotz Hochwasser nicht verschoben? Warum waren die ­Soldaten nicht gut gesichert?» Die Fragen Robert Rotzetters sind die gleichen wie die der Hinterbliebenen von heute. Und vor allem die eine zentrale Frage: «Warum duldet die Armee immer wieder tödlichen Leichtsinn?»

Starb in Uniform: Die Todesanzeige von Soldat Josef Rotzetter 1943. (Charly Rappo)

Der Unterschied: Der Unfall aus dem Jahre 43 ereignete sich bei einer Uebersetzübung der Armee. Das Bootsunglück mit den fünf Toten ist jedoch durch eine unbedachte, "unbewilligte" Aktion eines übereifrigen Kommandaten zurückzuführen. 1943 ging es nicht um eine truppenfremde "Plauschfahrt", die nachträglich vom VBS als Teamförderungsübung kaschiert wurde.

Wenn Kinder zu Tyrannen werden

Ein lesenswertes Interview - Tagi online gelesen:

Der Bonner Psychiater Michael Winterhoff warnt:

Die Kinder werden zunehmend zu Partnern der Eltern und Lehrer gemacht – und das überfordert sie. Ein pädagogisches Debakel droht.

Michael Winterhoff.
Michael Winterhoff.

Mit Michael Winterhoff sprach Alexandra Kedves

Er ist die Supernanny auf Wissenschaftsniveau: Michael Winterhoff, Kinderpsychiater in Bonn, Tiefenpsychologe, zweifacher Vater – und Verfasser eines Buches, das an die Spitze der deutschen Bestsellerlisten geschnellt ist. Auch Japan und Korea haben sich schon die Rechte an «Warum unsere Kinder Tyrannen werden oder: Die Abschaffung der Kindheit» gesichert. Seine Verbindung von freudianischer Kindheitsdeutung mit neuen neurologischen Erkenntnissen zum Lernprozess («nicht reden, sondern üben») bietet vielen die lang ersehnte Erklärung für die Misere daheim und in den Schulen. Mangelnde Leistungsfähigkeit, mangelnde Sozialkompetenz, immense Anspruchshaltung: Was Universitäten, Schulen und Firmen bei ihren Zöglingen zunehmend feststellen, führt der Psychologe auf eine fatale Verschiebung der hierarchischen Verhältnisse innerhalb der Familie zurück.

Die Klage «früher waren die Kinder braver, klüger, fleissiger» kennt man schon aus der Antike. Was ist heute anders?

Ich bin 1955 geboren, führe seit 1988 eine eigene Praxis – und meine Klientel hat sich in den letzten rund fünfzehn Jahren massiv verändert. Früher gabs vielleicht zwei, drei auffällige Kinder pro Schulklasse. Inzwischen sind es oft dreimal so viel, und die Störung, die vorliegt, ist meist die gleiche: ein Narzissmus, der vom Entwicklungsstand eines Zweijährigen zeugt. Alarmierend! Zweijährige als die Generation, die morgen am Ruder sein wird: Da sehe ich schwarz.

Woran machen Sie diesen Narzissmus fest?

Es zeigt sich schon beim ersten Gespräch: Ich betrete das Wartezimmer, der zehnjährige Patient in spe lümmelt am Boden und würdigt mich keines Blickes. Die Aufforderung, mir bitte zu folgen, muss ich mindestens einmal wiederholen. Und im Gespräch ist er cool wie ein kleiner Erwachsener oder wirkt wie behindert.

Das klingt nach ganz normalem Trotzkopf.

Mit zehn? Das ist nicht einmal mit fünf Jahren in Ordnung. Mit drei Jahren ist ein Kind in der Lage, den anderen, das Gegenüber zu erkennen. Die Fantasie, alle steuern zu können, und das Gefühl der eigenen Grenzenlosigkeit vergehen. Das Kind beginnt, Dinge für den übergeordneten Erwachsenen zu tun. Das reicht vom Tischdecken bis zum Hausaufgabenmachen. Meine These ist:

Das neurobiologische Training, das Menschen zum sozialkompetenten, leistungsfähigen und frustrationsresistenten Wesen macht, findet häufig nicht mehr statt.

