ANALYSEN
Tschanz und Niederhauser beleuchten Hildebrands letzten Auftritt. Aus meiner Sicht ist die Analyse in der NZZ lesenswert. (Gelb: Ergänzende Bemerkungen von mir)
Tschanz und Niederhauser beleuchten Hildebrands letzten Auftritt. Aus meiner Sicht ist die Analyse in der NZZ lesenswert. (Gelb: Ergänzende Bemerkungen von mir)
Quelle NZZ:
«Guten Nachmittag, guten Abend, meine Damen und
Herren. Es tut mir leid, dass ich sie schon wieder kurzfristig
eingeladen habe. Wir werden uns jetzt dann lange Zeit nicht mehr sehen.»
Beatrice Tschanz: Diese Vorbemerkung ist missglückt. Man merkt, dass er nervös ist, er zupft an der Uhr, den Manschettenknöpfen und am Mikrophon. Der sonst so ruhige Mann ist in Bewegung. Das passt alles nicht zur staatsmännischen Rede, die er anschliessend hält.
Tinu Niederhauser: Bevor er beginnt, entschuldigt er sich. Das ist die denkbar schlechteste Ausgangslage. Anschliessend sucht er den Kontakt zum Publikum, das finde ich sympathisch. Als er sich ans Rednerpult stellte, konnte man sehen, wie angespannt er war. Das kann man angesichts der Ausgangslage allerdings nachvollziehen.
Ergänzung Marcus Knill:
Die Stresssignale (Zupfen an den Manschetten usw.) sind vermeidbar, wenn der Start bewusster zelebriert wird: 1. Kleiderkontrolle auf der Toilette.Während der obligaten Startpause am Pult muss der Check gemacht werden: Bin ich locker? Wer ist im Raum? Atmen (Analog dem Startritual eines Spitzensportlers vor dem Startschuss: Erst dann folgt die Begrüssung. Stress können wir nur mit Entspannung beantworten. Uebrigens hat der humorvolle Satz "Wir werden uns jetzt dann lange nicht mehr sehen" die Situation entspannt. Das konnte man in den Gesichtern der Journalisten lesen (Schmunzeln).
Video: Der Prolog
«Ich bin stolz auf das, was wir bei der Schweizerischen Nationalbank erreicht haben»
«Geschätzte Damen und Herren. Ich bin stolz auf das,
was wir bei der Schweizerischen Nationalbank seit meinem Einzug ins
Direktorium im Jahre 2003 unterstützt durch das öffentliche Vertrauen
erreicht haben.»
Tschanz: Mit der Begrüssung verändert sich sein Tonfall, seine Körperhaltung. Er spricht über die SNB, das ist das Terrain, auf dem er sich sicher fühlt. Das zeugt von einem geschickten Aufbau der Rede. Solange er bei diesem Thema ist, merkt man nicht, unter welchem enormen Druck er steht. Sobald er über Persönliches zu sprechen beginnt, sieht man ihm an, wie schwer ihm das fällt. Er ist offensichtlich kein Mensch, der es gewohnt ist, sein Innerstes nach aussen zu kehren. Er wirkt in diesem Moment zwar nicht, als wäre er mit seinem Rücktritt versöhnt, aber das macht mir nichts aus. Das wäre auch kaum nachvollziehbar, denn nicht mal der Abt von Einsiedeln wäre dazu imstande.
Niederhauser: Jetzt beginnt er, eine geschriebene Rede abzulesen. Seine Glaubwürdigkeit sinkt in diesem Moment gegen null. Wenn er davon spricht, sein Amt habe ihn mit grosser Befriedigung erfüllt, kann ich keine Befriedigung sehen. Eigentlich sagt er in diesem Moment, ‹es war eine anstrengende Zeit, ich demissioniere›. Der Inhalt ist nicht kongruent mit der Emotion. Der Aufbau zeigt, fast wie in einem Drehbuch, ein retardierendes Element – er zögert den Moment hinaus, bis er zum Paukenschlag ansetzt.
Ergänzung Marcus Knill:
Nach meinem Dafürhalten ist erkennbar, dass Hildebrand die Pflichtübung seines Beraters erfüllt und den Stolz auf die Leistung der Nationalbank unterstreichen muss. Ich hätte auch empfohlen, das Positive der NB hervorzuheben. Was stört ist am Anfang der falsche Sprechrhythmus (Rhythmische Akzente stimmen nicht).
Video: Hildebrand erteilt Redeerlaubnis
«Jetzt haben wir noch Zeit für ein paar Fragen. Nachher muss ich leider ins Parlament.»
«Jetzt haben wir noch Zeit für ein paar Fragen. Nachher muss ich leider ins Parlament.»
Niederhauser: Es ist beeindruckend zu sehen, wie klar er in diesem Moment den Lead übernimmt. Eigentlich kommt er als Zuhörer in eine passive Rolle, aber er bleibt trotzdem Herr der Veranstaltung. Er zeigt klar, wessen Frage er beantworten will, er erteilt Rederecht.
Tschanz: Der Bruch zwischen seinem Referat und der Beantwortung der Fragen ist gering. Man merkt, dass er den Redetext selbst geschrieben hat. Das war keine fremde Vorlage, sondern Hildebrand himself. Er ist in beiden Teilen sehr souverän.
Ergänzung Marcus Knill:
Das "leider" hätte ich gestrichen. Die Einleitung zur Fragerunde ist o.k. Hildebrand führt, weil er nach dem Hinweis "Zeit für ein paar Fragen" jederzeit abbrechen kann, allenfalls mit dem Hinweis: Nun noch eine letzte Frage.
Video: Der einzige Stolperer
«Die zweite Frage … die Transaktion… was war die Frage genau?»
