Wahlmarathon im Studio 1
Am Sonntag war der Tag der Entscheidung
Im Studio 1 in Zürich Leutschenbach produzierte SF 1als Zentrum der Wahlberichterstattung eine Live-Sendung von 12 bis ca. 24 Uhr. Unterbrochen wurde sie nur durch die «Tagesschau», «Meteo» und Sport-Kurznachrichten.
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Das Studio 1 in Zürich Leutschenbach war am Sonntag Zentrum der Wahlberichterstattung.
srf
Marcus Knill war an Ort und Stelle und sammelte Impressionen.
Die Spannung nach wochenlangem Stress hinterliess Spuren
Nach dem stressigen Wahlkampf beobachtete ich die Parteipräsidenten am Wahlsonntag im TV Studio in Zürich.
Ich wollte wissen, wie sich die Dauerpräsenz der letzten Woche auf Verhalten und Rhetorik ausgewirkt hat.
Wie verhalten sich die Parteipräsidenten nach dem Dauerstress? Geht ihnen am Sonntag langsam die Luft aus?
Wie steht es mit der Konzentrationsfähigkeit im Endspurt nach allfälligen positiven oder negativen Resultaten?
Vorweg gesagt: Die Beobachtung im Studio war spannend und aufschlussreich. Ich konnte die Parteipräsidenten während mehreren Stunden erleben.
Augenringe, hektische Gesten, Konzentrationsschwierigkeiten: Auf den letzten Wahlpodien wirkten Darbellay, Brunner, Leuenberger und Co. ganz schön schlaff.
Jeden Abend eine Wahlveranstaltung
Den regenerierenden Schlaf zu finden, war manchmal schwer. «Ich achtete schon darauf, dass ich fünf bis sieben Stunden pro Nacht schlafen konnte», erklärte Leuenberger. Auch Martin Bäumle, Parteipräsident der Grünliberalen (GLP) wirkt ermattet:
Bäumle: «In der Tat war ich in den letzten Wochen fast jeden Abend unterwegs. Und natürlich geht das an die Substanz. Damit ich einigermassen ausgeruht bin, sind mir Ruhephasen und genug Schlaf wichtig.»
Ewig dieselben Diskussionen ermüden
Auch CVP-Chef Christophe Darbellay erklärte an einer Veranstaltung in Zürich am Dienstag, er leide unter dem aktuellen Schlafmanko. SP-Präsident Christian Levrat fühlt sich nicht schlapp: «Was mich ermüdet, sind die ständig selben Diskussionen Abend für Abend.»
Meist wisse er schon, wie seine politischen Gegner argumentieren würden. «Das ist langweilig und ermüdend», sagt Levrat.
(Ende Zitat)
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Einige Impressionen aus dem Fernsehstudio Zürich
Ich verzichte auf einen systematischen Rhetorik-Check aller Parteipräsidenten, dies würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich auf einige aufschlussreiche persönliche Hintergrundbeobachtungen.
Die Parteipräsidenten zeigten im Studio zahlreiche Muster aus dem Fundus der Politikerrhetorik.
Es gibt viele typischen Verhaltensweisen, die mir bei den Politikern aufgefallen sind:
- Von denen wird erwartet, dass sie aggressiv und kämpferisch sind. Ein typisches Beispiel: Christian Levrat (Parteipräsident der SP) griff einmal im Ring Toni Brunner (SVP) verbal an und warf ihm eine Fülle von Fehlleistungen seiner Partei an den Kopf.
- Ein Politiker muss fähig sein, seine Kernbotschaft immer wieder frisch und mit unterschiedlichsten Beispielen, so vorzubringen, als sei es das erste Mal. Für mich war erstaunlich, wie es sämtliche Parteipräsidenten fertig gebracht haben, Dutzende von Interviews immer wieder mit voller Präsenz so durchzustehen, als sei jede Antwort eine "Erstgeburt".
Ich bewunderte beispielsweise Martin Bäumle (GlP) aber auch Toni Brunner (SVP), wie sie die gleiche Kernbotschaft X mal neu präsentierten, obschon Befragung auf Befragung in loser überraschender Reihenfolge (Print-, Radio- oder TV Journalisten) folgte. Trotz des Wechselbades wurde die gleiche Botschaft jeweils adressatengerecht aufbereitet. Sicher waren die Antworten antizipiert.
