Dienstag, 25. April 2017

Vertiefender Hintergrundbeitrag zum Fall Jegge in der NZZ

Jürg Jegge
Wie die Reformpädagogik Täter schützte


Hinweise auf sexuelle Übergriffe gab es auch in Embrach, dem Dorf von Jürg Jegges Sonderklasse. Doch der Täter, gefeierter Pädagoge, nützte die Skepsis geschickt, um sie zu seinem Vorteil umzumünzen.

Lehrkräfte der deutschen Odenwaldschule haben Schüler jahrzehntelang sexuell missbraucht. (Bild: Ernst Wrba / Mauritius)

Lehrkräfte der deutschen Odenwaldschule haben Schüler jahrzehntelang sexuell missbraucht.

1989, zehn Jahre nachdem er sich von Jürg Jegge gelöst hatte, suchte Andreas Guggenberger gemäss seinen Aussagen in der NZZ Hilfe bei der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (ZFA). Auf der Zweigstelle in Oerlikon sprach er mit seinem Berater über den jahrelangen sexuellen Missbrauch durch Jegge. Doch nichts geschah. Niemand half Guggenberger. Es wurde weder Anzeige eingereicht noch untersucht. So blieben Jegges dunkle Seiten weitere 28 Jahre unentdeckt. Jegge leitete bis zu seiner Pensionierung die Eingliederungsstätte «Märtplatz» für Jugendliche mit psychischen oder sozialen Schwierigkeiten, ohne dass jemand seinen Nimbus als Starpädagoge je infrage gestellt hätte. Noch 2011 wurde Jegge von der von Marc Rich gegründeten Stiftung Doron für sein soziales Engagement ausgezeichnet.
Diese Immunität selbst gegenüber schwersten Anwürfen ist nicht die einzige Parallele zu Gerold Becker, dem Reformpädagogen und Leiter der Odenwaldschule, der sich wie Jegge systematisch an seinen Schülern vergriff und doch bis zuletzt höchstes Ansehen genoss. Auch bei Becker gab es lange vor seinem Fall im Jahr 2010 Hinweise auf seine Verbrechen. 1999 berichtete gar die «Frankfurter Rundschau» über jahrelangen sexuellen Missbrauch, ohne dass der Artikel Wirkung zeigte. Bei Jegge fehlten solche Berichte, doch es muss deutliche Indizien für seine Übergriffe gegeben haben, lange vor Guggenbergers Hilferuf von 1989. Bereits 1973 erliess die Schulpflege von Embrach, wo sich Jegges Sonderklasse befand, eine Weisung mit zwölf Punkten, die es Jegge unter anderem verbot, seine Schüler bei sich zu Hause zu unterrichten. Es ist kaum vorstellbar, dass eine solche Anordnung ohne konkrete Anhaltspunkte erlassen wurde.


Weshalb schaute niemand hin?

Auch im Umfeld Jegges war dessen Schwäche offenbar bekannt: «Jürg sagte damals, er habe Mühe, sich abzugrenzen», sagte Jegges langjähriger Weggefährte Hans Wyler, ebenfalls Sonderschullehrer in Embrach, der «NZZ am Sonntag». Philipp Gurt, als Heimkind selbst Opfer sexuellen Missbrauchs und Autor des Buches «Schattenkinder», hat nach eigenen Angaben Kontakt mit einem früheren Erzieher aus dem Umfeld Jegges, der dessen Veranlagung als allgemein bekannt bezeichne. In seinem Bestseller «Dummheit ist lernbar» beschrieb Jürg Jegge die Irritationen selber, zu denen seine Person und seine Neigungen damals Anlass gegeben hatten: «Was bin ich doch in den Augen der Leute nicht schon alles gewesen! Bauernfänger, Kommunist, Homosexueller, Mädchenverführer, verspätet Pubertierender.» Die Passage erscheint heute in ganz anderem Licht: Warum hat damals niemand richtig hingeschaut?
Nicht der Missbrauch an sich, doch die Umstände seien typisch für diese Zeit, in der die radikale Reformpädagogik auch in der Schweiz auf wachsendes Interesse gestossen sei, erklärt der Erziehungswissenschafter Jürgen Oelkers. Er hat den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule untersucht. Der antiautoritären Pädagogik mit Bezug zu Alexander Neill und Wilhelm Reich kam laut Oelkers für die Täter dieser Epoche eine doppelte Funktion zu. Einerseits ist dieser Lehre der Keim des sexuellen Missbrauchs inhärent: Eine neue, durch Nähe und Liebe gekennzeichnete Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sollte den alten, autoritären Erziehungsstil ablösen. Und ihre Fundamentalkritik an den öffentlichen Schulen verhalf den Vertretern dieser Reformpädagogik zu einer Legitimation, die staatliche Kontrolle erschwerte. Missbrauch wurde damit von Anfang an erleichtert. Gustav Wyneken, Alternativpädagoge der ersten Stunde, wurde schon 1921 wegen sexuellen Missbrauchs in zwei Fällen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Missbrauchen und sich gut dabei fühlen

