Samstag, 11. April 2020

Journalismus in der Krise: die fünf Defizite der Corona-Berichterstattung

Ein Fernsehjournalist des Hessischen Rundfunks hält bei einer Reportage über die Auswirkungen im öffentlichen Leben in Zeiten der Verbreitung des Coronavirus ein Mikrofon, das mit einer Plastiktüte vor Viren geschützt werden soll.
Ein Fernsehjournalist des Hessischen Rundfunks hält bei einer Reportage über die Auswirkungen im öffentlichen Leben in Zeiten der Verbreitung des Coronavirus ein Mikrofon, das mit einer Plastiktüte vor Viren geschützt werden soll. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa (Quelle MEEDIA)
Werden wir in der Corona-Krise hochwertig informiert? Die Wissenschaftler Klaus Meier und Vinzenz Wyss blicken auf die Berichterstattung in Deutschland und in der Schweiz seit Beginn der Pandemie. Beide Forscher analysieren den Zustand des Journalismus – und erkennen fünf Defizite.
Ein Gastbeitrag von Klaus Meier und Vinzenz Wyss
Wir werden sie nie vergessen: Die Särge von Bergamo sind die Bildikone der Corona-Krise. Das Bild signalisierte uns tagelang in den Nachrichten, dass alles getan werden muss, um das Virus zu bekämpfen. Es sind die Ikonen, die sich in komplexen Krisen häufig als Bilder des Todes tief in die Diskurse der Gesellschaft eingraben. So prägte das Flugzeug in den Türmen der World Trade Center mindestens ein Jahrzehnt lang den Kampf gegen den Terrorismus und der tote Junge Aylan Kurdi am türkischen Strand symbolisierte die Flüchtlingskrise. Der Journalismus muss jedoch mehr leisten als die Reduktion von Komplexität in Form von Ikonen.

Omnipräsente Corona-Krise

Die omnipräsente Corona-Krise ist ein Beispiel dafür, wie zumindest in den Anfängen die journalistische Berichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Entscheidungen von fast ängstlicher Zurückhaltung dominiert war, was dazu führte, dass nicht vielfältige Recherche, kritische Distanz und Diskurs den Journalismus prägten. Es waren vielmehr die Verlautbarungen “starker Anführer” und die Rufe nach noch mehr und schnelleren drakonischen Einschränkungen unserer Grundrechte, wie wir sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Mit dieser fast gespenstisch einheitlichen Berichterstattung gewannen Politik und Medien das Vertrauen der Bevölkerung: In einer Umfrage in Deutschland vor zwei Wochen waren 88 Prozent der Befragten mit dem Maßnahmenkatalog einverstanden. #FlattenTheCurve war bisher erfolgreich, die Spitäler und Kliniken in der Schweiz und in Deutschland wurden bislang vor einem Kollaps bewahrt.
Aber wurden und werden wir in dieser Krise tatsächlich hochwertig informiert? Was sind überhaupt ethische und qualitative Maßstäbe für Journalismus in Zeiten großer Unsicherheit, unbekannter Gefahren und unabsehbarer Ausgänge? Wenn die Krise abklingt, wird eine Menge aufzuarbeiten sein. So wird es sicherlich Dutzende von empirischen Studien der internationalen Journalismusforschung geben. Dennoch wollen wir bereits nach gut einem Monat für eine erste grobe Analyse der Berichterstattung innehalten. Wir richten den Blick insbesondere auf Deutschland und die Schweiz. 
Uns geht es darum, kritische Denkanstöße zu geben, weil wir denken, dass gerade jetzt im Auge des Orkans ein Blick auf den Journalismus von außen wichtig ist. Unter schwierigen Bedingungen und großem Druck fehlt auch in Redaktionen oft die Zeit für Selbstreflexion. Wir sind genauso wie so viele Menschen jetzt dankbar für die enorme Leistung der Journalistinnen und Journalisten, die fast alle ihre Sendungen und Ausgaben in Telefon- und Videokonferenzen planen und aus der Küche, dem Wohn- oder Schlafzimmer heraus recherchieren und produzieren – mit allen Herausforderungen im persönlichen Umfeld und bei gleichzeitiger Furcht um ihre Arbeitsplätze und die Überlebensfähigkeit ihrer Unternehmen. 

