Sonntag, 6. Juli 2008

Allain Guggenbühls Gedanken, die uns zu denken geben müssten:

Quelle: Interview in sonntag.ch:

«Die Jugend ist übertherapiert»

Jugendexperte Allan Guggenbühl redet über antiautoritäre Erziehung, die Unterforderung der Jugendlichen durch die Gesellschaft – und er sagt, warum er das Schulfach «Kämpfen» fordert.

Sonntag: Die Jugendlichen trinken heute weniger Alkohol als vor vier Jahren. Das ergab die neue Schülerbefragung der Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme, die letzte Woche veröffentlicht wurde. Grund zur Entwarnung?

Allan Guggenbühl: Man muss vorsichtig sein mit solchen Studien, die Zu- oder Abnahmen beschreiben. Natürlich gibt es Schwankungen, aber der entscheidende Punkt ist doch: Ein Teil der Jugendlichen hat nach wie vor Probleme mit Alkohol. Ob das nun ein paar Prozent weniger sind, ist zweitrangig.

In letzter Zeit sorgt vor allem das so genannte Kampftrinken für Schlagzeilen: Gruppensuff als Freizeit-Event. Eine neue Erscheinung?

Das hat es früher auch schon gegeben. Die Einführung in die Gesellschaft über Alkohol ist ein uraltes Phänomen. In einigen Kulturen ist das ritualisiert und gehört zum Erwachsenwerden.

Das exzessive Kampftrinken wird oft als ein Symptom für die Verlotterung einer ganzen Generation gesehen. Die heutige Jugend ist geradezu harmlos. Erstens ist der Anteil der Jugendlichen in unserer Gesellschaft historisch gesehen klein – wir sind eine gerontologisch orientierte Gesellschaft, in der die Alten die Standards definieren. Zweitens fügt sich die Mehrheit der Jugendlichen diesen Standards und widmet sich der Zerstreuung, die unsere Kultur anbietet. Dazu passt, dass das Kiffen nicht mehr so attraktiv ist. Kiffer wirken abgelöscht und adynamisch. Das passt nicht zum extrovertierten Lifestyle, den viele Jugendliche heute pflegen.

Trotz harmloser Jugend: Derzeit gibt es einen Trend zu mehr Repression mit Verboten und nächtlichen Ausgangssperren. Eine Reaktion auf das antiautoritäre Laisser-faire der 68er-Generation?

Ich würde das nicht historisch begründen. Es gibt heute beides: das Permissive und das Restriktive. In Erziehung und Schule gilt, dass die Kinder ihren Weg individuell und autonom suchen sollen, man sucht die Diskussion und den Konsens. Später merkt man, dass Jugendliche auch problematisch sein können – und schwingt die Gegenkeule.

Das heisst? Vor allem wenn unsere Söhne und Töchter Kinder sind, verwöhnen und überschätzen wir sie, verpassen es oft, ihnen Schranken zu setzen und in Aufgaben einzubinden. Wenn sie dann älter werden, stören wir uns an der Arroganz oder Verwöhnung, die daraus resultiert, und reagieren autoritär.

Für welches Erziehungsmodell plädieren Sie: autoritär oder antiautoritär?

Für eine gemässigte autoritäre, dialogische Erziehung.

Geht es etwas präziser?

Eltern sollen Werte durchsetzen, aber im Bewusstsein, dass es sich um ihre eigenen Werte handelt und diese nicht absolute Gültigkeit haben. Wichtig ist, dass man im Gespräch bleibt und den Dialog pflegt.

Im Kanton Zürich müssen überforderte Eltern künftig zu einem obligatorischen Erziehungskurs antraben. Was bringt das?

Die Eltern müssen freiwillig mitmachen, sonst bringt es gar nichts. Ich führe selbst solche Kurse durch. Ich gebe den Eltern keine fertigen Erziehungsrezepte mit nach Hause. Es geht vielmehr darum, dass sich die Eltern klar werden, was sie wollen und wie sie das durchsetzen können.

Ausländische Eltern und Schüler werden oft für die eskalierende Gewalt an den Schulen verantwortlich gemacht. Sie haben kürzlich eine Gruppe islamischer Jugendlicher gecoacht. Was haben Sie festgestellt?

Islamische Jugendliche sprechen stark auf Hierarchien an. In ihrer Kultur sind sie eine wichtige Orientierungshilfe. Sie wollen wissen, welche Positionen sie haben und wer der Boss ist. Unsere auf Konsens ausgerichtete Kultur empfinden viele als schwach. Das gilt auch für unsere Ablehnung von physischer Gewalt. Einzelne islamische Jugendliche sagen sich sogar: «Wenn ich mir die Nase breche, was solls?» Sie haben das Gefühl, sie seien uns überlegen, weil wir auf Gewalt verzichten und panische Angst haben vor einer Ohrfeige oder vor einem Schubs. Für sie ist das ein Untergangssymptom unserer Kultur.

Was bedeutet das für die Schulen?

Viele Jugendliche aus islamischen Ländern sind überfordert, wenn man versucht, sie über Reden und den Dialog einzubinden und sie quasi auf den Weg der Vernunft zu bringen. Das gilt auch für die Eltern. Es funktioniert nicht, wenn der Lehrer sagt: «Wir hätten einen Elternabend nächste Woche. Es wäre schön, wenn Sie auch kämen

Sie kommen dann ja bekanntlich auch eher selten an diese Elternabende . . .

