Freikirchen ziehen vor allem Jugendliche an
Die Freikirchen boomen
Von 37'000 auf 250'000:
Die Zahl der Evangelikalen
ist in den letzten
vierzig Jahren stark angestiegen.
Kommentar:
Die Freikirchen wollen folgende Werte erhalten:
- Treue und kein vorehelicher Geschlechtsverkehr
- Sie sind gegen homosexuelle Beziehungen und
begrüssen traditionelle Geschlechterrollen
- Sie lehnen Schwangerschaftabbrüche ab
Die Mitglieder sind in der Ehe treuer. Sie scheiden sich viel weniger.
Ferner haben sie im Durchschnitt auch mehr Kinder
Der spektakuläre Aufstieg der Freikirchen ist für mich gut erklärbar:
In der Physik folgt nach jeder Aktion eine Reaktion. In unserer Gesellschaft kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer Individualisierung. Selbstverwirklichung war Trumpf unter Jugendlichen dominierte der Hedonismus.
Auch in der Erziehung machte sich eine Beliebigkeit, d.h. Orientierungslosigkeit breit. Auch die Landeskirchen passten sich in einigen Punkten dem liberalen Zeitgeist an.
Somit ist es verständlich, wenn nun eine Gegenbewegung plötzlich grossen Zulauf hat, die wieder fixe Wertvorstellungen einfordert.
Kommt dazu, dass es die Freikirchen verstehen, den Jugendlichen nebst Halt und Orientierung eine klar definierte
Identität zu schaffen.
Ich habe einzelne Veranstaltungen bewusst besucht und erkannt, wie es die "Prediger" verstehen, das stärkste rhetorische Element einzusetzen: "Die bildhafte Erzählkunst" (Narrative Rhetorik). Ferner zelebrieren die Gruppen Gemeinsamkeit. Vermittelt Geborgenheit, Nestwärme.
Jugendliche schätzen die Konstanz der Treffen.
Gegenüber früher fühlen sich die Teilnehmer durch die Menge Gleichgesinnter stärker und treten auch nach Aussen viel selbstbewusster auf. Ich kenne Fachhochschulen - auch eine pädagogische Hochschule -, die sich bereits im Unterricht mit Freikirchlern auseinandersetzten mussten. Sie bringen heute ihre Meinung im Plenum offen ein und versuchen im Hörsaal zu missionieren. Es gibt Dozenten, die von mir - als Kommunikationsberater - wissen wollten, wie man sich verhalten soll, wenn eine Studentin mit missionarischem Eifer
ihre Meinung im Plenum durchsetzen will.
Im Tagi nennt Religionswissenschafter Georg Otto Schmid heute auch seine Gründe des Booms der Freikirchen. Er kommt zu einem ähnlichen Schluss:
Was also macht den anhaltenden Erfolg der Freikirchen aus? Die Gründe dafür seien vielfältig: So hätten in den 1980er- und -90er-Jahren viele Anhänger des evangelikalen Flügels der reformierten Landeskirche sowie in geringerem Umfang auch konservative Katholiken zu Freikirchen gewechselt. «Für viele ist der Übertritt eine Wertefrage. Sie missbilligen den Liberalisierungsprozess in den Landeskirchen.» Das zeigt auch die Studie auf. Keine homosexuellen Beziehungen, keine Abtreibung, kein Sex vor der Ehe: Die Freikirchenmitglieder denken gemäss der Befragung stramm konservativ.
Sozialisierung im Kindesalter
Max Schläpfer ist Präsident des Verbands evangelischer Freikirchen und Gemeinden (VFG) sowie der Schweizerischen Pfingstmission. Er ärgert sich darüber, dass das Weltbild der Freikirchler auf diese Schlagworte reduziert werde. «Wir leben grundsätzlich alle Werte, welche die Bibel vermittelt – weil wir überzeugt sind, dass sie für unser Leben und unsere Gemeinschaft richtig sind. Wir erwarten aber nicht, dass dies die ganze Gesellschaft tut», sagt er.
