Hoffnung auf die Unendlichkeit
Mathematiker kennen das Zeichen für UNENDLICH mit der liegenden Acht.
Die S-Bahn
fährt vom Zürcher Hauptbahnhof in den Hirschengrabentunnel. Durch die
Lautsprecher folgt die Durchsage: «Nächster Halt: Stadelhofen.
Endbahnhof. Wir bitten alle Reisenden auszusteigen und verabschieden
uns von Ihnen.» Der Zug kommt wieder ans Tageslicht, stoppt, öffnet die
Türen, entlässt die letzten Passagiere. Es ist 8.40 Uhr.
Ich bleibe sitzen, will
herausfinden, was nach dem Ende kommt. Die Türen schliessen wieder, der
Bildschirm mit dem Fahrplan erlischt, die Lichter gehen aus.
Durch das vordere Türfenster sehe ich die rote SBB-Lok. Sie ruckelt los,
zieht die Wagen immer schneller in den Zürichbergtunnel. Schwarz um
mich. Was folgt? Erlebe ich eine nie enden wollende Bahnfahrt wie in
Friedrich Dürrenmatts Erzählung «Der Tunnel»?«
Alles
hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei», sagt der Volksmund flapsig. Doch
die heutige Gesellschaft ist drauf und dran, das Ende abzuschaffen: Im
Fernsehen gibt es seit den 90er-Jahren keinen Sendeschluss mehr; wegen
eines Volksentscheids von 2013 dürfen zumindest Tankstellenshops rund um
die Uhr geöffnet haben; Durchgangsbahnhöfe ersetzen zunehmend
Kopfbahnhöfe mit ihren Prellböcken am Ende der Gleise. Und im Silicon Valley tüfteln sie am ewigen Leben herum.
Wir bewegen uns immer mehr in einer Endlosschleife ohne Anfang, ohne
Schluss. Kein Wunder, ist der Buddhismus mit seinem Radsymbol und der
Idee des wiederkehrenden Lebens im Westen eine Trendreligion.
Hoffnung, dass noch etwas kommt
Usw., etc., usf. …: Auch in der Sprache
finden sich Wendungen, welche die ununterbrochene Fortdauer zum Ausdruck
bringen – damit können wir über das Ende hinaus denken. In der
Mathematik kennt man die liegende Acht als Unendlichzeichen. Und die
Astronomie entwickelt angesichts der Weite und Tiefe des Sternenhimmels
die Vorstellung eines unendlichen Weltraums – ein Ort, der gemäss
Theologie und manchen philosophischen Konzeptionen Gott vorbehalten ist.
«Die Busse ist schlechthin Erhebung des Gemütes über alles Endliche,
ein Aufgehen in Gott», schrieb der deutsche Mystiker Meister Eckhart
(1260–1328) und entwarf mit diesem Gedanken eine Überwindung der
Endlichkeit auf Erden. Aber es ist eben «bloss» eine gedankliche
Überwindung. Jetzt geht es um das handfeste Einreissen aller
Einschränkungen.
Dabei ist es
historisch gesehen noch nicht lange her, dass die Menschen überall auf
der Welt Endmarken sahen, hinter denen das Leben nicht mehr weiterging:
Die Römer erachteten das Cabo de São Vicente im äussersten Südwesten
Portugals als das Ende der Welt, lateinisch Finis terrae. Davon leitet
sich der Name Finistère für den westlichsten Zipfel der französischen
Bretagne ab.
So weit muss man gar nicht gehen: Uns
Schweizern war schon früher das eigene Land Welt genug. Und so
bezeichneten die alten Eidgenossen sowohl den Talkessel von Horbis bei
Engelberg OW wie auch die Hochebene bei Magglingen BE, worauf ein Teil
der Eidgenössischen Hochschule für Sport
steht, als «End der Welt» – natürlich jeweils mit einer gleichnamigen
Beiz für den letzten Umtrunk, wie es sich für die Schweiz gehört.
Diese – wenn oft auch nur sprachlich – festgelegten Begrenzungen
schafften die Voraussetzung für Abenteuer. Sie zu überschreiten, war ein
Tabubruch, brauchte Courage, zeugte von der Hoffnung, dass danach noch
etwas kommt – wie ein Hidden Track auf einer CD.
Als der portugiesische Seefahrer Gil Eanes 1434 als Erster das Kap
Bojador an der Küste der Westsahara umschiffte, war er gewarnt: 15
Kapitäne vor ihm hatten es nicht geschafft, weshalb der Ort auch
Kap des Schreckens oder Kap ohne Wiederkehr hiess. Wer das damalige
Ende der Welt überschreiten sollte, würde in ein kochendes Meer segeln,
wo die Sonne alles versengte und die Haut der Menschen schwarz färbte –
so die Vorstellung. Eanes gilt seither als todesmutiger Wegbereiter der
europäischen Seeroute nach Indien.
Erfolgreiche «Lange Nächte»
Heute rennt man fast überall offene Türen ein. Heute kann man höchstens noch als Basejumper über die Mürrenfluh hinaus ins Leere schreiten und sich in die Tiefe des Lauterbrunnentals bei Interlaken BE stürzen. Oder man bleibt – weniger mutig – an einem Endbahnhof im Zug sitzen und schaut, was passiert.
