Der Tagesanzeiger beleuchtet das Netz der Befürworter von Sex mit Jugendlichen
Wie Archivrecherchen dieser Zeitung belegen, wurden
hierzulande bis in die 1990er Jahre hinein Debatten über Sex mit Kindern
und die Mündigkeit geführt. Motiviert wurden diese von einer Art
Überkompensation: Auf eine Phase der exzessiven Repression in der Mitte
des 20. Jahrhunderts folgt eine Gegenbewegung, die ebenso masslos war.
So machte eine offiziell eingesetzte Kommission aus Juristen den
Vorschlag, das Schutzalter im Sexualstrafrecht auf 10 oder 12 Jahre zu
senken.
Mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. «Aus
heutiger Sicht fragt man sich, wie jemals die Rechtsnorm des
Kinderschutzes angetastet werden konnte. Die Geschichte der
Voraussetzungen und Folgen muss auch in der Schweiz dringend
aufgearbeitet werden», sagt der Erziehungswissenschaftler Jürgen
Oelkers, der die Missbräuche der deutschen Reformpädagogen aufgearbeitet
hat.
Deutliche Hinweise, dass in diesem Zusammenhang ein
Aufklärungsbedarf besteht, gibt es spätestens seit vier Jahren. Damals
erschien der erste Zwischenbericht über die deutsche Partei Die Grünen,
die Anfang der 1980er-Jahre in ihren Reihen eine Pädophilie-Debatte
ausgetragen hatte. Ruchbar war dies geworden, als man Daniel Cohn-Bendit
auf dem Höhepunkt des Bundestagswahlkampfs von 2013 Äusserungen aus
dem Buch «Der grosse Bazar» von 1975 vorhielt. Darin beschreibt der
spätere Europapolitiker, wie es ihm in den 1970er-Jahren «mehrmals»
passiert sei, «dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und
angefangen haben, mich zu streicheln».
Bereits der erste
Forschungsbericht über Die Grünen hält fest, dass die damalige
Pädophilenbewegung, von der die Partei erfasst wurde, «international gut
vernetzt gewesen» sei. Als Beleg dafür wird die Schweizerische
Arbeitsgemeinschaft Pädophilie genannt, die nicht nur ihre Pamphlete
«umfänglich ins Ausland» verschickte, sondern auch eine Zweigstelle in
Berlin unterhielt, wo sich ihre dort ansässigen Mitglieder regelmässig
trafen.
Zentrales Anliegen der Schweizer
Arbeitsgemeinschaft war die Straffreiheit für «gewaltfreie homoerotische
Beziehungen» zwischen Erwachsenen und Knaben im pubertären oder
vorpubertären Alter. Was mit «homoerotischen Beziehungen» gemeint ist,
wird deutlich, wenn sich die Arbeitsgemeinschaft in einer ihrer
Selbstdarstellungen für die Senkung des Schutzalters einsetzt: Es ging
ihr um Sex mit Kindern.
Von einem Sonderfall Schweiz in
Sachen Pädosexualität ist also nicht auszugehen. Vielmehr war man Teil
eines internationalen Netzwerks: Die Schweizer Arbeitsgemeinschaft
tauschte sich nicht nur mit der «uns besonders nahestehenden» Deutschen
Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pödophilie aus, sie war auch stark mit
den Niederlanden vernetzt, wo «man ‹Sex mit Kindern› sachlich
diskutieren» könne, wie es in einem der Rundbriefe heisst.
Niederländische Vordenker
Tatsächlich
gab es in Holland mehrere Aktivisten, die sich eine Legalisierung der
sexuellen Beziehungen mit Kindern zum Ziel gesetzt hatten, unter ihnen
der Jurist Edward Brongersma, der Bücher wie «Loving Boys. Das
pädosexuelle Abenteuer» veröffentlichte – und der wiederholt in der
Schweiz für Vorträge zu Gast war, so etwa im Mai 1986 in Basel.
Ein
anderer Exponent der holländischen Pädophilenbewegung war der klinische
Psychologe Frits Bernard, der 1972 sein Buch «Sex mit Kindern»
veröffentlichte und der wiederholt die Meinung vertrat, dass Menschen,
die in ihrer Kindheit sexuelle Kontakte mit Erwachsenen hatten, sich
selten als Opfer empfänden und «weniger verkrampft» seien als der
Durchschnitt.
Unterstützung erhielt Bernard in dieser
Ansicht teilweise vom Zürcher Psychiater und Psychotherapeuten Berthold
Rothschild, der in einem Debattenbeitrag für eine pädagogische
Zeitschrift aus Deutschland die «schwere psychische Schädigung der
betroffenen ‹Opfer›» ebenfalls für «unhaltbar» hielt. Bei der Pädophilie
handle es sich wohl weniger um eine krankhafte Abweichung in der
sexuellen Präferenz denn um eine «Sozialpathologie»: Sie werde so lange
eine Krankheit bleiben, «als die Voraussetzungen fehlen, darin keine
Krankheit mehr zu sehen», schreibt der Zürcher Psychiater. «Es wird uns
nämlich wenig nutzen, wenn Frits Bernard an 30 Probanden beweist, dass
pädophile Erlebnisse keineswegs so traumatisch seien, wie in Fachkreisen
behauptet wird. (. . .) Lösen lassen wird sich das Problem erst, wenn
es nicht nur wissenschaftlich, sondern politisch angegangen wird.»
Gut
45 Jahre später sieht Rothschild die Sache völlig anders: Der frühere
PdA-Politiker staunt über die «Ideologielastigkeit» seines damaligen
Urteils; er spricht vom «Politbüro im Kopf», das in den 1970er-Jahren
sein Denken «gesteuert» und seine Sprache «geformt» habe. Er könne «von
Glück reden, wenn nicht auch mein Handeln davon erfasst worden war»,
sagt Rothschild.
«Die sexuelle Gewalt an Kindern und
Jugendlichen ist durch nichts zu rechtfertigen, schon gar nicht durch
den ‹pädagogischen Eros›», sagt Jürgen Oelkers. «Geklärt werden muss,
warum man das glauben wollte.» Viele Opfer würden nicht glauben, dass
ein ernsthaftes Interesse an einer Aufarbeitung besteht. «Schon
deswegen», so Oelkers, «müssen die Verirrungen der Liberalisierung
schonungslos benannt und frei von Relativierungen öffentlich diskutiert
werden.»
In der Schweiz wurde die Pädophilie-Debatte
hauptsächlich in den Publikationen der Homosexuellenbewegung
ausgetragen: In Zeitschriften wie «Hey», «Club 68» oder «anderschume»
erschienen von den 1970er- bis in die 1990er-Jahre zahlreiche Beiträge,
in denen das Für und Wider kontrovers diskutiert wurde. So konnte man
neben Plädoyers für die Legalisierung der Pädosexualität auch den
Bericht eines Opfers lesen, das zwischen 11 und 13 Jahren Sex mit
wesentlich älteren Männer hatte – und das in diesem Zusammenhang ganz
entschieden für die Respektierung des Schutzalters eintrat: «Ich war
echt noch nicht fähig abzuschätzen, was ich genau wollte. Auch sexuell
nicht.»
Es griffe zu kurz, würde man die Diskussion über
die Akzeptanz der sexuellen Kontakte mit Kindern in der Schweiz nur im
Kontext der Schwulenbewegung sehen. Die Debatte war auch nicht auf linke
Kreise begrenzt, die damals mit allerlei antirepressiven Praktiken
experimentierten. Die Pädophilie-Debatten in Zeitschriften wie «Hey»
oder «anderschume» verweisen vielmehr auf das grosse juristische Ganze:
auf die umfassende Strafrechtsrevision, die in der Schweiz im Jahr 1971
begonnen wurde – und die im Fall des Sexualstrafrechts erst 1992 zum
Abschluss kam, als die Stimmbürger das neue Gesetz annahmen.
Damit
wurden sexuelle Kontakte zwischen nahezu Gleichaltrigen legalisiert:
die sogenannte Jugendliebe, die bis dahin justiziabel war und zu
zahlreichen Verurteilungen geführt hatte, wenn einer der beiden Partner
nur knapp unter 16 war. Erst seit der Annahme dieses Sexualstrafrechts
sind sexuelle Kontakte mit Jugendlichen legal, wenn der
Altersunterschied nicht mehr als drei Jahre beträgt. Davor machten sich
sogar die Eltern strafbar, die ihre Kinder gewähren liessen oder etwa
ihrer Tochter die Antibabypille zugänglich machten.