- Eine offene Körpersprache (Gestik) signalisiert Sicherheit. Es wäre aber fragwürdig, die Politiker nur aufgrund dieser Körpersignale zu beurteilen, doch ist erwiesen, dass der Körper viel verrät. Die Körpersprache ist ein Geschehen und sagt viel aus über die innere Befindlichkeit einer Person. Sie sagt jedenfalls mehr aus als der Inhalt der Aussage. Diese innere Einstellung beeinflusst die Stellung des Körpers. Die Körpersprache hinterlässt bei den Adressaten Wirkung. So erbleichte das Gesicht von Flavio Pelli (FDP) nachdem die Hochrechnungen ihm eine Abwahl prognostizierten und er von einer Medienmeute gleichsam als Beute ungezählte Male Rede und Antwort stehen musste. Obschon man bei den Parteipräsidenten das hervorragende Durchstehvermögen bewundern konnte, zeigten sich ab und zu Ermüdungserscheinungen (Signale in der Stimme oder indem sie sich plötzlich mit den Händen auf dem Rücken gleichsam Halt geben mussten), auch bei den Siegern (Bäumle und Grunder). Emotional waren die Gewinner in einem Hoch. Schnellsprecher Bäumle wirkte besonders ruhig, überlegt und zeigte sich in Siegerpose. Bei Grunder wandelte sich die sonst eher aufgesetzte Freundlichkeit in ein stahlendes, freudiges Lachen.
- Von Politikern wird Begeisterung erwartet, so, dass ihre Worte leben.
Die Parteipräsidenten versuchten offensichtlich, Trauer oder Freude zu dosieren, so dass ich das Gefühl hatte, sie suchten die Balance finden zwischen Emotionen und Sachlichkeit. Nur Ueli Leuenberger (Grüne) mangelte es nach meinem Dafürhalten am feu sacré. Die schlechten Wahlresultate verstärkten diesen Eindruck.
- Druck (Ausdruck), Sendungsbewusstsein wird bei der Politikerrhetorik geschätzt.
Levrat, Brunner, Darbellay und Bäumle erfüllten diese Erwartung.
Zum Schluss erlaube ich mir noch, bei jedem Parteipräsidenten eine subjektive Zuschreibung, die ich nicht weiter kommentieren möchte und die auch nicht allzu ernst genommen werden sollte.
Christoph Darbellay: Wirkt wie eine Black-box. Ist stets für Ueberrschungen gut
Ueli Leuenberger: Bleibt unauffällig- hinterlässt keine Spuren
Hans Grunder: Gemütlich, väterlich, bemüht, Ruhe auszustrahlen
Fulvio Pelli: Intelligent, unberechenbar, kompliziert
Toni Brunner: "Sünneli" - unbedarft
Christian Levrat: Junger Jagdhund
Fazit:
Trotz des Marathons haben sich die Parteipräsidenten sehr gut gehalten. Die Argumentation habe ich in diesem Beitrag ausgeklammert. Mir wurde beim Studiobesuch einmal mehr bewusst, dass es einer grossen Erfahrung bedarf, um in der unnatürlichen Studioathmosphäre aber auch bei Stress- Situationen den Kopf bei der Sache zu haben. Wer glaubt, diese Kompetenz könnten wir- ohne Training - erwerben, ist sich nicht bewusst, dass wir das ABC der Medienrhetorik zusätzlich erwerben müssen.
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Nachtrag aus Basler Zeitung 24. Oktober. Martin Furrers Stimmungsbild stimmt mit der Realität überein und ist zudem sehr gut geschrieben.
Plastik, Sperrholz und ein Marathonmoderator
Das Fernsehstudio Leutschenbach – Besichtigung einer Fabrik der Träume und Tragödien
Von Martin Furrer, Zürich
Das Zentrum des Zentrums, der Brenn- punkt aller Brennpunkte, die Mitte der Schweiz liegt nicht auf der Älggialp, Kanton Obwalden, nicht auf dem Rütli, schon gar nicht in Bern. Das Zentrum des Landes liegt im Fernsehstudio Leutschenbach, Stadtteil Seebach-Schwa mendingen, Zürich.
Hier, im Norden der Stadt, raucht die städtische Kehrichtverbrennungs- anlage, hier bieten Garagen Pneuwech- sel an, hier produziert die Bewusstseinsindustrie nach dem Drehbuch der Poli tik einen unerhörten Film:
Er heisst «Entscheidung 2011».
Kamera läuft, Scheinwerfer an
Es ist ein Film, an dem viele Protago nisten beteiligt sind – hohe Politiker, kleine Parteiadlaten, Moderatoren, Ge- neralsekretäre, Fotografen, Journalis- ten aus allen Landesteilen, sogar ein Vertreter der «Kuwait News Agency», Bürger, Politexperten – selbst ein drei- einhalb Monate altes Mädchen darf mit- machen, Johanna heisst es. Ihr Vater, ein Zürcher Kandidat der Grünliberaen, schiebt das Kleinkind durchs Stu- dio. Leutschenbach, die Fabrik, öffnet ihre Tore am Wahlsonntag ganz, ganz weit.
Am Eingang steht zwar Sicherheits- personal mit Metalldetektor, das sogar einen wie CVP-Präsident Christophe Darbellay zuerst abweist, weil er keinen Ausweis auf sich trägt, aber nach kurzem Insistieren ist der Weg frei, guten Tag, Schweiz, hereinspaziert, Kamera läuft, Licht aus, Scheinwerfer an.