Ihr Ziel ist der bindungsfähige Mensch mit gut entwickelter Gewissensinstanz, der in Arbeitskontexten funktioniert und seine Emotionen im Griff hat. Was ist da mit den Gefahren der (Über-)Anpassung?

Den Schritt zur echten Freiheit schafft man nur von gesichertem Terrain aus. Montessori-Schulen, allgemein Schulen mit offenen Konzepten und individuellem Förderansatz sind wunderbar für reife Kinder, die Regeln verinnerlicht haben. Für narzisstische Kinder sind sie meistens eine Katastrophe. Anpassung und wahre Kreativität sind keine Gegensätze.

Wieso hapert es heute mit der Reife?

Elternschaft hat sich historisch verändert. Bis zu den 68ern herrschte hier zu Lande ein autoritär-diktatorischer Erziehungsstil. Den will ich nicht schönreden: Da wurde viel kaputtgemacht, und heraus kamen devote Persönlichkeiten. Zwischen 1970 und 1990 gab es in den Mittelschichtsfamilien aber eine gute Synthese: Die Kleinkinder wurden angeleitet, den Jugendlichen wurde dann mehr Eigenverantwortung zugemutet. Ein Weg von Hierarchie zu Partnerschaft. Doch mit dem Wohlstand, der ja ironischerweise mit einer Verunsicherung einhergeht, verrutschte auch die Wahrnehmung des Kleinkinds. Es wurde Partner. Es soll alles haben: sich im Kindergarten je nach Neigung «verwirklichen», bei der Ferienwahl mitbestimmen usw.

Ist das so schlimm?

Noch schlimmer! Kinder im Alter von zwei, drei Jahren sind keine Persönlichkeiten. Sie werden erst welche unter richtiger Führung. Es ist tragisch für ganze Kindergenerationen, dass man Freud und Co. in die Mottenkiste geräumt hat: Sein Phasenkonzept hat durchaus Berechtigung; besonders Anna Freud hat Überzeugendes über den frühkindlichen Narzissmus als Durchgangsphase geschrieben. Neurologisch übersetzt: Die Kinder müssen früh ihre Sozialprägung trainieren, sozusagen eine «Nervenzelle Mensch» ausbilden. Ich kritisiere nicht die so genannte Overprotection oder die Wohlstandsverwahrlosung. Sondern immer mehr Kinder heute sind schlicht nicht gereift – und das gerade deshalb, weil sie nicht Kind sein durften!

Sie sind psychisch zweijährig – aber durften keine Kinder sein? Wie geht das?

Wie schwierig es ist, in der globalisierten Welt mit all den atomisierten Ich-AGs, die in einer Hire-and-Fire-Gesellschaft ohne sichere Werte durch den Alltag strampeln, psychisch zu überleben, sieht man am Nachwuchs. So viel Wohlstand und Wahlmöglichkeiten, gekoppelt mit so vielen Negativprognosen – in Sachen Umwelt, Arbeit, Sicherheit – hält kein Mensch aus. Wo liegt der Sinn? Also suchen manche nach dem Glück in der Elternschaft. Solche Eltern – nicht nur die Mütter – entwickeln eine symbiotische Beziehung zu ihren Kindern. Das kindliche Glück ist die letzte Perspektive, die ihnen noch bleibt in der diffusen Welt; der letzte Sinn. Diese Projektion aber führt zur Machtumkehr innerhalb der Familie. Diese Eltern tun alles, um geliebt zu werden – ja, sie brauchen es, dass das Kind sie im Hamsterrad seiner Bedürfnisse rennen lässt. Und sie bürden damit ihrem Kind eine Rolle auf, der es buchstäblich nicht gewachsen ist: Es ist eine Ersatzelternrolle.

Aber «Mutterliebe» ist seit dem 18. Jahrhundert ein Topos, und die Opferbereitschaft von Eltern gibt es schon in alten Mythen.