Für
die Schwulen war die Diskussion um das neue Sexualstrafrecht nicht
zuletzt deshalb so wichtig, weil sie in dieser Hinsicht noch bis 1992
diskriminiert wurden: Galt für Heterosexuelle seit 1942 ein Schutzalter
von 16, war es für die Homosexuellen auf 20 Jahre festgelegt. Es war
dieser Missstand, der dazu führte, dass die Schwulen und die
Pädosexuellen gemeinsam kämpften, wobei die Schweizerische
Arbeitsgemeinschaft Pädophilie ganz entschieden für eine Senkung des
Schutzalters auf 14 Jahre eintrat, was «vom sexualwissenschaftlichen
Standpunkt her ein Minimum» darstelle.
Heute klingt diese
Forderung absurd. Damals war sie es nicht: Noch im Dezember 1990
entschied der Nationalrat sich in einer Abstimmung ganz knapp für ein
Schutzalter von 14 Jahren. Damit folgten die Parlamentarier einer
Expertenkommission, die zwischenzeitlich den Vorschlag gemacht hatte,
den Schutz vor sexuellen Handlungen auf noch nicht geschlechtsreife
Kinder zu beschränken und deshalb das Schutzalter auf 10 oder 12 Jahre
festzusetzen.
Diskussion um das Schutzalter
Die
Diskussion um die Herabsetzung des Schutzalters wurde in den
1970er-Jahren international geführt. Besonders intensiv ausgetragen
wurde sie 1977 in Frankreich, wo Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre,
Jacques Derrida, Roland Barthes und Simone de Beauvoir, die als
Begründerin des Feminismus gilt, eine Petition gegen ein Gesetz
unterzeichnet hatten, das Sex mit Kindern unter 15 Jahren strafbar
machte. Eine gesetzlich festgelegte Altersgrenze habe «keinen Sinn», da
man einem «Kind zutrauen kann, selbst zu sagen, ob ihm Gewalt angetan
worden ist oder nicht», argumentierte der französische Philosoph Michel
Foucault, der damals ebenfalls die Petition unterschrieb.
In
der Schweiz argumentierte man anders: Die eingesetzte
Expertenkommission, die mehrheitlich aus Juristen bestand, liess sich
bei der Festlegung des Schutzalters von der Ansicht leiten, dass die
körperliche und psychische Entwicklung junger Menschen inzwischen
«rascher vor sich geht als vor einigen Jahren».
Begründet
wurde diese Ansicht unter anderem mit einer juristischen Dissertation,
die 1967 in Bern angenommen wurde und die keineswegs dem linken Spektrum
zugerechnet werden darf, stellt sie die Homosexualität doch als etwas
nicht «Normales» dar. Dafür wird in der Berner Dissertation die Ansicht
vertreten, dass die stark angestiegene Zahl an strafbaren sexuellen
Handlungen, die in den 1960er-Jahren zur Anklage kamen, nicht etwa durch
das repressive Rechtssystem, sondern durch eine «erhöhte
Hingabebereitschaft» der Jugendlichen zustande gekommen sei: Von 150
Mädchen im Alter von 12 bis 16 Jahren hätten sich 110 «bereitwilligst»
dem Täter zur Verfügung gestellt – oder diesen gar «provoziert».
In
einer Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Schweiz ginge es
auch um das Nachzeichnen von solchen Argumenten und Diskussionen, die
auf ein breites Spektrum an Meinungen verweisen und durch die während
über zwanzig Jahren ein Fenster für die Legitimierung von Übergriffen
offen gehalten wurde.
Nachverfolgen müsste man diese
Diskussion nicht etwa, um die Taten von Jegge und anderen Pädosexuellen
aus dieser Zeit zu relativieren. Aber um allfälligen weiteren Opfern zu
zeigen, dass unsere Gesellschaft an einer umfassenden Aufarbeitung
interessiert ist – und dass wir dabei keine politischen Scheuklappen
kennen. Insbesondere dann nicht, wenn es um die Frage geht, wie
Aufbruchbewegungen, juristische Diskussionen und
Liberalisierungstendenzen in den 1970er- und 1980er Jahren einen
Möglichkeitsraum schufen, der von Jürg Jegge und anderen für ihre Taten
missbraucht werden konnte.
(Tages-Anzeiger)
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