Mittwoch, 13. Juni 2007

Jugendliche iszenieren Gewalt _____________________________________________________________ Gewalt wird zum multimedialen Volkssport ________________________________________ Quelle 20 Minuten ____________________________________________________________________ Die Kriminialstatistiker verzeichnen einen rapiden Anstieg der Jugendgewalt. Nicht immer öfter wird zugeschlagen, aber immer brutaler. Und die inszenierte Demütigung des Anderen ist zum multimedialen Volkssport an Schulen und im Internet geworden. Immer mehr sehen wir an der Erniedrigungsfront: Das Handy spielt dabei eine zentrale Rolle. Ob Prügelfilme, Schlampen-Videos oder Lehrer-Mobbing, die multimediale Demütigung des Anderen ist zum Volkssport geworden. Ist die permanente Reizüberflutung und die zunehmende Vermischung von virtueller Computerrealität und Wirklichkeit verantwortlich für den Anstieg an schwerer Jugendgewalt? Die zunehmende Brutalität führt jedenfalls zu einer Abstumpfung, zur Verrohung, zur Gewaltgewöhnung. ____________________________________________________________ Zu den verschiedenen Aspekten der neuen „Gewaltdimension“: __________________________________________________________________ Jugendlich wissen oft gar nicht, was sie tun. Psychologen analysieren das neue Phänomen. Polizisten werden als Feuerwehr eingesetzt. Die ahnungslosen Eltern sind völlig überfordert. Die Lehrer verdrängen das Problem. Wer möchte schon zugeben, dass im eigenen Schulhaus Gewalt inszeniert wird. Eltern und Lehrer fühlen sich mitschuldig. Deshalb wird in der Regel das Problem kleingeredet. __________________________________________________________________ Beispiel auf einem Pausenplatz: Ein paar Tritte, ein Gerangel, ein Geschubse. Es war eine übliche kleine Prügelei, die sich die zwei Primarschülerinnen lieferten. Doch war da ein Junge. Der schrie mit aufgeregter Stimme: ___________________________________________________________________ «Schlag, ich will es aufnehmen, schlag, schlag!» __________________________________________________________________ Zwei Tage später wurde das Video nicht nur auf einer lokalen Internetplattform eifrig diskutiert, die prügelnden Mädchen wurden auf der Videobörse von Youtube einem potenziellen Millionenpublikum präsentiert. _________________________________________________________________ Eine zusätzliche Herausforderung _________________________________________________________________ "Mit dem Handy hat sich vieles verändert und wir haben es immer mehr mit diesem neuen Phänomen zu tun», sagte Rolf Stucker, Leiter des Jugenddienstes der Stadtpolizei Zürich. Das Handy ist zur Waffe einer ganzen Generation von Heranwachsenden geworden, allzeit bereit, das Leben festzuhalten. Freunde, Feinde oder Lehrer werden provoziert oder gedemütigt, bis die Szene im Kasten ist – derartige Fälle häufen sich. Schlägereien gab es auch früher. Doch die Inszenierung der Gewalt ist neu. Da castet ein junger Handyfilmer schon mal «den Fettsack von der dritten Klasse» ohne dass der etwas davon weiss, für eine Prügelei. Set und Szenen werden abgesprochen, damit der Film im Web Beachtung und Zuspruch findet. Und jedem der jungen Filmschaffenden ist klar: Gesucht sind krasse Bilder. Je demütigender desto besser. ___________________________________________________________________ Zur Klaviatur der Demütigungen ________________________________________________________________ Mit Jungs macht man Ekel- oder Prügelszenen, Mädchen werden in sogenannten «Schlampenvideos» vorgeführt. Wie etwa jenes Mädchen aus Zürich, das mit ihrem Freund schlief. Sie wollte das auch. Vielleicht wollte sie den Akt sogar aufnehmen. Doch nachdem sie sich von ihrem Freund trennte, hatte sie keinen Einfluss mehr über die Bilder. Der Film landete kurz darauf bei Youtube, wurde innert Kürze hunderte Mal angeklickt. «Danach galt sie im Quartier als Schlampe», sagt Stadtpolizist Stucker. Zwar wurde der Film auf Intervention der Eltern von den Youtube-Verantwortlichen vom Netz genommen. Doch da war es schon zu spät. Niemand kann sagen, auf wie vielen Festplatten der Film "für immer" gespeichert ist. ___________________________________________________________________ Mobbingdynamik ___________________________________________________________________ Wenn früher gemobbt wurde, so war wenigstens hinter der eigenen Haustüre Ruhe. Heute werden solche Bilder von der ganzen Welt geguckt. Psychologe Hermann Blöchlinger spricht von einer «massiven Mobbingdynamik»“, die mit den neuen Möglichkeiten entstanden sei. Er hatte bereits mit zwei Suizidversuchen von Jugendlichen zu tun, die keinen Ausweg mehr aus ihrem Dilemma sahen. Der Soziologe Ueli Mäder spricht von einer «modernen Form von Pranger» und einer «neuen Form der Selbstinszenierung». Bösartige jugendliche Angeber sind laut Mäder nicht neu. «Jeder hat das seit seiner Kindheit erlebt». Aber die Jugendlichen müssten heute viel mehr tun, um aufzufallen. ___________________________________________________________________ Die Skrupellosigkeit übersteigt die Vorstellungskraft von Erwachsenen ____________________________________________________________________ Mit nichts kann ein Jugendlicher mehr auffallen, als mit exklusiven Bildern, die jenseits jeglichen sittlichen Empfindens gemacht werden. Wer solche Bilder selber herstellen, weiterschicken oder sogar auf Youtube stellen kann, ist der vermeintliche König des Pausenplatzes. «Die Folge ist eine unglaubliche Skrupellosigkeit», findet Blöchlinger. Die Erwachsenenwelt musste sich zuerst einmal bewusst werden, dass Pornofilme oder brutale Bilder von Hinrichtungen oder Steinigungen von Jugendlichen konsumiert wurden. Sie hatten eine gewisse Faszination für die Heranwachsenden. Dass nun ihre Kinder selbst zu Regisseuren geworden sind, übersteigt die Vorstellungskraft vieler Erzieher. «Die Eltern haben keine Ahnung von diesen Möglichkeiten», sagt beispielsweise Herbert Siegrist von der Präventionsabteilung der Stadtpolizei Zürich. Zu diesem Schluss kommt er nach vielen Elternabenden, in denen er auf Aufklärungstour über die neuen Möglichkeiten von Handys und Internet ging. Ebenso überfordert seien die Lehrer. __________________________________________________________________ Lehrer als Opfer ___________________________________________________________________ «Viele Lehrer melden die Vorfälle gar nicht, weil sie Angst vor Racheakten haben», sagt Siegrist. In Widnau entdeckten Schüler kürzlich einen Schmäh-Clip gegen neun Lehrer. Zum Sido-Song «Schlechtes Vorbild» lief eine Diashow mit Fotos der Pädagogen. Die Kommentare dazu: «A...kriecher», «gruusigi Visage» oder «Mundgeruch, schwul gilt für die ganze Familie». Lehrer H. aus Bern kommt in der Diashow nicht vor. Doch die Freude am Unterrichten hat der erfahrene Pädagoge mittlerweile verloren. «Die Kinder provozieren heute im Unterricht bewusst. Bei einem Wutausbruch eines Lehrers zücken sie das Handy. Am Schluss steht der Pädagoge auf dem Internet». Lehrer H., der im Sommer in Pension geht, verrät anonym: «Wer weiss, was die Schüler sonst mit mir machen». :::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::: KOMMENTAR: Ich verstehe Schulleiter, die auf ihrem Schulhausareal ein Handyverbot durchsetzen. _____________________________________________________________ Nachtrag 14. Juni: Eine Fortsetzungsgeschichte, die illustriert, dass das Zeitproblem "Inszenierte Gewalt ernst genommen werden muss: ___________________________________________________________________ Die Schule ist aus, die Schüler gehen zum Veloständer vor dem Schulhaus. Eine Gruppe Jugendlicher bedrängt an diesem Schauplatz einen untersetzten Jungen: «Verstehst Du YouTube? Verstehst Du meine Sprache?», fragen sie in Schweizer Dialekt, während sie ihn mit ihren Kamerahandys umringen. Die Forderung der Kids an ihr Opfer: «In drei Sekunden musst du so lustig sein, wie du kannst.» Obwohl ihm die Szene sichtlich peinlich ist, macht sich der unfreiwillige Hauptdarsteller mit einer Grimasse zum Clown – grosses Gelächter rundherum. Der Film landet auf YouTube – in der Beschreibung wird das Opfer als «dummes, fettes Kind» bezeichnet. ___________________________________________________________________ «Das kommt auf YouTube Mann» ______________________________________________________________ So kommt es, dass die Demütigung des Jungen erst dann richtig beginnt, wenn sie überstanden