Jedem seine psychische Störung
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Der Mann, der sich zu seinen «katastrophalen Essgewohnheiten» bekennt, heisst Allen Frances. Der emeritierte Professor an der Duke University ist einer der profiliertesten Psychiater weltweit. In den letzten Jahren machte er sich allerdings vor allem als engagierter Kritiker seines eigenen Fachs einen Namen. Mit viel Getöse kämpft er gegen die Tendenz in der Psychiatrie, laufend neue Diagnosen zu finden und bestehende so auszuweiten, dass ehemals normale Verhaltensweisen zu Krankheiten werden. «Inflation psychiatrischer Diagnosen» nennt dies Frances in seinem soeben erschienenen Buch «Normal».
Seine Einwände sind fundiert. Denn Frances ist ein Insider und ein ehemals einflussreicher Akteur, der die Mechanismen in der Psychiatrie aus langjähriger Erfahrung kennt. Und selbst wenn die ihm bekannten amerikanischen Verhältnisse teilweise extremer sind als in Europa, lassen sich viele der kritisierten Entwicklungen auch hier beobachten.
Ein psychisch kranker Vielfrass
Die eigenen Essgewohnheiten dienen Frances als Beispiel für eine verbreitete Verhaltensweise, die neu zu einer psychischen Störung definiert wird. Er selbst hält sich eigentlich bloss für einen durchschnittlichen Vielfrass. Schon bald wird aber sein Essverhalten den Namen Binge-Eating-Störung (BES) tragen. Schuld daran trägt die fünfte Ausgabe des Psychiatriehandbuchs DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), welche im Mai in Kraft treten soll und künftig weltweit die Arbeit von Psychiatern beeinflussen wird. BES hat, wer während dreier Monate einmal pro Woche eine Fressattacke hat. Schätzungen gehen davon aus, dass 3 bis 5 Prozent von BES betroffen sind. «Warten wir ab, was passiert, wenn die Öffentlichkeit und die Ärzte ihre pharmafinanzierte ‹Aufklärung› erhalten haben», warnt Frances. Er prognostiziert, dass die Verbreitung dann auf 10 Prozent hochschnellen könnte.
Die Binge-Eating-Störung ist nur eine von vielen problematischen Änderungen im DSM-5. Führende Fachleute haben sie mit besten Absichten eingefügt, jedoch ohne die Folgen ihrer neuen und erweiterten Kriterien zu bedenken. Das Zeug zu einer Modediagnose hat etwa die Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) für Kinder, die zu Wutausbrüchen neigen, daneben aber tieftraurig sein können. Damit werde Tür und Tor geöffnet «für Fehldiagnosen bei normalen Kindern, die eine Phase durchlaufen oder einfach temperamentvoll sind», glaubt Frances. Auch den Alten droht Ungemach: Mit der neuen Diagnose Mild Neurocognitive Disorder (MNCD) werde normale Altersvergesslichkeit zur Krankheit, so Frances. Eigentlich sollten damit Personen erfasst werden, die wegen Vergesslichkeitssymptomen ein Risiko für eine spätere Demenz haben. Doch der Voraussagewert sei so gering, dass die Mehrheit der Diagnostizierten nie ein Problem mit Demenz haben werde.
Frances ist mitschuldig
Sorge bereitet Frances auch, dass es nun möglich sein wird, bereits wenige Wochen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen eine «schwere Depression» zu diagnostizieren. Für Frances ist klar: «Dass nach einem Todesfall für eine bestimmte Zeitspanne exakt die gleichen Symptome auftreten wie bei einer klinischen Depression, gehört zum normalen Trauerprozess.» Epidemien durch neue oder aufgeweichte Diagnosekriterien erwartet der Psychiater auch für das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS bei Erwachsenen und bei den neu eingeführten Verhaltenssüchten. Dazu würde zwar erst die Glücksspielsucht gezählt, «aber Sie können jetzt schon Ausschau nach falschen Suchtepidemien halten», schreibt Frances und zählt auf: Internetsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Sexsucht und so weiter. Problematisch ist auch die neu eingeführte Complex Somatic Symptom Disorder (CSSD), die so grosszügig definiert ist, dass sie in Tests bei fast jedem zehnten Gesunden gepasst hat.
