Freitag, 31. Oktober 2014

Eine Replik auf das düstere Bild über die Qualität der heutigen Medien




Ich fragte mich nach der Lektüre, wie die Medien vor zehn Jahren waren. Besser? Schlechter? Informativer? Klüger? 

von Christian Lüscher


Da kam mir ein Erlebnis aus dem Jahr 2005 in den Sinn.
Im Sommer 2005 sass ich als junger Journalistenschüler in einer Vorlesung an der damaligen  Zürcher Hochschule der Wissenschaften (ZHW). Es ging um die Krise der Zeitungen. Der Dozent gab seiner Vorlesung den Titel: «Printmedien und Verlage – Der Selbstmord der Branche». Er zeigte uns eindrücklich, dass die auflagenstarken Zeitungen überkonfektioniert und verlayoutet seien. Schonungslos führte er uns vor Augen, dass sie Plantagen dünner Meinungen, ja, dass viele Redaktionen im Prinzip kriminelle Vereinigungen zur Verhinderung von Substanz seien. Ich war schockiert. Am Schluss dachte ich: Was machen eigentlich die vielen kompetenten Menschen in den Redaktionen den ganzen Tag?
Das war vor fast zehn Jahren. Seither hat die Branche so einiges erlebt. Mehrere Abbauschlachten in den Redaktionen, einige Zeitungen und Magazine verschwanden, Onlineredaktionen entstanden massenhaft, iPad und Facebook kamen auf. Alles Dinge, die Imhof in seinem Befund kritisiert. Die Folgen: Die Medien sind nicht schlimmer geworden. Im Gegenteil: Ich lese heute deutlich mehr und ausgewählter. Und auch mein Umfeld liest deutlich mehr und ausgewählter. Der Journalismus ist in vielen Bereichen überraschender und tiefgründiger geworden. Er findet überall statt. Nicht allein in Zeitungen, sondern auch im Netz.
Die Informationsdichte hat zwar durch die sogenannten «qualitätsniedrigen» Medien zugenommen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass dadurch noch mehr Zusammenhangslosigkeit und Konfusion entstanden ist. Gerade durch Facebook und Twitter stehen mir heute als Leser hervorragende Dienste zur Verfügung, die mir dabei helfen, zu sortieren, auf der ganzen Welt journalistische Perlen zu finden. Und so halten es viele in meinem Umfeld. Es sind keineswegs nur die lustigen Viralhits, die in meinem Newsfeed auftauchen. Freunde empfehlen mir grossartige Reportagen, kluge Meinungsstücke oder lesenswerte Berichte. Speziell bei Abstimmungen zeigt sich, dass die Medien nicht einfältig, sondern nach wie vor vielfältig sind. Meine Freunde auf Facebook machen mich auf Inhalte einer Lokalzeitung aufmerksam, die ich eigentlich nicht lese. Es wird diskutiert. 2005 war das überhaupt nicht der Fall.
Gerade die Verbreitung von Social Media zeigt, dass es nicht reicht, einfach nur die Front- und Einstiegsseiten der Zeitungen zu messen und dann Aussagen darüber zu machen, wie es um die Qualität der Medien steht. Online finden viele tolle Inhalte nicht auf der Frontseite einer Onlineausgabe statt. Oft sind die Perlen versteckt, aber wunderbar abrufbar. Der meistgeteilte Artikel in der Deutschschweiz war ein über 20'000 Zeichen langer Hintergrundartikel von Constantin Seibt zur politischen Lage in Island. Der Artikel war nicht auf der Front von Tagesanzeiger.ch.
Auch die Dauerkritik an «20 Minuten» finde ich öde. Dass die Forscher von «qualitätsniedrigem Journalismus» reden, empfinde ich gar als Beleidigung. Die Kollegen von  «20 Minuten» haben zwar einen ausgeprägten Hang zum Erregungsjournalismus. Aber die Branche kann auch dankbar sein, dass es «20 Minuten» gibt. Schon als ich 2005 in der erwähnten Medienvorlesungen sass, sagte man uns, dass die reine, herkömmliche Information an Wert verliere, dass sie, genau besehen, schon gratis sei. In diesem Markt gewinne der, der am meisten Masse erreiche, also über die grösste Reichweite verfüge, und auf allen Stufen der Herstellung ein wenig abschöpfen könne (der Ökonom spricht von Skalenerträgen).  «20 Minuten» ist heute Leader im Massenmarkt, aber dank des Gratistitels gibt es heute auch einen grösseren Mehrwertmarkt. Viele Redaktionen setzen, um gegen «20 Minuten» zu bestehen, einen Kontrapunkt, fokussieren sich auf Eigenleistungen. Dank «20 Minuten» haben sich sämtliche Medienmarken im Lande neu erfunden. Dank «20 Minuten» haben viele Journalisten begriffen, dass in einer von Technik bestimmten Welt Informationen ein Problem, nicht eine Lösung sind.
Gehts wirklich abwärts mit den Medien? Ich glaube einfach nicht daran.

KOMMENTAR:
Es ist immer gut, Sachverhalte von verschiedensten Seiten zu beleuchten.

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