1. Die Systemrelevanz des Journalismus

Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig glaubwürdiger Journalismus in Zeiten ist, in denen große Unsicherheit und ein hohes Informationsbedürfnis herrschen. Sprunghafte Zugriffszahlen auf digitale Angebote, neue Aboabschlüsse von Plus-Angeboten der Zeitungsverlage und schwindelerregende Quoten der Nachrichten und Sondersendungen im Fernsehen sowie im totgesagten Radio belegen, dass der Informationshunger der Menschen riesig ist, welche nach aktuellen Zahlen, Informationen und Einordnungen suchen. Sie wenden sich in großer Breite journalistischen Medien zu und teilen auch auf sozialen Plattformen besonders häufig Medienbeiträge.
Die Regierungen mehrerer Bundesländer haben in Deutschland Journalisten seit Ausbruch der Coronavirus-Krise als “systemrelevant” eingestuft, neben Care-Berufen wie Rettungskräften und Supermarktangestellten. Auch in der Schweiz wird der Begriff plötzlich salonfähig. Die Journalismusforschung, Berufsverbände und viele andere weisen seit Langem darauf hin, dass kritischer und unabhängiger Journalismus systemrelevant für die Demokratie und eine offene Gesellschaft ist. Dass er jetzt in der Corona-Krise auf dieselbe Stufe gehoben wird wie Gesundheitsberufe, darauf sollten wir auch nach dieser Krise noch zurückkommen, wenn es darum geht, wie wir als Gesellschaft einen unabhängigen Journalismus auch finanziell langfristig ermöglichen können oder gegen Angriffe von demokratiefeindlichen Gruppierungen schützen.
Dass gerade jetzt, wo Journalismus so dringend nötig ist, manche Verlage und Redaktionen trotz Mehrarbeit in die Kurzarbeit rutschen und freie Journalisten in Existenznöte geraten, ist kein gutes Zeichen. Die Corona-Krise zeigt eben auch mit voller Wucht, wie schwach das Immunsystem derjenigen Medien ist, welche sich teilweise oder sogar vollständig über Werbegelder finanzieren. Und schmerzhaft müssen wir zu Kenntnis nehmen, dass sich Systemrelevanz offenbar nicht auf dem Werbemarkt allein sichern lässt.