Dass die Gläubigen damit häufig unter sich bleiben, hat gemäss Schläpfer pragmatische Gründe. Der regelmässige Gottesdienst und die Aktivitäten im Dienste der Gemeinschaft erforderten eine spezifische Freizeitgestaltung – und die religiöse Wertebasis eine gleiche Einstellung der Ehepartner.
Auf diese Weise konnten die Freikirchen in den letzten Jahrzehnten auch auf natürliche Weise wachsen. «Viele Anhänger wurden bereits in die Glaubensgemeinschaften hineingeboren», sagt Dorothea Lüddeckens, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Zürich. Und weil die Sozialisierung in der Kindheit und Jugend ein wesentlicher Faktor für die spätere Festigung und Ausübung des Glaubens sei, bleibe die Bindung des Nachwuchses zur Religionsgemeinschaft häufig stark, so Lüddeckens. «Erfolgreiche Freikirchen investieren daher in die Jugendarbeit.»
Doch gerade damit tun sich viele Freikirchen zunehmend schwer, wie Schmid weiss. «Als konservative Subkulturen werden sie zwar zeitlich verzögert von gesellschaftlichen Trends erfasst, doch wie bei den traditionellen Landeskirchen ist in Zukunft von einem Mitgliederschwund auszugehen.»
Der Erfolg des ICF
Besonders erfolgreich ist in dieser Hinsicht die hierzulande 1996 gegründete ICF (International Christian Fellowship). Da die gesamthafte Mitgliederzahl der Freikirchen seit 14 Jahren stagniert, hat ICF auch auf Kosten anderer Religionsgemeinschaften wie etwa der Heilsarmee eine junge Anhängerschaft angezogen. Mit modernen Gottesdiensten («Celebrations») und einem breiten Freizeitangebot ist es ICF gelungen, «Gläubige der postmodernen Generation zu gewinnen und damit eine enge Nische zu besetzen», so Schläpfer.
Auch Lüddeckens sagt, die ICF träfe die Sprache des Zeitgeistes gut. «Es kommt auf dich an. Du bist wichtig» – diese Botschaft finde in einer individualisierten Gesellschaft zahlreiche Empfänger. In Kombination mit dem Einsatz modernster Technik bei den Gottesdiensten, der einer konservativen Weltsicht keineswegs widerspreche, verspräche diese Strategie Erfolg bei der Mitgliederrekrutierung.
Die Art der Rekrutierung ist einer der Gründe, warum die Freikirchen ihre Mitgliederzahl insgesamt halten können: «Während die Landeskirchen nicht offensiv missionieren, entspricht es dem Selbstverständnis der Freikirchen, andere Menschen aktiv und persönlich einzuladen», so Lüddeckens. Auch Schläpfer sagt: «Wir befinden uns in einer religiösen Wettbewerbssituation. Eine Freikirche kann nur existieren, wenn sie sich vermarktet und ihre Botschaft nach aussen vermittelt.»
Die Freikirche als Marketingvehikel
Werde eine Sekte als Organisation mit rigider Kontrolle und nicht kritisierbarer Führung definiert, die Heilsexklusivität verspreche, dann treffe dies auf die Freikirchen in der Schweiz nicht zu. Wenn einstige Mitglieder über internen Druck berichteten, so geschehe dies aufgrund des einheitlichen Weltbilds und des grossen Engagements – wer davon abweiche, könne das als Gruppendruck erleben. Als fundamentalistisch könne dagegen gemäss Schmid das Bibelverständnis der konservativeren Freikirchen bezeichnet werden, weil die Bibel dort als unfehlbar gelte.
Auch Schläpfer betont, Druck und Zwang widersprächen der Philosophie einer Freikirche.
Trotz des langjährigen Erfolgs der Freikirchen und der häufigen Gottesdienstbesuche der Anhänger macht es gemäss den Experten für die von Mitgliederschwund betroffenen Landeskirchen keinen Sinn, die Rezepte der Konkurrenz zu kopieren. «Sie können und wollen das nicht, da sie den Anspruch haben, für alle da zu sein und niemanden auszuschliessen», so Lüddeckens. Aus Sicht der Landeskirchen sei die Liberalisierung eine derart grosse Errungenschaft, dass eine Rückkehr zu einer konservativeren Haltung für sie nicht wünschenswert sei. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen