Kolumnen von Pedro Lenz
Quelle Blick.ch:
Simi – Wie ein Mauersegler Am Anfang nannten ihn alle Harry Potter. Für einen Spitzensportler ist so ein Spitzname die absolute Höchststrafe. Was konnte Simon Amman dafür, dass Swiss Olympic die Athleten 2002 in derart lächerliche Mäntel gekleidet hatte? Nichts! Ammann ist genau das Gegenteil von Harry Potter, er ist nicht Phantasy, er ist Reality. Etwas ist es nämlich, als Aussenseiter an Olympia zwei Goldmedaillen zu gewinnen. Und etwas ganz anderes ist es, einen solchen Erfolg zu verdauen und über all die Jahre zu bestätigen. Ein verträumter Schulbub wie Harry Potter hätte das nie geschafft, ein Mann wie Simon Ammann schon. Der Bauernsohn vom Toggenburg hat in seiner Karriere manche Durststrecke durchgestanden. Er sah grosse Stars kommen und gehen. Es gab Winter, da schien es, als klebe ihm Blei an den Füssen. Aber Ammann ist noch immer da und fliegt sogar dann aufs Podest, wenn es ihm nicht rund läuft. Man merke erst, wie wichtig eine Medaille sei, wenn man sie nicht gewinne, sagte er am Samstag. So redet einer, der Höhen und Tiefen erlebt und verarbeitet hat. Oft heisst es, Skispringer seien Wahnsinnige. Die ständige Nähe zum Himmel, lasse sie die Bodenhaftung verlieren. Die Geschichte dieses Sports, weiss von manchem gefallenen Engel zu erzählen. Simon Ammann ist auch ein Himmelstürmer, aber einer, der oben bleibt. Dazu braucht es den richtigen Kopf und die richtige Lebenseinstellung. Ammann hat beides. Für ihn gilt, was die Vogelwarte Sempach über den Apus apus schreibt: «Kein Vogel ist mehr auf das Leben in der Luft ausgerichtet als der Mauersegler.» Diese WM-Bronzemedaille auf der Normalschanze ist die endgültige Bestätigung einer Karriere, die 2002 in Salt Lake City fulminant begann und hoffentlich noch lange andauern wird. Nicht von der Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling können wir etwas über Simon Ammann lernen, sondern von der Vogelwarte Sempach!
Lustvoll leiden in Langnau In den 80er-Jahren gingen die Hockeyfans ins Hallenstadion, um zu leiden. Der alte Z war ein Club, den man als Fan nur mit einer gut ausgebildeten Leidensbereitschaft ertragen konnte. Die Zürcher waren zu gut für die Nationalliga B und doch nicht gut genug für die Nationalliga A. Manche Fans verzweifelten und immer wieder hörte man auf der Tribüne irgendeinen verbitterten Zuschauer schwören, das sei sein letzter Match, er komme nie mehr. Doch beim nächsten Spiel stand er wieder da und litt mit allen andern mit. Später kamen das Geld von Walter Frey, ein paar Meistertitel und der Sieg in der Champions League. Nur etwas kam nie mehr zurück, der Zauber jener Zeit, in der alle Zürcher mit dem ZSC zitterten. Niemand wusste damals zu sagen, ob die Tränen in den Augen der Fans mit dem Spiel oder mit dem allgegenwärtigen Zigarettenrauch zu tun hatten. Heute braucht in Zürich niemand mehr zu weinen. Trotzdem dürfen wir vermuten, dass in manchem B-Spiel gegen Langenthal oder Siders mehr literarischer Stoff lag als im aktuellen Europacupsieg. Was der Z in den 80ern war, sind heute die Tiger. Im Unterschied zu den Lions haben die Tiger ihren Raubkatzennamen ursprünglich nicht der sprachlichen Anbiederung an die USA zu verdanken, sondern einem Schachtelkäse. Und wie so ein Schachtelkäse an der prallen Sonne schmilzt gegenwärtig der Vorsprung der Langnauer auf den Strich in der Tabelle. Aber selbst wenn es dem SCL auch diesmal nicht in die Playoffs reichen sollte, wird das Feuer im Tal weiter brennen – vielleicht gerade deswegen! Die Leidenschaft am Ufer der Ilfis ist vergleichbar mit der Leidenschaft, die Langnau Trainer Weber als junger Spieler in Zürich erlebt hat. Es ist eine Leidenschaft, die im Scheitern wächst, eine Leidenschaft, die von tief unten kommt und den Erfolg insgeheim fürchtet.