2. Güterabwägung zwischen Pflicht- und Verantwortungsethik

Wie kann man begründen, welche Berichterstattung jetzt hochwertig und angemessen ist – und wo sie verbessert werden kann? Wir erleben wie unterm Brennglas jetzt sehr deutlich, vor welchen Herausforderungen Journalismus häufig steht: Journalistinnen und Journalisten müssen eine Güterabwägung zwischen zwei Polen vollziehen. Zwischen einerseits einer Pflichtethik, die von ihnen kritische Distanz, aufdeckende Recherche und einen vielfältigen Diskurs verlangt – und andererseits einer Verantwortungsethik, welche die Folgen des journalistischen Handelns und der Berichterstattung berücksichtigt. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich auch die journalistischen Entscheidungen in der Corona-Krise: 
  • Der eine Pol, nach dem sich Journalismus richten sollte, gründet auf der Pflichtethik nach Immanuel Kant: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde”, heißt es in seinem Kategorischen Imperativ. Moralisch akzeptable Handlungen sind demnach nicht situationsabhängig, sondern orientieren sich an Werten, die immer gelten und die als Maximen nicht verhandelbar sind. Journalisten in einer offenen demokratischen Gesellschaft kommt demnach die Pflicht zu, immer und uneingeschränkt Aussagen und Fakten zu prüfen, politische Hinterzimmer-Entscheidungen ans Tageslicht zu bringen, Mächtige zu kontrollieren, investigativ zu recherchieren und vielfältige Perspektiven in öffentliche Diskurse einzuschleusen. 
  • Der andere Pol, der auch eine Basis zur ethischen Rechtfertigung journalistischen Handelns ist, entspringt dem Konzept der so genannten Verantwortungsethik, die sich an den Folgen einer Handlung orientiert. Diese Art der ethischen Begründung kennt der Pressekodex zum Beispiel beim Opferschutz, beim Schutz religiöser Gefühle, beim Persönlichkeitsschutz oder der Berichterstattung über Suizide. Nicht alles, was recherchiert werden könnte, nicht alle Perspektiven sollen aus Rücksicht auf mögliche Folgen veröffentlicht werden. 
Maßstab für das alltägliche redaktionelle Entscheiden muss immer die Verhältnismäßigkeit sein: Ein rein pflichtethisch orientierter Journalismus schert sich nicht um die Folgen (und unbeabsichtigte Nebenfolgen) – und Journalisten, die ausschließlich nach der Verantwortungsethik handeln, laufen Gefahr, in einen Gefälligkeitsjournalismus oder in Hofberichterstattung abzudriften, wenn sie der Öffentlichkeit keine Konflikte zutrauen und deshalb Tabus schaffen. 

Was heißt das jetzt für den Corona-Journalismus?

Nach unseren Beobachtungen fühlte sich der Journalismus in Deutschland und in der Schweiz in den ersten Märzwochen der Verantwortungsethik verpflichtet. Die Medien berichteten weitgehend ohne Distanz im Einklang mit der Kommunikation des Bundes und der Bundesländer. Sie transportierten eher kritiklos und kaum mit eigenen Recherchen flankiert die Analysen und Forderungen weniger dominanter Virologen und die Entscheidungen der Regierungen. In Deutschland wurde die Wegnahme grundlegender Freiheitsrechte in journalistischen Kommentaren größtenteils gefeiert oder sogar noch mehr davon gefordert.
Aber auch in der direkten Demokratie der Schweiz gab es bei Eintritt des Notrechts durch die Landesregierung kritische Einwürfe eher selten. Auch die grundsätzliche Vielfalt und Unsicherheit wissenschaftlicher Einschätzungen wurde nur wenig thematisiert. Die Fragen, ob die Maßnahmen als Ganzes oder im Detail verhältnismäßig und zielführend oder übertrieben und widersprüchlich sind, wurden allenfalls hinter vorgehaltener Hand gestellt. Die Zurückhaltung lässt sich wohl damit erklären, dass die Journalistinnen und Journalisten bei ihren verantwortungsethischen Erwägungen die möglichen Folgen einer allzu kritischen Berichterstattung stark gewichteten. In dieser höchst undurchsichtigen Phase sollten irritierende Vielfalt und Kritik nicht noch mehr zur Verunsicherung beitragen oder das Virus verharmlosen.
Die eher unkritische Berichterstattung in den ersten Märzwochen kann man also verantwortungsethisch durchaus für angebracht halten. Es ging ja primär darum, angesichts der Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus in kurzer Zeit einen Kollaps des Gesundheitssystems zu vermeiden. 

