Die Flüchtlinge werden zur Kanzlerfrage
Angela Merkel erkennt allmählich, dass sie sich verrannt hat.
Kann Angela Merkel stürzen? Korrespondent Dominique Eigenmann über den jüngsten Streit in der Regierungskoalition und über die Stimmung in Deutschland, wo weiterhin 8000 Flüchtlinge pro Tag ankommen.
Von aussen sieht es zumindest so aus, besonders, was die Kommunikation betrifft. Am vergangenen Donnerstag war es der Regierungskoalition gelungen, einen wochenlangen Streit über die Flüchtlingskrise zu beenden, und schon am nächsten Tag hat der Innenminister einen neuen Streit vom Zaun gebrochen. Dahinter steckt allerdings nicht das nackte Chaos, sondern eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den richtigen Kurs in der Flüchtlingskrise. Und bei dieser Auseinandersetzung geht es nun wirklich ans Eingemachte.
Inwiefern?
Es gibt in Deutschland zwischen 250'000 und 350'000 Flüchtlinge aus Syrien. Ob sie ihre Familien nachziehen dürfen, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie viele Personen zusätzlich nach Deutschland kommen und wie stark die Integrationskraft der deutschen Gesellschaft zusätzlich beansprucht wird.
Wenn jeder syrische Flüchtling drei Angehörige nachzieht, sprechen wir von rund einer Million zusätzlichen Einwanderern. Hatte de Maizière angesichts dieser Zahl recht mit seinem Vorstoss?
Im Moment können die Syrer gar keine Angehörigen ins Land holen, weil ihre Verfahren noch nicht abgeschlossen sind. Aber sofern man den syrischen Flüchtlingen dieses Recht irgendwann einräumt, geht es tatsächlich um Hunderttausende Menschen. Angela Merkels Zusage, dass syrische Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland Schutz verdienen, war zumindest implizit mit dem Versprechen des Familiennachzugs verbunden. Der neueste Streit innerhalb der Koalition ist also entscheidend für das Signal, das Deutschland in die Welt aussenden will – und für die Frage, was Merkels Wort überhaupt noch wert ist.
Langjährige Beobachter sagen, es fühle sich an wie in den Jahren nach dem Mauerfall.
Man spricht in Deutschland immer häufiger und lauter von Kanzlerdämmerung. Glauben Sie, Merkel könnte stürzen?Sicher ist, dass diese Krise ihre Kanzlerschaft grundlegend verändert. Wie man Merkels politisches Vermächtnis dereinst beurteilen wird, hängt entscheidend von ihrem Umgang mit den Flüchtlingen ab. Sicher ist auch, dass ihre für europäische Verhältnisse bisher einzigartige Popularität gelitten hat. Aber Merkel weiss noch immer rund die Hälfte der Bevölkerung hinter sich, und ihr Koalitionspartner, die SPD, hat kein Interesse daran, sie fallen zu lassen, weil im Moment niemand Neuwahlen will. Insofern könnte Merkel mit ihrem Koalitionspartner gegen die eigene Partei regieren, wie es Gerhard Schröder seinerzeit bei der Agenda 2010 getan hat.
Gibt es konkrete Versuche, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen?
Auch wenn es Merkel nicht laut ausspricht, ist sie sich sicherlich bewusst, dass sich die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge deutlich verringern muss. Gegenwärtig dreht sie an mehreren Schrauben, um dieses Ziel zu erreichen. Durch das Massnahmenpaket, das die Koalition letzte Woche verabschiedet hat, wird Deutschland zum Beispiel erstmals seit 1945 Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende sogenannter Wirtschaftsmigranten aus dem Westbalkan und aus Afrika zurückschaffen. Natürlich ist der Familiennachzug auch eine dieser Schrauben, an denen die deutsche Regierung drehen könnte, wenn etwa die Verhandlungen mit anderen europäischen Ländern über eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge scheitern. Oder wenn sich die Türkei weigert, die Zahl der Migranten in die EU zu begrenzen.
Dann hat de Maizière womöglich etwas ausgeplaudert, was insgeheim zumindest als Notfallszenario bereits beschlossen ist.
Als Notfallszenario rückt die Einschränkung des Familiennachzugs ohne Zweifel in den Blick. De Maizière hat mit seinem Vorstoss dazu beigetragen, den zeitlichen Druck auf die Bundeskanzlerin zu erhöhen, wie es CSU-Parteichef Horst Seehofer schon seit Wochen tut. Das Interessanteste am gestrigen Tag war, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble spätabends am Fernsehen aufgetreten ist und de Maizière unterstützt hat. Das ist eine Kampfansage an Merkel von jemandem, der über grosse Macht verfügt und sich bisher zurückgehalten hat.
Verringert sich die Zahl der Flüchtlinge denn nicht im Geringsten?
Doch, im November wird sie voraussichtlich etwas kleiner sein als im Oktober. Aber mit rund 8000 Personen pro Tag ist sie noch immer enorm hoch.
Die SPD gibt sich bisher betont konziliant gegenüber den Flüchtlingen. De Maizières Forderung lehnen die Sozialdemokraten entrüstet ab. Politisiert die SPD an der eigenen Basis vorbei?
Zu einem guten Teil, ja. Laut Umfragen sind die Wähler der Sozialdemokraten angesichts der Flüchtlingskrise ebenso verunsichert und regierungskritisch wie jene der CDU. Deshalb laviert SPD-Chef Sigmar Gabriel auch stark herum. Er ist gespalten zwischen den Erwartungen seiner Partei und jenen seiner Wählerschaft. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die SPD in den Umfragen bisher nicht von der Flüchtlingskrise profitiert hat.
Wie verändert sich gegenwärtig die Stimmung in Deutschland?
Was man zunehmend spürt, ist eine grosse Ratlosigkeit und Verunsicherung – umso mehr, als die Aufgabe für Deutschland riesig ist und immer grösser zu werden droht. Ebenfalls stark zu spüren ist auch eine dezidierte Ablehnung rechtsextremer Äusserungen und Umtriebe in der Öffentlichkeit. Daneben gibt es aber selbst aus der Mitte der Gesellschaft immer mehr Personen, die sagen: Merkel spinnt. Das Ganze entwickelt eine enorme Dynamik. Langjährige Beobachter sagen, es fühle sich an wie in den Jahren nach dem Mauerfall: Man war sich damals bewusst, dass sich Deutschland grundlegend verändern wird, aber man wusste nicht, in welche Richtung. (Tages-Anzeiger)
KOMMENTAR:
Langfristig wird auch Deutschland sich wohl auf eine Begrenzung der Emigranten einigen. Europa kann nicht ALLEN Menschen Asyl gewähren, die sich eine bessere Existenz erhoffen oder in einer Diktatur leben. Sonst würde Europa überschwemmt. Die Probleme sind vorprogrammiert: Kosten, Wohnungen, Gesundheitswesen, Spannungen, Gewalt, Belastung des Schulsystems usw.
Europa wird nicht freiwillig die Einbusse ihres Wohlstandes auf sich nehmen.
Es würde mich nicht wundern, wenn die Frage der Personenfreizügigkeit- wie in der Schweiz - auch in anderen Ländern hinterfragt würde. Die Flüchtlingsproblematik ist nicht nur eine Kanzlerfrage. Sie wird die politische Landschaft völlig verändern. Ohne Begrenzung kommt es zu einem politischen Rechtsrutsch.
NACHTRAG aus Die ZEIT:
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