Zoom auf den Moderator
Im Studio eins sitzt an einem Kommandopult Urs Gredig (41). Er hat e nen Zwölfstundentag vor sich, er moderiert die Wahlsendung von Anfang bis Ende, er lächelt, während um ihn herum Kameras tanzen und Zuschauer hinter den Kulissen ins Studio spähen. Es ist das totale Durcheinander, und Gre- dig ist total entspannt. «Die erste Hoch rechnung aus dem Kanton Bern ist eingetroffen», sagt er jetzt, «es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab.»
Die Kamera zoomt auf den Marathon-Moderator, «Digipower 27» steht darauf, das Ding sieht aus wie ein Rake tenwerfer, der gleich feuern wird, alle Mann in Deckung. Gredigs hellblaue Augen blitzen auf, er zoomt zurück, sei ne Blicke scheinen die Kamera geradezu zu verschlingen, nicht ängstlich, sondern liebevoll, «und nun zu unserem Korrespondenten aus der Ostschweiz».
Im Studio, heute das Bundeshaus im Quadrat, Parlament und Nachrichtenbörse und auch ein bisschen Schlachtfeld, auf dem Sieger und Besiegte, Ver wundete und Davongekommene auftreten, riecht es seltsam. Es riecht nicht nach Pulverdampf, sondern ganz leicht nach PVC, und das hat seinen Grund. Völlig neu konzipiert, designt und konstruiert sei das Interieur, sagt Dani Richiger, Kommunikationsleiter der TV-Produktionsfirma tpc. Zehn Tonnen Material wurden in den vergangenen acht Tagen hier verbaut, «vor allem Plastik, Sperrholz, Plexiglas». Das Studio umfasst stolze tausend Quadratmeter, unterm Jahr gehen hier Sendungen wie «Benissimo» oder «1 gegen 100» über die Bühne, heute ist es «Entscheidung 2011», der Himmel hängt voller Leuchtkörper.
Spiel ohne Grenzen
Leutschenbach rückt alles ins beste Licht, Leutschenbach gibt alles, Leutschenbach läuft auf Hochtouren. Die Wahl als Spiel ohne Grenzen, und in der grossen Montagehalle, die zum Restau rant umfunktioniert wurde, gibts Kartoffelsalat und Süsses à discretion und Kaffee und Getränke sowieso. Für 700 Personen sei gekocht worden, sagt ein Mitarbeiter.
Erfüllte und geplatzte Träume, all die grossen und kleinen Tragödien dieses Sonntags machen am Ende Hunger, Konkordanz ist auch das traute Zusammenstehen am Buffet, wo der zu rücktretende Solothurner FDP-Ständerat Rolf Büttiker fast eine Träne verdrückt. «Ein trauriger Tag», sagt er und nippt an seinem Kaffee, der die Nieder lage der FDP nicht verdauen hilft.
Puder und Make-up
Gredig hat jetzt ein paar Minuten Pause, sein Kollege Urs Leuthard analysiert mit dem Politexperten Claude Longchamp Resultate. Gredig, gebürtiger Davoser, Studium der Geschichte, Lizentiatsarbeit über «Davos im Zweiten Weltkrieg», kann sich nicht zurücklehnen, denn sein Sitz hat keine Lehne, er gleicht einem Barhocker. Gredig gönnt sich einen Drink, Cola light aus der Plas tikflasche, dazu einen Bissen vom Sandwich, sein linkes Bein streckt er kurz aus wie ein Fussballer, der die Muskeln lo- ckert. Er tut es ganz unangestrengt. Kommt der Mann denn nie ins Schwitzen?
Nein, niemals. Dafür sorgen zwei Damen in der Maske, die wissen, wie man Moderatoren und auch Politiker schön zurechtmacht.
«Das Wichtigste ist, dass sie nicht glänzen», sagt die eine, «wenns pressiert, legen wir ein bisschen Puder auf, wenn wir Zeit haben, reichts für eine Grundierung mit Make-up.»
Plötzlich zucken Blitzlichter, kräftige Männer scheuchen Fotografen zur Seite, mitten im Pulk FDP-Präsident Fulvio Pelli, er sei abgewählt, heisst es. Der Tessiner flüchtet in einen Gang, vorbei an Türen, die beschriftet sind mit «Kostüme», «Sanitätsraum», «Lichttechnik», und verschwindet.
Marcus Knill hat das Treiben beobachtet, der Kommunikationsexperte sagt: «Das sind Szenen wie aus einer Treibjagd, die Journalistenmeute jagt ihre Beute.»
Da kommt Sportmoderator Beni Thurnheer um die Ecke, «ich habe nichts mit Politik zu tun», sagt er, gesteht dann aber, dass «die Welt für mich nicht am Strafraum aufhört». Er habe «weder SVP noch SP, sondern die Mitte gewählt», erklärt er und zieht ab.
Gredig, der sich einen Monat auf den Einsatz vorbereitet, Kandidatennamen auswendig gelernt, Fakten gebüffelt hat, sitzt noch immer im Studio, wie frisch gebügelt. Um Mitternacht ist end lich Schluss. Doch Leutschenbach sendet weiter: «Verrat auf höchster Ebene», heisst der Film. Es geht nicht um Politik, es ist ein Agententhriller.
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