Die Angst des FCB vor Carlos «El Cid» Varela Kennen Sie den spanischen Nationalhelden El Cid? Die Taten dieses tapferen Ritters wurden in unzähligen Epen besungen und später mit Charlton Heston verfilmt. Sogar nach dem Tod des Cid sollen seine Feinde vor ihm gezittert haben. Für seine letzte grosse Schlacht wurde der bereits verstorbene Ritter einbalsamiert und auf ein Pferd gebunden. Als die Gegner den toten Reiter erblickten, glaubten sie an eine Erscheinung und ergriffen panikartig die Flucht. Der Geist des Cid Campeador hatte die Schlacht entschieden. Das Spitzenspiel am Samstag im Berner Wankdorf wurde auch von einem spanischen Geist entschieden. Über dem satten Grün des Kunstrasenteppichs hing bedrohlich der Geist von Carlos Varela. «Varela! Varela! Varela!», riefen die Berner Fans schon vor dem Spiel, weil alle wussten, dass der schnelle Heisssporn an diesem kühlen Abend ganz besonders heiss sein würde. Varela wird es richten, sagten sich die Berner Fans. Denn gegen einen, der sogar die Basler in der eigenen Mannschaft schlägt, wird der FCB kein Mittel finden. YB-Trainer Petkovic muss ebenfalls gespürt haben, dass Varela in diesem Spiel eine Sonderrolle zukommt. Weil Petkovic ein feinsinniger Mensch mit humanistischer Bildung ist, wusste er wohl um die Legende vom Cid. Vor dem Spiel muss der YB-Trainer sich gefragt haben, was er an diesem Abend von Varela braucht. Die schnellen Beine? Das Temperament? Den Torriecher? Die Aggressivität? Nein, nichts von alldem. Er brauchte nur den Geist des Spaniers. Der Varela-Geist hat den FCB besiegt. Natürlich waren es letztlich Varelas Kollegen, die es auf dem Platz gerichtet haben. Ohne den coolen Heber von Häberli hätte es nicht zum Sieg gereicht. Doch entschieden war der Match schon vor dem Anpfiff: Die Angst der Basler vor dem grossen Abwesenden glich der Angst der Mauren vor dem toten Rodrigo Díaz de Vivar, besser bekannt als El Cid.
Tränen für die Zukunft Fast alle legendären Sportstars hatten legendäre Gegenspieler. Wahre Grösse misst sich an den jeweiligen Gegengrössen. Ohne Liston, Frazier oder Norton wäre Muhammad Ali nicht unsterblich geworden. Heute wissen wir, dass Ali der grösste Boxer aller Zeiten ist. Aber in den frühen 70er Jahren, als er von Frazier und Norton verprügelt wurde, konnte man das noch nicht wissen. Die grössten Sportler kennen nicht bloss hervorragende Gegner, sie kennen auch die Niederlage und das Comeback. Ali kam aus dem Gefängnis zurück, Niki Lauda kam aus der Feuerhölle am Nürburgring zurück. Beide schafften es danach wieder ganz an die Spitze. Das alles müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir auf den gestrigen Final von Roger Federer gegen Nadal zurückschauen. Der Schmerz über die Niederlage ist vorübergehend. Federer hat einen grossen Gegenspieler. Nadal ist der Joe Frazier der Gegenwart. Er ist stark, er ist jung und er gewinnt. Siege wie der gestrige werden Nadal einen Ehrenplatz in der Sportgeschichte sichern. Aber der Grösste, der Unerreichte, der Muhammad Ali des Tennissports wird am Ende Roger Federer sein. Federer war lange unbestritten die Nummer Eins. Dann kamen Nadal und das Drüsenfieber. Das Fieber verging. Nadal blieb. Das ist hart für Federer. Aber es wird ihn noch grösser machen. Sportler die nur siegen haben etwas Seelenloses. Müssen Sie nicht auch eine Weile nachdenken, bis Ihnen der Name des Superschwimmers einfällt, der an den Olympischen Sommerspielen 8 Goldmedaillen gewann? Und warum? Weil er ein Langweiler ist! Ein grosser Sportler steht nach Niederlagen wieder auf. Federer ist nach Wimbledon wieder aufgestanden – und wie! Er wird auch nach Melbourne wieder aufstehen, das ist gar keine Frage. Die Tränen, die er gestern vergossen hat, bewässern schon den Garten künftiger Grand-Slam-Siege.
