Vorlesungen unter der Lupe
Im Tagesanzeiger online lese ich heute eine aufschlussreiche Kritik von Vorlesungen. Wer sie durchliest, erkennt die häufigsten Fehler der Dozenten. Persönlich hospitiere ich seit Jahren Dozenten und Dozentinnen. Immer wieder geht es um ähnliche Schwachpunkte: 1. Vorlesungen werden abgelesen und der Dozent spielt gleichsam eine CD ab, anstatt sich in den jeweiligen Gedanken zu versetzen und diesen Gedanken NEU zu produzieren.
2. Charts sind überfüllt (Infofülle satt sinnvolle Reduktion)
3. Start und Schluss wird zu wenig ernst genommen
Lesen Sie folgende Kritik und überlegen Sie sich, wie sich der Auftritt in einem Hörsaal optimieren lässt.
Jakob Tanners Blick in die Runde
Geschichtsprofessor Jakob Tanner betritt den Raum und murmelt eine Begrüssung, die keiner erwidert. Der Titel der Veranstaltung ist «Künstliche Paradiese», es geht um Drogen und Sucht in den letzten dreihundert Jahren. Nach zehn Minuten erkundigt sich Tanner, ob jemand eine Frage habe, sein Blick gleitet über die Köpfe wie ein Suchscheinwerfer. Niemand will etwas wissen.
Tanner spricht schnell und frei, oft schlägt er Brücken zur Gegenwart, hüpft vom Opiumkrieg zur Frankfurter Buchmesse, von der 4-Säfte-Lehre zur Naturheilkunde. Er verzichtet auf Fachbegriffe, doch bringt er Wörter ein, die schon fast verschwunden sind. Begriffe, welche die Zeit spiegeln: Giftbude, Irrenarzt, Saufteufel. Nach einer Stunde erkundigt sich Tanner erneut, ob jemand eine Frage habe. Die Arme bleiben unten. Er schweigt wie ein Redner im Theater und schaut in die Runde, von Gesicht zu Gesicht, während einer Ewigkeit von fünfzehn Sekunden. Dann sagt er: «Falls tatsächlich niemand eine Frage hat, fahre ich fort.»
Dass der Herr im schwarzen Jackett früher roter Tanner genannt wurde, erahnt man nur an einer Stelle. Tanner sagt über den Zürcher Psychiater Auguste Forel: «Er war gegen die Profitsucht.» Und fügt halblaut an: «Wie Forel das durchaus adäquat formulierte.» Tanner ist ein guter Redner ohne Angst vor Anekdoten, sein Vortrag regt an wie eine Zigarette, wenn man selten raucht. Manchmal allerdings hört man so viele Jahreszahlen, dass man sich an einen Bingo-Abend versetzt fühlt, aber einem Historiker muss man das verzeihen. Kurz: Man würde diese Vorlesung freiwillig besuchen. Damit ist sie die grosse Ausnahme. Note: 5,5
Josette Baers stockende Stimme
Privatdozentin Josette Baer trägt Schwarz und steht in einem Saal, der wirkt wie eine Aussenstelle der TV-Kindersendung «Tigerenten Club»: grüne Tische, rosa Wände, grosse Lautsprecher. Baer führt in die politische Philosophie ein, als Hilfsmittel dient ihr eine Powerpoint-Präsentation, die so überladen ist, dass man vor Buchstaben den Sinn nicht sieht. Sie liest das Skript vor und schaut in die Menge wie eine Nachrichtensprecherin. Es ist, als plädierte sie für die Abschaffung ihrer Vorlesung, das Skript liesse sich genauso gut zu Hause lesen. Spannend ist die Vorlesung nur, wenn die Studenten tuscheln und Baer ruft: «Ich mag es nicht, wenn Sie tuscheln!» – «Lassen Sie mich bitte ausreden, bitte!» – «Schschsch!»