Man müsste klar den Tarif durchgeben: «Das ist ein obligatorischer Elternabend, und Sie kommen!» Auch den Schülern, vor allem den Buben, muss der Lehrer klarmachen, wer im Klassenzimmer der Boss ist.

Wie soll er das anstellen?

Vielleicht könnte man sogar einführen, dass die Schüler beim Eintreten des Lehrers aufstehen müssen. Das ist ein wirkungsvolles Disziplinierungsritual. Wir Schweizer haben Angst, durch solche Rituale als autoritär zu gelten.

Den Schweizern dürfte es gewaltig auf die Nerven gehen, wenn sie solche Disziplinierungsrituale über sich ergehen lassen müssen, nur weil die ausländischen Mitschüler sonst aus dem Ruder laufen.

Das ist genau das Problem. Hier gibt es ein Dilemma. Wir haben eine demokratische Kultur, möchten auf äusserliche Inszenierungen von Macht und Autorität verzichten.

Später im Arbeitsleben müssen sich Jugendliche selbstständig behaupten können.

Das Arbeitsleben ist für viele Jugendliche der Ort, wo sie wirklich mit unseren Werten konfrontiert und ernst genommen werden. Man steht ehrlich zu Macht und Position und versteckt sich nicht hinter wohltönenden Konzepten, wie es in der Erziehung und der Schule zum Teil der Fall ist. Die Schule empfinden ja viele Jugendliche als Unterwerfungsinstitution, die so tut, als verfolge sie edlere Ziele.

Klare Hierarchien gibt es auch im Militär. Hat die Armee deshalb grossen Zulauf von Secondos? Sie finden im Militär eine überschaubare, verständliche Subkultur, die über Hierarchien, Befehle und klare Leistungsvorgaben funktioniert. Das gibt eine Art Orientierung. Genau darin liegt das Problem vieler Jugendlicher:

Es wird von ihnen nichts mehr verlangt. Sie sind massiv unterfordert. Das Einzige, worauf sie hoffen können, ist die Autoprüfung – das gibt dann den Kick. Es gibt heute eine Infantilisierung der Jugendlichen.

Man muss sie mehr in die Pflicht nehmen?

Ja. Wir widmen uns der Jugend – aber vor allem über Programme, Aktionen, Therapien und Events. Sie wird unterhalten und betreut, bis zum Abwinken. Aber es wird nicht wirklich Verantwortung übergeben. Jugendliche sehnen sich nach Aufgaben, die wirklich mit Verantwortung verbunden sind. In den Augen der Jugendlichen gibt es zwei Arten, wie man in unserer Gesellschaft erwachsen wird: Man hat ein Auto, und man verdient Geld. Letzteres sollte man mehr nutzen.

Zum Beispiel anstelle eines temporären Schulausschlusses, den man dann wiederum mit Therapien und Unterricht überbrückt?

Die Idee, dass alle Jugendliche 100 Prozent in die Schule gehen müssen, ist absurd. Einem 14-Jährigen, der nicht mehr auf die Schule anspricht, sollte man sagen: Du gehst drei Tage in die Schule, und den Rest musst du arbeiten und Geld verdienen. Das würde mehr bringen. Man vergisst, dass früher schon 13-Jährige gearbeitet haben. Heute sind sie 18 Jahre alt und haben noch nie erlebt, dass ihre Arbeit geschätzt wird. Das wichtigste Zeichen, diese Wertschätzung auszudrücken, ist das Bezahlen mit Geld.

Also weniger Schule für schwierige Jugendliche?

Mein Eindruck ist, dass die Jugend übertherapiert und mit gewissen Sozialprogrammen sogar stillgelegt wird. Inzwischen gibt es einen ganzen Stand von Leuten, die sich um die Jugend kümmert. Sie organisieren Programme, geben Ratschläge und machen Schulungen über das Leben. Wir neigen dazu, die Jugendlichen zu sehr zu schützen und für alles ein Auffangbecken bereit zu halten.

Gut, aber allein lassen geht auch schlecht. Ich habe beobachtet, wie gewisse Jugendliche beruhigt reagiert haben, als sie von der Stadtpolizei arrestiert wurden, in der Zürcher Urania-Hauptwache eine Nacht bleiben mussten und bis auf die Boxer-Shorts ausgezogen wurden. Ich fragte mich, warum. Bis ich realisiert habe: Endlich hat man eine Tat von ihnen respektiert und Konsequenzen gezogen. Ausser zu delinquieren gibt es praktisch keine Taten mehr, die Jugendliche machen können, damit sie sich als eigenständige Wesen profilieren können.

Kampfsportarten boomen. Im Zweikampf spürt man die Folgen seiner Taten unmittelbar. Ein Grund für die Beliebtheit bei Jugendlichen?

Ja. Ich bin dafür, dass man das Schulfach «Kämpfen» einführt.

Wie bitte?

Im Sinne einer Einführung in die Aggression. In den Schulklassen versteht man sich nie mit allen. Man hat auch Feinde. Da muss man verschiedene Formen einführen, wie man das austragen und kämpfen kann. Viele schwierige Jugendliche wissen nicht, wie sie ihre Aggressionen ausleben können. Dann wird es rasch pathologisch, zum Beispiel mit Faustschlägen ins Gesicht. Darum müsste man in den Schulen Kampfsportarten einführen. Und zwar nicht nur körperlich, sondern auch verbal. Auch das «Dissen» sollte als Schulfach eingeführt werden.