«Die Ideologie war der Pass, um Missbräuche zu begehen und sich dabei auch noch gut zu fühlen», diagnostiziert Oelkers. Auch Jegge positionierte sich wie Becker nicht nur selbst als Reformpädagoge, sondern berief sich auf Vertreter dieser Ideologie, etwa den Darmstädter Pädagogen Hans-Jochen Gamm. Das gesamte Gefüge in und um die Embracher Sonderklasse erinnert an die Vorgänge an der Odenwaldschule: In beiden Fällen untergruben die Täter weitab auf dem Land die bestehende Eltern-Kind-Beziehung in scheinbar natürlicher, kindgerechter Umgebung. So schafften sie die nötige Nähe und Abhängigkeit, um ihre Opfer auszubeuten. Das alles geschah nicht nur nach aussen hin zum Wohl des Kindes, sondern auch gemäss innerer Auffassung des Täters. «Ich war damals der Überzeugung, dass eine derartige Sexualität einen Beitrag leiste zur Selbstbefreiung und zur persönlichen Weiterentwicklung der Schüler», sagte Jegge vorletzte Woche im Interview mit der NZZ.
Diese Art der Reformpädagogik lieferte Jegge mehr als die passende Rechtfertigung, an der er bis heute festhält: Sie verschaffte ihm den bestmöglichen Schutz vor der Entdeckung seiner Taten. «Nach dem Bucherfolg von Jürg Jegge ist nie mehr jemand auf die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte», erklärt Oelkers. Sein Bestseller «machte Jürg zum Star», so beschreibt Markus Zangger die Situation in seinem Buch. Jegge war unantastbar: Er galt in der Öffentlichkeit fortan als Experte, Schriftsteller, Visionär, während niemand mehr hinter die Mauern in Embrach blickte. «So gab es in seiner Schule ein verdrängtes, scham- und angsterfülltes Schweigen, das vom Öffentlichkeitsglanz Jegges überdeckt wurde», schreibt Guggenberger in der NZZ. Selbst die anhaltende Skepsis gegenüber dem linken Lehrer in und um Embrach, wie sie Zangger beschreibt, deutete der Täter zu seinen Gunsten um: Sie war Beleg für die Biederkeit von Volk und Behörden.