Darum geht es nicht. Die Kinder heute sind wie ein weiterer Arm der Mutter. Die Mutter merkt gar nicht, dass es stört, wenn ihr Fünfjähriger über Tische klettert, während man sich unterhält. Sie spürt seine Frechheit nicht. Vor zwanzig Jahren hatten Eltern, die in meine Praxis kamen, eine viel realistischere Einschätzung der Problematik und der Aussenwirkung ihrer Kinder als heute. Den Eltern fehlt das In-sich-Ruhen, das Abgegrenztsein und Sich-abgrenzen-Können. Sie leben mit ihren Sprösslingen in Symbiose. Der gesunde Instinkt wird dadurch überdeckt.

«Gesunder Instinkt», Narzissmus, Hierarchie. Das hört sich an wie aus einem anderen Jahrhundert. Ein Backlash?

Nicht in die schwarze Pädagogik. Aber in ein förderliches Verhalten – gestützt auf moderne Neurobiologie. Noch im 20. Jahrhundert liessen Eltern ihr Kind auch einmal warten und schreien. Mittlerweile wird man in Deutschland in der Strassenbahn beschimpft, wenn man nicht sofort das Fläschchen zückt. Überhaupt: die Flasche bei Dreijährigen oder sogar Fünfjährigen: Das hat es im Strassenbild vor zwei Jahrzehnten nicht gegeben. Diese Unsitte der Instant Gratification nagelt die Kinder in der narzisstischen Phase fest. Und die Schule tut ein Übriges dazu.

Was hat sich in der Schule verändert?

Alles: Man hat Gruppentische, hat offenen Strukturen mit wechselnden Betreuungspersonen, «Neigungsgruppen» ohne stabilen Klassenverband. Es gibt keine Hausaufgabenkontrolle, keine Noten, dafür Projektunterricht mit viel Freiarbeit, wo jedes Kind nach seinem Lerntempo arbeitet – oder eben nicht. Das ist fatal. Dazu sind gerade die unausgereiften, narzisstischen Kinder nicht in der Lage. Häufig steht hinter solchen Konzepten eine partnerschaftliche Sicht des Kindes: eine verkehrte Sicht! Für manche Lehrer ist dieser «Unterricht» zwar bequem. Für engagierte aber ist er ein Drama. Denn Grundschüler können nicht partnerschaftlich angeleitet werden. Die meisten brauchen klare Anweisungen und die enge Beziehung zu einer starken Lehrperson, für die sie arbeiten. Gehorsam ist nicht etwas Eingedrilltes, kein «Kadavergehorsam», sondern das natürliche Verhalten von Heranwachsenden gegenüber einer überzeugenden Leitfigur.

Was ist mit der Freude an der Sache?

Interessengeleitetes ernsthaftes Arbeiten kommt in der Entwicklung viel, viel später; den narzisstischen Kindern ist es gar nicht möglich. Der heutige Unterricht verstösst damit eklatant gegen neurologische Erkenntnisse. Also hat man einfach die Erwartungen heruntergeschraubt. In Nordrhein-Westfalen etwa musste ein Grundschüler früher 4000 Wörter schreiben können; heute sind es 1000. Was das bedeutet, sieht man an der Pisa-Studie. Und ein Symptom ist auch die zunehmende Suchtproblematik im Jugendalter: Das nicht ausgereifte Kind kann den Verführungen solcher Kurzzeitbefriedigungen viel schlechter widerstehen.

Was tun?

Mein Buch ist weder Schuldzuweisung noch Ratgeber. Aber Therapie ist möglich: Eltern wie Schulen müssen nachfassen.

Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008

Kommentar: In allen Beiträgen auf unseren Seiten in rhetorik.ch vertraten wir bei Themen, Erziehung, Jugendgewalt usw. seit Jahren die Meinung, dass weder die autoritäre noch die permissive Erziehung richtig ist. Unsere Botschaft war immer:

Wertschätzung des Kindes

Präsenz ist wichtig

auch die Konsequenz

und das situative flexible Verhalten

Eine geregelte Struktur und sinnvolle Spielregeln erleichtern die Erziehungsarbeit.

Eindeutig falsch finden wir:

Wenn Kinder sich selbst überlassen bleiben

Wenn Kinder überfordert werden, indem sie beispielsweise schon im Vorschulalter selbst über alles entscheiden müssen (Essen, Kleider, Bettruhe usw.)