Die erwarteten Modediagnosen sind für Frances die Fortführung von Fehlentwicklungen, die bereits bei der letzten DSM-Version von 1994 eingesetzt haben. Er selbst war damals Vorsitzender des Gremiums, das den Inhalt festlegte. Frances macht sich denn auch selbst Vorwürfe. Er hatte damals nicht vorhergesehen, dass die vorgenommenen Änderungen zu «unechten Epidemien» bei Kindern führen würden. So vervielfachten sich in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur in den USA die Diagnosen von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, autistischen Störungen und bipolaren Störungen.
Frances geht es nicht um Fundamentalkritik an seinem Fach: «Psychiatrie ist ein vornehmer Berufsstand, im Kern gesund und, wenn sie richtig ausgeübt wird, ausserordentlich effizient.» Es geht ihm um falsche Entwicklungen, die dazu führten, dass Gesunde zu oft und zu ihrem Schaden therapiert werden, während die wirklich Kranken häufig keine Behandlung erhalten. Neben der Stigmatisierung Normaler hat dies einen vor allem in den USA verbreiteten massiven Überkonsum von Psychopharmaka zur Folge. Im Jahr 2011 schluckten dort 11 Prozent Antidepressiva, fast drei Viertel ohne eines der geltenden Symptome einer Depression. «Viele treue Kunden sind harmlose Placebo-Responder, die spontan wieder genesen sind», so Frances.
Hart kritisierte Pharmabranche
Schuld daran trägt nicht alleine das DSM-5. Gemäss Frances entwickelt das Psychiatriehandbuch seine ungute Wirkung vor allem dadurch, dass die Pharmaindustrie weit gefasste Diagnosekriterien brutal ausnützt, um den Umsatz ihrer Medikamente zu steigern. Der Psychiater geht in seinem Buch hart ins Gericht mit den Herstellern von Psychopharmaka. Er wirft ihnen vor, dass sie viel mehr Geld in Werbung und Marketing steckten statt in die Entwicklung besserer Psychopharmaka. Und wenn geforscht werde, dann erfolge dies mit falschen Methoden und aus falschen Beweggründen. Daten blieben unter Verschluss, negative Ergebnisse würden regelmässig in der Versenkung verschwinden und bedeutungslose Resultate aufgebauscht.
Zudem würden die Firmen laufend versuchen, für ihre alten Medikamente neue Märkte zu erschliessen, durch Patenterweiterungen für Kinder oder für neue Krankheiten. Dies häufig auf dürftiger Datenlage. «Der beste Weg, Psychopharmaka zu verkaufen, führt nun einmal über den Verkauf psychiatrischer Leiden», schreibt Frances. Und so verbreite die Industrie seit Jahren die falsche Behauptung, dass «viele der unausweichlichen Probleme im Leben in Wahrheit psychische Störungen seien, verursacht durch ein ‹chemisches Ungleichgewicht›, das sich durch das Schlucken diverser Pillen wieder in Ordnung bringen lasse.»
Ein offenes Geheimnis ist, dass sich die Firmen dabei oft jenseits der Grenze der Legalität bewegen. «Nahezu alle Pharmaunternehmen haben gewaltige Bussgelder und selbst strafrechtliche Sanktionen für ihre illegalen Verkaufspraktiken kassiert», sagt Frances. Hier ist auch der wahrscheinlich erfolgsversprechendste Ansatzpunkt, mit dem er der Inflation begegnen will: durch Verbote von Pharmawerbung, finanzieller Einflussnahme auf Ärzte, Behörden, Patienten, Wissenschaftler sowie durch höhere Strafen für gesetzeswidrige Handlungen, nicht nur gegen Unternehmen, sondern auch gegen deren Manager. «Hoffen wir, dass die Vernunft am Ende siegt», schreibt Frances. (Der Bund)
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