Lokaljournalismus bietet einen Teil der Vielfalt

Aber spätestens ab dem zweiten Märzwochenende, als sich in Deutschland einige Ministerpräsidenten mit drakonischen Maßnahmen überboten, und noch vielmehr in den gut zwei Wochen danach, hätten wir vom Journalismus erwarten können, auch unangenehmeren Fragen nachzugehen – und damit ihren Pflichten wieder nachzukommen. Wir denken da beispielsweise an die Frage, inwiefern die Anti-Corona-Maßnahmen im Einzelnen tatsächlich verhältnismäßig sind. Was antwortet man denen, die vermuten, dass die in Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Familien durch die pauschalen Maßnahmen angerichteten Schäden längerfristig zu mehr ebenfalls ernsthaft Geschädigten führen als die direkt durch das Virus verursachten Opfer?
Die ersten Ansätze von Vielfalt kamen in Deutschland ab Mitte März durch die Redaktionen von Printmedien: teilweise angetrieben durch Gastbeiträge von und Interviews mit Staatsrechtlern, Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Ende März schwappte der offene Diskurs auch ein wenig ins Fernsehen: Die Sondersendungen und Talkshows wurden zum Teil etwas vielfältiger, sowohl was die Bandbreite der Fragestellungen als auch die der wissenschaftlichen Einordnungen betrifft. Erstaunlicherweise fand sich im oft so verschmähten Lokaljournalismus zumindest ein Teil der Vielfalt, die in den nationalen Medien fehlte: das Nachfragen bei lokalen Gesundheitsberufen und in regionalen Kliniken ebenso wie Geschichten über die Probleme und Nebenwirkungen dieses Shutdowns für die Menschen – für Unternehmer, Selbstständige, Künstler, Sportler, Schüler, Lehrer, Eltern, die Auswirkungen auf psychisch Kranke, Behinderte oder Familien in problematischen Verhältnissen.
Auch in der Schweiz ließen sich nach anfänglicher Zurückhaltung ab Mitte März vielfältige und durchaus auch kritische Zugänge sehen. Themen wie beispielsweise die riskanten Zustände in Heimen, Flüchtlingszentren oder auf Baustellen wurden aufgegriffen. Nebenwirkungen der politischen Entscheide wie eine drohende Zunahme häuslicher Gewalt, unverhältnismäßige Maßnahmen oder ungenügende Wirtschaftshilfen wurden thematisiert und Datenjournalisten zogen sämtliche Register, um den Verlauf der Entwicklung auf Basis von Zahlen zu visualisieren.