Ideologische Schutzmauer

Das System aus Gewalt, Macht und Abhängigkeit «basierte auf stabilen Glaubenssätzen, auf einer nicht irritierbaren Pädagogik, die wie eine ideologische Mauer benutzt wurde», schreibt Oelkers in einem seiner zahlreichen Aufsätze mit Bezug auf Gerold Becker. Das sei bei Jürg Jegge nicht anders gewesen. Die Zahl von 200 000 verkauften Exemplaren von Jegges Bestseller deutet darauf hin, wie dick diese Brandmauer war. Nicht nur die linken 68er waren begeistert, auch die NZZ zeigte sich beeindruckt. Dieser Schutz hielt über Jahre und Jahrzehnte an: «Jegge ist ein Mann, bei dem die Lebenslust, der Idealismus und vor allem die Liebe zu den sogenannten Problemkindern mit jeder Gestik, jedem Satz zum Ausdruck kommt», jubelte die «Weltwoche» noch vor einem halben Jahr. Dabei sei «Liebe» im professionellen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern kaum das richtige Wort, weil sie eine in diesem Rahmen unangemessene Intimität und Übergriffigkeit nach sich ziehen könne, wie die Fälle zeigten, meint Oelkers dazu.
Stets suchen sich die Täter die Strategie, die zu ihrer Situation passt. Reformpädagogische Konzepte waren nicht die Ursache für Jegges Übergriffe. Doch sie verschafften ihm das theoretische Fundament und Schutz. Jegge erhielt die Möglichkeit, seine Bedürfnisse im Windschatten des Zeitgeistes auszuleben. Markus Zangger und Andreas Guggenberger hatten keine Chance.

Missbrauchsopfer wollen Jegge nicht davonkommen lassen

 Jürg Jegge hat die sexuellen Übergriffe auf mehrere seiner Schüler in verschiedenen Medieninterviews öffentlich eingestanden. Zwar hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich in der vergangenen Woche ein Vorabklärungsverfahren eingeleitet und beim früheren Lehrer eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Doch weil sich die Taten in den früheren siebziger und achtziger Jahren abspielten, sind sie verjährt. Falls keine neuen Missbrauchsfälle bekanntwerden, die sich nach 1987 zutrugen, kann Jegge für sexuelle Übergriffe strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden.

Opfer von sexuellem Missbrauch, die das Erlebte selber oft nach Jahrzehnten nicht vollständig verarbeitet haben, stossen sich aber nicht nur an der Verjährung, sondern auch am Aussageverhalten von Jegge. Dass dieser seine Taten mit Hinweis auf pädagogische Konzepte bis heute rechtfertige und sein Verhalten als Folge des Zeitgeistes darstelle, verletze die Persönlichkeit der Opfer, erklärt Carlo Häfeli, Anwalt und Präsident der Opferberatungsstelle «Weisser Ring Schweiz», auf Anfrage. In einem Brief an Jegge, der der NZZ vorliegt, verlangt der Weisse Ring von diesem eine Entschuldigung nicht nur für die verjährten Straftaten, sondern auch für «Ihre Äusserungen in der NZZ vom 7. April». Unterzeichnet ist das Schreiben von Häfeli sowie von Philipp Gurt, der als Heimkind selber missbraucht wurde und das Erlebte in seinem Buch «Schattenkinder» aufgearbeitet hat.

Verlangt wird, dass sich Jegge mit seinen Opfern zum Gespräch trifft und sich von zahlreichen Aussagen distanziert, die er zur Erklärung seiner Taten beigezogen hatte. Erwähnt ist beispielsweise Jegges These, wonach Sexualität mit Schülern «ein Beitrag zu deren Selbstbefreiung und persönlicher Weiterentwicklung» gewesen sein soll. Eingestehen soll Jegge auch, dass er durch seine Übergriffe den Buben in jedem Fall schwer geschadet habe.

Interessant ist, dass der Weisse Ring seine Forderungen nicht nur im Zusammenhang mit den verjährten Taten, sondern auch mit Jegges jetzigen Äusserungen stellt. Damit stellt sich die Frage nach Genugtuungszahlungen. Dies sei nicht das unmittelbare Ziel, sagt Häfeli. Angestrebt werde eine einvernehmliche Einigung mit Jegge. Gurt möchte, dass die Betroffenen aus ihrer Opferrolle kommen und sich gegen Jegge zur Wehr setzen: «Es darf nicht sein, dass seine Äusserungen stehenbleiben.» Er werde nicht ruhen, sagte Gurt, «bis die Sache in Ordnung ist».


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