scheint: Jetzt kann sich die ganze Welt die Szene anschauen, immer und immer wieder. Der unfreiwillige Filmheld wird womöglich auch in fünf Jahren noch als «dummer, fetter Junge» im Internet gebrandmarkt sein. Ähnliche Filme gibt es auf YouTube viele. Gerade unter Schülern scheint das Vorgehen verbreitet. Der Schweizer Handyfilm «döme gege andy» zum Beispiel zeigt eine harmlose Rauferei zwischen zwei Jugendlichen in der SBB. Der Kameramann amüsiert sich über die verrutschte Hose seines Kollegen – lachend sagt er: «Das kommt auf YouTube, Mann». _________________________________________________________________ Vorgeführte Lehrer ___________________________________________________________ Kein Wunder müssen Schüler an manchen Schweizer Schulen das Handy vor dem Unterricht abgeben (Gemäss unserer Empfehlung) . Denn Filme mit gedemütigten Kids sind sehr beliebt. Doch auch die Lehrer bleiben nicht verschont, davon zeugen Videos wie etwa «Der arme Lehrer». Gezeigt werden zum Beispiel Wutausbrüche der Unterrichtenden, oder Situationen, in denen der Lehrperson die Kontrolle über die Klasse entgleitet. Auch früher gabs Schlägereien oder peinliche Momente. Doch die Veröffentlichung der Aufnahmen verlängert den Moment einer psychischen und oder physischen Demütigung bis in die digitale Unendlichkeit. Kompromittierte Schüler und Lehrer sind dadurch schnell einmal bis ans Ende einer Schulzeit gebrandmarkt. Zwar sind längst nicht alle Gewaltdarstellungen auf YouTube echt: Viele Kämpfe sind inszenierte Shows, welche allein wegen des Vorhandenseins einer Kamera – und potentieller Zuschauer auf YouTube – stattfinden. «Hey, das tun wir auf YouTube» ist ein oft gehörter Satz. ___________________________________________________________________________________ Beurteilung: «Sehenswert» _________________________________________________________________________ Viele Zweikämpfe und Schlägereien in- und ausserhalb der Schule finden ihren Weg auf das Videoportal. Als Beispiel sei hier ein Clip erwähnt, der sich auf einer Wiese abspielt. Zu sehen sind zwei jugendliche Kämpfer, beobachtet von einigen Schaulustigen. Sie schlagen sich mit den Fäusten ins Gesicht – nach einem Volltreffer geht der Eine KO. Der Sieger schreit den Bewusstlosen an, und ein Zuschauer meint: «Scheissegal, komm, (er hat) verloren, gib ihn Eine» – prompt verpasst der Kämpfer dem reglosen Opfer mit voller Wucht einen Tritt. Ein anderer Zuschauer sagt «hey, er ist am Boden, Mann», worauf ein weiterer entgegnet: «Na und jetzt?». Dieses Video – mit völlig unbekannten Darstellern und miserabler Qualität – hat schon über 84'000 Zuschauer gefunden. Es ist beileibe kein Einzelfall: Ähnliche Schlägereien gibt es auf dem beliebtesten Videoportal der Welt zuhauf. Ein Film, in welchem ein Mädchen ein anderes vor vielen Schaulustigen während mehrerer Minuten mit der Faust immer wieder mitten ins Gesicht schlägt, wurde von über 200'000 Usern geschaut. Durchschnittliche Beurteilung: «Sehenswert». Eine weitere Kategorie von gewalttätigen Filmen, die auf dem Videoportal zu finden sind, kommen aus dem Bereich der Streetsfights. Hier schlagen sich Profi-Kämpfer die Köpfe ein, bis das Blut spritzt und die Knochen brechen. Gewalt bleibt trotz Verbot lange auf YouTube All diese Videos verstossen gegen die Nutzungsbedingungen von YouTube (siehe Infobox) - das Portal versteht sich als Sex- und gewaltfreier Ort. «Deutliche und willkürliche Gewalt ist nicht erlaubt», steht in den Richtlinien. Bei den meisten Gewaltvideos heisst es denn auch, dass sie «Inhalt enthalten könnten, welcher nicht für alle User geeignet ist, wie die YouTube-Community gemeldet hat» - doch mit einem Klick auf ein Bestätigungsfeld erhält man trotzdem Zugang zum Video, vorausgesetzt, man hat bei der Anmeldung ein Alter von über 18 Jahren angegeben. YouTube behauptet auf der Seite zwar, dass sämtliche als regelwidrig gemeldeten Videos evaluiert und gegebenenfalls entfernt würden. Das scheint für die vielen Hooligan-Schlachten, blutigen Streetfights und sonstigen Schlägereien nur bedingt zu gelten. Der erwähnte brutale Mädchenkampf etwa, von über 200'000 Zuschauern angesehen, wurde längst gemeldet. Er ist seit März 2006 auf YouTube.