Von Gut bis grossartig In einem Punkt waren wir Experten uns schnell einig: Bei den Schweizerinnen heisst der Skistar in diesem Winter Lara Gut. Klar wussten wir, dass da irgendwo noch eine begabte Engelbergerin mitfährt. Ein Multitalent, hiess es, eine exzellente Golferin, waghalsige Pilotin, angehende Physikerin und überaus begabte Abfahrerin. Trotzdem fiel es uns schwer, den Namen dieser Wunderfrau im Kopf zu behalten. Die mag ja talentiert sein, sagten wir, doch gleichzeitig dünkte uns, sie hätte mehr Knieoperationen als Weltcuppunkte. Wir Lehnstuhlsportler, die schon beim kleinsten Wetterwechsel über Gelenkbeschwerden jammern, konnten uns einfach nicht vorstellen, dass jemand mit derart oft zusammengeflickten Knien noch Spitzensport betreiben kann. Den Namen Dominique Gisin verbanden wir eher mit einem Ärzterapport als mit einer Rangliste. Selbst als Dominique Gisin vor einer Woche ihre erste Weltcupabfahrt gewann, hatten wir es noch nicht ganz begriffen. Unsere ganze Aufmerksamkeit galt dem glänzenden Lauberhornsieger Didier Défago. Und nun ist es schon wieder passiert. Schon wieder fährt Gisin zum Sieg und schon wieder steht sie im Schatten des neuen Superstars DD. Wie ist doch die Welt zuweilen gemein! Noch letzte Saison hätte hierzulande ein einziger Weltcupsieg gereicht, um alle Titelseiten helvetischer Hochglanzheftchen zu besetzen. Jetzt gewinnt Dominique Gisin gleich zwei Abfahrten nacheinander, aber sie bleibt im Schatten, in diesem unendlich langen Schatten, den nur skigeographische Kultstätten wie Wengen und Kitzbühel werfen können. Dominique Gisin ist grossartig! Sie soll wissen, dass sie in mir einen echten Fan hat, der trotz Lauberhorn- und Hahnenkammeuphorie nicht vergessen hat, vor ihr in die Knie zu gehen. Wobei es bei meinen rheumatischen Knien wohl besser ist, wenn ich stattdessen den Hut ziehe: Chapeau, Dominique!
Pedro Lenz ist Schriftsteller und wohnt in Bern. Während der EM schrieb der 44-Jährige in der Kolumne «Kopfstoss» täglich für den BLICK. Lenz war nominiert für den Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb in Klagenfurt.
Didi D. did it! In besseren Zeiten hatten viele Stars verdoppelte Initialen. Jeder Filmfan wusste etwa, dass mit BB nur Brigitte Bardot oder mit CC nur Claudia Cardinale gemeint sein kann. Liebhaber des runden Leders dagegen denken bei CC instinktiv an Christian Constantin, oder bei HH an Heinz Hermann. Seit Samstag kommt im Skisport das doppelte D dazu. DD wird ab jetzt immer mit Didier Défago in Verbindung gebracht werden. Der bärenstarke Walliser, den fast niemand auf der Rechnung hatte, ist über Nacht zum Star geworden. Dabei ist Didier Défago weiss Gott kein Neuling. Wir kannten ihn seit gefühlten fünfzig Jahren. Aber wenn im Fernsehen sein Name eingeblendet wurde, gingen wir meist für eine Zigarettenpause auf den Balkon. Wir wollte ja nicht Cuche oder Bode Miller verpassen. Deswegen hat uns Défagos Sieg im ersten Moment ein bisschen durcheinandergebracht. Es war fast, als hätte für einmal nicht Derrick, sondern Assistent Harry den Fall gelöst. Défago war im Zielraum. Er hatte bereits gewonnen. Aber das Publikum in Wengen wusste es noch nicht und wartete auf einen anderen Sieger. Es erinnerte ein bisschen an die Kindheit, wenn wir zwar ein schönes Weihnachtsgeschenk erhalten hatten, aber insgeheim hofften, irgendwo unter dem Baum liege eines, das noch schöner und noch grösser sei. Das leicht irritierte Verhalten von Teilen des Publikums und mancher Moderatoren war ungerecht gegenüber dem diskussionslosen Sieger. Défago selbst hat es allerdings anders gesehen: «Mit dem Publikum isch sicher super eso, wenn die singen die Namen und so, es isch wie ein grosses Fussballstadion. Die einzige Sache, ich bin allein unten. Eh?!» Nein, du bist nicht allein. Wir alten BB- und CC-Fans wollen dir die Treue halten und bekräftigen es mit einem kleinen Stabreim: Danke DD und denk daran, die deinen drücken dir die Daumen.