«Die zweite Frage … die Transaktion… was war die Frage genau?»
Niederhauser: «Der Journalist hatte ihm drei Fragen gestellt, nach der ersten hat er den Faden verloren. Das war zwar der einzige Moment, in dem er die Kontrolle über die Situation aus der Hand geben musste, aber das lege ich ihm nicht als Schwäche aus. Die Fragen waren komplex, die Situation insgesamt anspruchsvoll.
Ergänzung Marcus Knill:
Vor diesem Stolperer hatte Hildebrand plötzlich gemerkt, dass er die Antworten hätte notieren müssen. Dass er jedoch kein Schreibzeug hat. Nach der Fragekette verlangte er ein Schreibzeug. Dadurch hatte er den Faden verloren. Erkenntnis: Zur Vorbereitung gehört immer auch der Check hinsichtlich Notizmaterial?
Video: Gegen das Lehrbuch
«Ich habe nie in dieser Geschichte gelogen, im Vergleich zu vielen anderen.»
«Ich habe nie in dieser Geschichte gelogen, im
Vergleich zu vielen anderen. Aber die Tatsache ist, wenn ich als
Präsident des Direktoriums vor Ihnen stehe und einige von ihnen das
Gefühl haben, dass ich vielleicht doch lüge, und ich es empirisch nicht
beweisen kann, dann habe ich nicht als Mensch ein Problem, denn ich bin
mit mir im Reinen, aber ich habe potenziell als Präsident des
Direktoriums ein Problem.»
Tschanz: Das ist vielleicht der stärkste Moment des gesamten Auftritts. Er tut etwas, das laut Lehrbuch eigentlich nicht richtig ist: Er wiederholt den Vorwurf. Aber in diesem Moment war es richtig, er nennt das Kind beim Namen und verwendet das äusserst starke Wort «lügen». Das ist entwaffnend. Und es zeichnet einen grossen Redner aus, weil er situativ auch Regeln der Kommunikation verletzt. Auffällig ist auch, dass er den Journalisten persönlich anspricht. Zuvor hatte er schon seinen Kundenberater und seinen Anwalt beim Namen genannt. Das schafft eine grosse Verbindlichkeit.
Niederhauser: Ein starker Moment. Beinhaltet eine Botschaft eine Negation, wird diese jedoch häufig überhöht. Wenn jemand davon spricht, keine graue Maus zu sein, sieht man die graue Maus. Aber Hildebrand hebt diesen Effekt auf, nicht zuletzt dadurch, dass die Sprachmodulation sehr klar seinem Gestus folgt. Das Paraverbale stimmt mit dem Verbalen überein. Zudem geht er in einen Gegenangriff über. Aber er schiesst weder die SVP noch die «Weltwoche» direkt an. Das ist guter Stil, das ist souverän. Und bestimmt er mit der Aussage «… dann ist es Zeit zu gehen» selbst den Schluss des Auftritts.
Ergänzung Marcus Knill:
Mit der Wiederholung des Wortes Lüge begab sich Hildebrand auf dünnes Eis. Vor allem mit dem Satz: Ich habe nie gelogen. Diesen Satz hätte ich nicht gesagt. Zumal sich tatsächlich nach der Konferenz zeigte, dass er die Wahrheit verschleiert hatte. Es zeigt sich, dass zwar die Frau die Transaktionen tätigte, Hildebrand aber das Einverständnis dazu gab. In Krisensituationen gilt der Grundsatz: Alle Aussagen müssen "wasserdicht" sein. Ich muss aber nicht alles sagen, was ich weiss.
Mit der geschickten Formulierung ..."Im Vergleich zu vielen anderen" nannte Hildebrand keinen Namen. Die Journalisten wussten jedoch genau, wer damit gemeint war. Ich bezeichnete in verschiedenen Interviews diesen Auftritt als souverän. Hildebrands Argumentation sind ein Lehrstück für alle, die sich mit der Thematik MEDIENRHETORIK befassen.
Mit der geschickten Formulierung ..."Im Vergleich zu vielen anderen" nannte Hildebrand keinen Namen. Die Journalisten wussten jedoch genau, wer damit gemeint war. Ich bezeichnete in verschiedenen Interviews diesen Auftritt als souverän. Hildebrands Argumentation sind ein Lehrstück für alle, die sich mit der Thematik MEDIENRHETORIK befassen.
LINKS VON WEITEREN ANALYSEN (MEDIENRHETORIK) von Marcus Knill:
Artikel in der Zeitschrift Persoenlich. ... Rhetorik.ch, Aktuell, Persoenlich Artikel ( mit Titeln) · Ebook [PDF] · 30.11.2011 · 19.10.2011 · 01.10.2011 · 31.08.2011 ...
www.rhetorik.ch/persoenlich.html
Aktuell Artikel · Artikel Inhaltsverzeichnis, Suche in Rhetorik.ch: Rhetorik Aktuell: Navigationsplattform für Rhetorik, Medien und Kommunikation ... 06 Aug 06: Persoenlich: Kraftvolle Stimme - vage Aussagen · 13 Jun 06: Warum polarisiert diese ...
www.rhetorik.ch/Aktuell/Persoenlich.html
EXPERTEN DER ANALYSE IN DER NZZ:
* Beatrice Tschanz (1944) war Journalistin, bis sie 1987 in die Unternehmenskommunikation wechselte. 1998 war Tschanz verantwortlich für die Kommunikation beim Absturz des Swissair-Flugs 111. Seit 2003 arbeitet Tschanz als selbstständige Beraterin.
** Tinu Niederhauser (1960) ist Kommunikations- und Medientrainer und berät unter anderen das Schweizer Fernsehen SF. Zudem unterrichtet er am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern und an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW in Winterthur.
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