Fünf Defizite, die es zu beheben gilt

Wir befinden uns spätestens seit Anfang April mitten in einer Phase, in der Journalismus zu seiner Pflicht zurückkehren und mehr Eigenkompetenz, Distanz, Recherche und Vielfalt zeigen muss. Wir haben fünf Defizite ausgemacht, an deren Behebung in beiden Ländern einige Redaktionen schon länger arbeiten als andere, denen aber noch mehr begegnet werden kann:
(1) Der Umgang mit Zahlen: Datenjournalistische Formate und interaktive Grafiken, die Zahlen zur Pandemie darstellen, sind optimal nutzerorientiert aufbereitet – und sie interessieren viele Nutzer auch stark. Aber das führt dazu, dass man diese Zahlen wie Tabellenstände im Sport miteinander vergleicht: Sind wir jetzt schon wie Italien oder Spanien? Wie schneiden die USA ab? Wie stehen die Bundesländer und Landkreise in Deutschland da? Wer überholt wen? Diese Zahlenfixierung erinnert an die sogenannte Horse-Race-Berichterstattung, wobei die Pferde auf ganz unterschiedlichen Rennstrecken unter unterschiedlichen Bedingungen davon galoppieren. Die Zahlen werden für bare Münze in Echtzeit genommen. Aber auch wenn die Zahlen bei wissenschaftlichen Institutionen abgegriffen sind, können sie gar nicht das leisten, was man von ihnen erwartet: nämlich ein getreues Abbild der Wirklichkeit. Diese Zahlen erzählen die Geschichte nur einseitig, schmal und mitunter auch schief. Wenn es zum Beispiel heißt: “Zahl der Infizierten” – dann stimmt das nicht. Es ist die Zahl der bis dahin statistisch erfassten positiven Tests. Die Zahl der positiv Getesteten international zu vergleichen, ergibt gar keinen Sinn. Es gibt Länder, wo nur diejenigen getestet werden, die in die Klinik eingeliefert werden, in Deutschland und in der Schweiz wird dagegen vergleichsweise breit getestet, in anderen Ländern noch breiter. Auch der tägliche oder gar stündliche landesweite Vergleich hinkt: In manchen Regionen dauern die Tests zwei Tage, in anderen fünf bis zehn Tage.
Bei der Zahl der Corona-Toten müsste unterschieden werden zwischen Menschen, die an Corona gestorben sind, und Menschen, die an etwas anderem gestorben sind, bei denen das Virus aber auch nachweisbar war. Medizinisch ist das nicht immer möglich und es wird national nicht statistisch erhoben – aber in der Zahlenberichterstattung wird dieses Problem nicht angesprochen. Man sollte immer wieder darauf hinweisen, welchen Hintergrund und welche Schwächen diese Zahlen haben. Journalisten sollten diese Zahlenfixiertheit hinterfragen und die Gültigkeit der Zahlen relativieren. Das ist natürlich eine Herausforderung für Datenjournalisten, weil sie ja zugeben müssten, dass ihre sehr attraktiven Grafiken auf wackeligen Beinen stehen. Manche haben allmählich den Mut, das zu tun, aber nicht überall ist das bisher sichtbar.
(2) Strukturen statt Einzelfälle: Über die genannten Zahlen hinaus heben die Routinen vor allem des Nachrichtenjournalismus bei Krisen, Konflikten und Katastrophen schon immer den schwerwiegenden Einzelfall hervor, der oft mit Kriegsrhetorik vorgetragen wird. Einordnender Kontext und Gesamtstrukturen sind in kurzer Zeit nur schwer zu recherchieren und sorgen kaum für Aufmerksamkeit. Diese Routinen laufen aber Gefahr, den dramatischen Einzelfall zu pauschalisieren und damit Angst und Panik zu verursachen. Beispiele in der Corona-Krise sind Berichte über Hamsterkäufe oder über einzelne überlastete Kliniken. Dass in Deutschland aber alleine in 975 erfassten Kliniken noch 9.000 Intensivbetten frei sind und ebenso viele in 24 Stunden neu belegt werden können, wird kaum thematisiert – bei etwa 2100 Corona-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung (Zahlen nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom 2. April auf Basis des Intensivregisters; neuere und vollständigere Zahlen gibt es erst wieder ab dem Osterwochenende). Fallbeispiele sind im Journalismus wichtig, um Abstraktes zu veranschaulichen und die Aufmerksamkeit auf Themen zu lenken – aber die Fälle sollten möglichst das Gesamtbild verdeutlichen und nicht verzerren.