Baer tut viel für die Langeweile: Sie redet so, dass man sie ohne Fremdwörterduden nicht versteht. Sie spricht ein Deutsch so hölzern, als rezitierte sie einen Brief der Stadtverwaltung. Sie blendet Zitate ein, die nach viel tönen, aber bestenfalls dadaistisch sind: «Das eigentümliche Werk eines Zusammengesetzten muss daher selbst ein Zusammengesetztes sein.» Zitate, die den BullshitDetektor aufheulen lassen müssten, doch es bleibt still im Saal, vom Getuschel abgesehen. – «Schschsch!»
Baer spricht mit angenehmer, deutlicher Stimme über Aristoteles und Platon, nimmt dabei aber nie Bezug zur Gegenwart. Sie stellt eine einzige Frage und muss lange warten, bis sich jemand meldet. Fazit nach dreissig Seiten Powerpoint: Eine Vorlesung, bei der sich nach vier Minuten rasende Kaffeelust einstellt. Eine Vorlesung, bei der man sich Zündhölzer zwischen den Lidern wünscht. – «Schschsch!»
Note: 2,5
Ulrike Babusiaux: Römisches Recht rockt
Manchmal ist ihre Rede von so vielen Lateinvokabeln durchsetzt, dass sie die Vorlesung in Latein halten könnte. Hin und wieder klingt die Vorlesung wie der Vortrag eines Strebers, der zu viel recherchiert hat und dem Publikum auch das letzte Faktenpartikel nicht vorenthalten will. Mehr lässt sich an Rechtsprofessorin Ulrike Babusiaux' Veranstaltung über römisches Recht nicht aussetzen. Sie spricht frei und schnell, blickt interessiert und lächelnd ins Publikum, hat Pep und Passion, stellt und beantwortet viele Fragen.
Die Materie ist trocken wie der Staub auf dem Forum Romanum, doch Babusiaux schafft es, die Studenten mitzureissen. Mal mit Übertreibung, mal mit Witz, mal mit Gefühl. Dabei ergänzen sich Inhalt und Form der Vorlesung: auf der einen Seite die Juristen des alten Rom, die mit ihren geschmeidigen Voten die Richter auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Auf der andern Seite die junge Professorin, die mit ihrer geschmeidigen Vorlesung die Studenten vom Schlaf fernhält. Was nicht bei allen gelingt: In dem Saal mit etwa hundert Studenten schläft einer nach einer Viertelstunde ein.
Note: 5
Mit Hans Peter Wehrli im Marketing-Morast
Wirtschaftsprofessor Hans Peter Wehrli redet in eine schwafelnde Menge hinein. Es geht um: Ökomarketing, Profitmarketing, Standortmarketing, Technologiemarketing, Telemarketing, Theatermarketing, Universitätsmarketing, Verbandsmarketing, Verlagsmarketing. Wehrli geht auf und ab, während er spricht. Dies ist der einzige dynamische Aspekt seiner Vorlesung.
Er hält den Kopf gesenkt, seine Stimme klingt deshalb ein wenig froschartig. Er spricht träg und plump, lustlos und langweilig. Er vernuschelt das Ende seiner Sätze, als wollte er sich nicht einmal selbst zuhören. Seine Rede besteht zur Hälfte aus vier Bausteinen: zum einen aus dem Wort Marketing, zum andern aus den Einsprengseln «äh», «also» und «oder». Das klingt so: «Wir müssen feschthalten, äh, dass wir im Marketing, also, viele Perschpektiven haben, oder.»
Langsam schwillt das Gemurmel an, und Wehrli gibt Kontra: «Was meinen die schwatzenden Herren da oben?» Dennoch wird es lauter im Saal, und Wehrli geht in die Offensive: «Wir sind hier in der Marketingvorlesung!» Für einige Minuten ist es still, Wehrli illustriert die Theorie mit einigen Beispielen, dann ertönt endlich der Pausengong.
Note: 2,5
(Tages-Anzeiger)
Was haben Sie festgestellt? Bitte mailen Sie mir Ihre Zusatzerkenntnisse:
---> k-k@bluewin.ch (Stichwort Vorlesung)
Ich werde Ihre Gedanken später publizieren.
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