Der Jammeri vom Luganersee Im Sport gibt es Erfolgreiche und Erfolglose. Und im Sport gibt es Beliebte und Unbeliebte. Interessanterweise muss das eine mit dem andern überhaupt nichts zu tun haben. Manche Sportler reihen Erfolg an Erfolg und trotzdem mag sie kaum jemand. Zu denen, die fast alles gewonnen haben, ausser die Herzen der Masse, gehört zweifellos John Slettvoll. Der Mann hat weniger Sexappeal als eine Eisreinigungsmaschine. Wegen seiner Erfolge wurde er von vielen Hockeyfans immerhin noch respektiert, zumindest bis jetzt. Denn nun, da er beleidigt wie ein Teenager von Lugano weggelaufen ist, verliert er auch noch unseren Respekt. Einst wurde John Slettvoll der Magier genannt. Inzwischen ist er nur noch der Gränni, um es im Dialekt von Hanspeter Latour zu sagen. Ein Mann wie Slettvoll, der sein halbes Leben dem Berufssport widmet und sich dann plötzlich derart verbittert über die Usanzen dieses Milieus beklagt, ist mehr als en Gränni, er ist ein naiver Gränni. Was ist denn passiert? Slettvoll hätte bis Ende Saison den HC Lugano trainieren sollen. Er hat gehofft, danach gehe es noch eine Weile mit ihm weiter. Aber die Klubführung wollte für die kommende Spielzeit einen anderen Schweden an der Bande. Solche Dinge passieren im Profisport täglich. Doch Slettvoll passt der Stil nicht. Er sei über die Pläne seiner Chefs nicht frühzeitig informiert worden, klagt er. Wissen wir immer frühzeitig, was unsere Bosse mit uns im Schilde führen? Könnten die gewöhnlichen Arbeitnehmer einfach davonlaufen, wenn sie auf Umwegen vernehmen, dass es bald Veränderungen im Betrieb gibt, stünden bald sämtliche Unternehmen in diesem Land still. John Slettvoll hat zweifellos grosse Verdienste. Die erfolgreichste Zeit des HC Lugano trug seine Handschrift. Aber nun wird er uns als Mimose in Erinnerung bleiben. Es ist zum Heulen.
«Im Unterland war gestern Sonntag wieder einer dieser, kalten, nebligen Sonntage, an denen man nicht einmal einen heissblütigen Kampfhund vor die Türe schicken möchte. An so einem Tag hat der echte Sportsfreund genau zwei Möglichkeiten: Entweder er fährt in die Berge oder er holt die Berge zu sich runter. Wir, die wir uns aus mangelndem Antrieb für die zweite Möglichkeit entschieden haben, hatten nichts zu bereuen. Die TV-Reise hat gut getan. Wohl mussten wir zunächst in Innsbruck ein wenig mit Simon Ammann leiden. Dafür wurden wir anschliessend in Val di Fiemme von Dario Cologna mehr als entschädigt. Wer denn dieser Cologna sei, fragte am Abend ein heimkehrender Skitourenfahrer, als er an meinem Balkon das Transparent las, auf das ich mit Fingerfarbe geschrieben hatte: «Zwischen Stockholm und Bologna – heisst der neue Star Cologna!» Wer ist Cologna? So eine Frage! Das ist genau das Problem bei den Hobbysportlern: Sie sind zwar immer aktiv. Dafür fehlt ihnen dann die Zeit für einen seriösen Fernsehsportkonsum. So kommt es, dass sie zuletzt eine Skitour nicht von einer Tour de Ski unterscheiden können. Also für alle, die es noch nicht gemerkt haben: Eine Tour de Ski ist etwas wie eine Tour de France auf Schnee, aber internationaler, weil sie in mehr Ländern stattfindet. Nur die Weltbesten nehmen teil und wer die Tour gewinnt ist der kompletteste Langläufer der Gegenwart. Dario Cologna aus dem Val Müstair, der vier Sprachen beherrscht und aussieht wie ein Hugo Koblet der Loipe hat gestern nicht bloss die Tour de Ski gewonnen. Er hat uns den Sonntag gerettet. Wir Passivsportler, die wir fast nichts über Langlaufsport und fast alles über Legendenbildung wissen, wir ahnen, dass wir gestern der Geburtsstunde einer neuen Legende beigewohnt haben.»
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