(3) Transparente Berichterstattung: Was die Bevölkerung über dieses Virus, seine Gefährlichkeit und die Wirkungen und Nebenfolgen der behördlichen Maßnahmen weiß, weiß sie fast ausschließlich über die Medien. Wieder wird wie durch ein Brennglas jetzt deutlich, wie die durch Journalismus konstruierte Medienrealität die demokratische Gesellschaft und das Leben im Alltag beeinflusst. Es wäre gerade jetzt wichtig, dass der Journalismus seine eigene Rolle in dieser Krise thematisiert und transparent über die Bedingungen, Routinen und Grenzen der Berichterstattung aufklärt. Transparenz ist zu einem zentralen Qualitätsfaktor der digitalen Medienwelt geworden, ist aber gerade jetzt unter die Räder der Routinen gekommen. Die Frage zum Beispiel, warum Redaktionen so berichten, wie sie berichten, und nicht anders, was sie warum unterlassen, erfährt das Publikum selten. Sowohl in Deutschland wie in der Schweiz lassen sich Beispiele finden, wie sich der Medienjournalismus zurzeit eher auf die Darstellung der journalistischen Arbeit im Homeoffice oder der Einsamkeit im Newsroom konzentriert (vgl. NRD Zapp vom 1. April): Es bräuchte mehr Aufklärung statt vor allem Nabelschau.
Und es gäbe so vieles zu thematisieren. In Bayern und im Tessin dürfen an Pressekonferenzen der Landesregierungen keine Journalisten mehr teilnehmen, nur Kameraleute für die Livestreams. Journalisten müssen Fragen per Mail an die Regierungssprecher einreichen – ohne Nachfragemöglichkeit, wenn die Frage nicht ausreichend beantwortet wurde. Das wurde zwischen Staatskanzlei und Landtagspresse so ausgehandelt und öffentlich einfach so hingenommen. Es gab dazu weder von der Landtagspresse noch von den Journalistenverbänden eine öffentliche Debatte, geschweige denn einen Aufschrei. Ob dem Publikum bewusst ist, dass sich die Pressekonferenzen zu Verkündigungs-Livestreams gewandelt haben – mit Journalisten als leicht zu verzichtende Staffage?
(4) Vielfältige Auseinandersetzung: Dass weitreichende politische Entscheidungen mit Eingriffen in die Grundrechte zwischen einzelnen Experten und der Exekutive im Hinterzimmer verhandelt und anschließend an die Bevölkerung distanzlos vermittelt werden, sollte die absolute Ausnahme in der Demokratie sein – und darf sich auch in den nächsten Tagen und Wochen nicht fortsetzen. In einer distanzierten Debatte müssen spätestens jetzt weitreichende Fragen gestellt und recherchiert werden. In der Schweiz dürften wir eine viel stärkere kritische Auseinandersetzung mit dem eingesetzten Notrecht erwarten. Einige Beispiele: Wie lange kann der Bundesrat nun ohne parlamentarische Debatte radikale und weitreichende Entscheide fällen? Was bedeutet dies für den demokratischen Prozess, wenn Milizparlamentarier Homeoffice machen und beispielsweise grüne Volksvertreter nur noch zuschauen können, wie darüber entschieden wird, ob und wie Luftfahrtgesellschaften Finanzspritzen erhalten? Wenn die Exekutive dominiert und die parlamentarische Debatte verstummt, muss der Journalismus besonders wachsam sein. Die Prüfung von Exekutivvoten in Zeiten des Notrechts ist nicht einfach ein weiteres Thema, das man auch mal bringen kann; es ist Pflicht.
Auch für den Katastrophenfall in Deutschland stellen sich weitreichende Fragen. Vor allem war eine offene und vielfältige Debatte über mögliche Exit-Strategien für lange Zeit weitgehend tabuisiert – und viele Medien vermeiden das Thema auch jetzt noch: Wann kehren wir wieder zur Normalität zurück und wovon machen wir das abhängig? Nur von den Fallzahlen? Auch vom Ausmaß der Nebenwirkungen sozialer Isolation? Oder nur von der Zahl der zur Verfügung stehenden Masken, wie es in den letzten Tagen den Anschein hatte? Wie könnte ein schrittweiser Exit aussehen? Diese Fragen müssten gestellt werden, und wir denken, wenn sie seriös recherchiert und nicht sensationalistisch dargestellt werden, tragen sie nicht nur zur Aufklärung mündiger Bürger, sondern auch zur konstruktiven Orientierung bei. Verfassungsrechtler verweisen darauf, dass Eingriffe in die Grundrechte ernsthaft öffentlich diskutiert werden müssen und nicht die drakonischste Maßnahme das Mittel der Wahl ist, sondern das mildest mögliche Mittel. Gerade dann, wenn die Parlamente die Macht weitgehend an die Exekutive übergeben haben, die per Verordnung regiert, und Versammlungen und Demonstrationen verboten sind, muss der offene Diskurs in den Medien stattfinden.
(5) Virologen als unfehlbare Medienstars: Einige wenige Chef-Virologen wurden zu unfehlbaren Medienstars aufgebaut. Doch auch die Studien und Aussagen, Ratschläge und Forderungen der Virologen sind sich im Detail nicht einig, ja können sich in dieser neuen wissenschaftlichen Herausforderung gar nicht einig sein. Eine der wichtigsten Wissenschaftstheorien des 20. Jahrhunderts ist der Kritische Rationalismus, der das Falsifikationsprinzip formuliert hat (nach Karl Popper): Wissenschaftlicher Fortschritt ist vor allem durch das Widerlegen von Theorien möglich und kaum durch dauerhaftes Bestätigen. Wissenschaftler müssen sich irren dürfen. Sie müssen sogar daran arbeiten zu beweisen, dass die Wissenschaft sich geirrt hat. Wissenschaft, also die Suche nach Wahrheit, muss per se mit Unsicherheit leben. Deshalb ist es grundfalsch, einzelne Wissenschaftler als unfehlbare Medienstars aufzubauen. Sie sind damit überfordert. Es ist nicht die Aufgabe ihrer Profession. Der Zweifel ist ihr Prinzip, nicht Gewissheit. Sie haben auch kein demokratisches Mandat.
Die Auswüchse der Berichterstattung zeigen sich in Deutschland beispielhaft, wenn die Zeit Christian Drosten als neuen Bundeskanzler karikiert (“Ist das unser neuer Kanzler?”) oder die Bild über das Vertrauen in die sieben “wichtigsten Kämpfer gegen Corona”, also in Virologen, abstimmen lässt. Und: Wissenschaftler sind Experten in ihrem je eigenen Fachgebiet. Deshalb braucht es in der demokratischen Gesellschaft Journalismus: einen recherchierenden, distanzierten Journalismus, der verschiedene Perspektiven in einem Fach thematisiert, auch verschiedene Fachgebiete befragt. Es ist klar, dass ein Epidemiologe eine Eindämmung um jeden Preis fordern muss. Den Preis zu berechnen und zu begrenzen, ist nicht seine Aufgabe. Das müssen andere Fachleute machen. So muss der Journalismus den Diskurs über Domänengrenzen hinaus organisieren. Beispielsweise indem er unter Rückgriff auf politologische und juristische Expertise notrechtliche Auswüchse thematisiert, mit der Soziologin der Frage nachgeht, wie das Virus Machtverhältnisse oder den Umgang mit Risiken verändert, mit dem Ethikprofessor über medizinische Entscheidungen diskutiert, mit der Psychologin über die Auswirkungen von Quarantäne auf Menschen in labilen Verhältnissen spricht – oder gerne auch mit der Kommunikationswissenschaftlerin die Routinen des Journalismus, die Medienlogik und die Macht der Medien reflektiert.
Alles in allem: Es ist an der Zeit, dass sich der Journalismus auf seine Maximen besinnt und die Folgen des Handelns zwar im Auge behält, aber nicht mehr in den Mittelpunkt redaktioneller Abwägungen stellt. Was viele Menschen jetzt als wohltuend empfinden – dass in der politischen Auseinandersetzung kein Streit allein um des Streits willen provoziert wird wie so oft in den letzten Jahren – könnte durchaus beibehalten werden. Aber ein öffentlicher Streit um des intensiven Austauschs von Argumenten willen gehört zur Demokratie wie Wasser zum Leben.
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Zu den Autoren
Klaus Meier Foto: KU Eichstätt
Klaus Meier ist seit 2011 Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt –  davor war er an der Technischen Universität Dortmund und der Hochschule Darmstadt. Weitere Infos zu seiner Person gibt es hier.


Vinzenz Wyss Foto: ZHAW
Vinzenz Wyss ist seit 2003 Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Weitere Infos zu seiner Person gibt es hier.

Beide Autoren forschen und publizieren seit mehr als 20 Jahren zu Qualität und Ethik des Journalismus.


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