Die S-Bahn ist inzwischen wieder ans
Tageslicht gekommen, rast an Dübendorf ZH vorbei und bremst in
Schwerzenbach ZH ab. Eine Station? Nein, die Türen bleiben
verschlossen, die Komposition setzt nach einer Weile kurz zurück und
bleibt auf offenem Gleis stehen. Stille, manchmal knackt das Material
der Verschalung – immerhin bleibt der Wagen geheizt. Es ist 9 Uhr. Und
ich bin an einem Ort, an dem zu diesem Zeitpunkt niemand sein sollte.
Welchen Reiz solche letzten Zonen ennet einer roten Linie haben, zeigt
der Publikumsandrang, den Veranstaltungen wie «Die lange Nacht der
Museen», «Die lange Nacht der Hotelbar» oder «Die lange Nacht der
Industrie» hervorrufen: Man darf über das Ende hinaus verhocken und ist
zu einem Zeitpunkt in Räumen, die dann normalerweise verschlossen sind.
Um die Jahrtausendwende in Berlin aufgekommen, haben sich die «Langen
Nächte» schnell über den gesamten deutschsprachigen Raum ausgebreitet –
in der Schweiz gibt es solche Angebote in Basel, Bern, Luzern oder Zürich.
Ausstellungsgegenstände zu Unzeiten anschauen zu dürfen, hat etwas
Exklusives, gibt dem Anlass einen Thrill. Erscheinen sie unter einem
anderen Licht, wirken sie anders auf einen?
Fantasieanregend sind in diesem Zusammenhang sicher die «Night at the
Museum»-Filme mit US-Komiker Ben Stiller (52), in denen sich die
naturhistorischen Ausstellungsgegenstände nachts zu Leben erwecken.
«Museumsnächte gehören zu den wichtigsten und erfolgreichsten
Marketingmassnahmen», sagt Catherine Schott, Generalsekretärin des
Verbands der Museen der Schweiz (VMS). Man spreche damit ein anderes,
neues Publikum an, denn «es wird das Erlebnis und Unterhaltung gesucht,
nicht die vertiefte Auseinandersetzung».
Am heutigen Silvester
bieten auch viele Restaurants und Bars eine lange Nacht an – ganz
legal, denn es ist Freinacht. Doch an anderen Tagen setzen die
kantonalen Gastgewerbegesetze dem Gast – noch – deutliche Grenzen. So
lautet zum Beispiel Paragraf 39 in Zürich: «Mit Busse wird bestraft (…)
c. wer sich als nicht beherbergter Gast während der Schliessungszeit in
einem gastgewerblichen Betrieb aufhält.»
In
Warenhäusern versucht man die Menschen abends auf die sanfte Tour
loszuwerden. «Die Schliessung wird kurz vor Ladenschluss per
Lautsprecher angekündigt», sagt Tais Hitomi Okai von Manor. «Die Kunden richten sich danach oder werden gegebenenfalls höflich von den Mitarbeitenden darauf aufmerksam gemacht.»
Dem Kundenbedürfnis nach verlängerten Öffnungszeiten trage man zudem im
Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten Rechnung: War noch vor 20 Jahren
samstags um 16 Uhr Schluss, kann man heute bis 20 Uhr einkaufen.
Andere Geschäfte haben den Ladenschluss noch weiter in die Nacht
verschoben. Und am Morgen schliessen sie häufig früher auf.
Google spielt Gott
Sollten dereinst alle Schranken fallen und jegliche Örtlichkeit rund um
die Uhr zugänglich sein, so bleibt doch noch etwas begrenzt: das eigene
Leben. Diese Grenze lässt sich nicht bewusst überschreiten. Und wer sie
zeitweise überschritten hat und darüber berichten kann, der hatte eine
sogenannte Nahtoderfahrung.
So wie Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan (55), der 1996 nach einer Überdosis Heroin einen Herzinfarkt
erlitten hatte. In einem Interview sagte er: «Ich schwebte direkt
unter der Decke und konnte genau beobachten, was unten passierte:
Sanitäter rannten um meinen Körper herum und versuchten, mich zu retten.»
Solche Anekdoten, in denen Menschen berichten, was nach dem Ende kommt, sammelt Stefan Nadile (37) von der Universität Bern im Rahmen seiner Doktorarbeit.
Bereits mit 30 Personen hat er über ihre Nahtoderfahrungen gesprochen,
und viele stimmen mit Gahans Schilderung überein. «Einige Personen,
die ich interviewt habe, berichten von einer Schranke oder einer Grenze,
die sie gesehen oder gespürt haben», sagt Nadile. «Sie wussten, wenn
sie diese Grenze überschreiten würden, könnten sie nicht mehr
zurückkehren.» Und entsprechend nichts mehr berichten.
Auch diese Grenzerfahrung scheint uns Menschen längerfristig abhandenzukommen, denn Internetgigant Google will das Altern stoppen und den Tod überwinden. Dazu haben die beiden Firmengründer Larry Page (44) und Sergey Brin
(44) vor vier Jahren eigens Calico aus der Taufe gehoben, die
California Life Company. Denn sie sehen in den Genen nichts anderes als
eine grosse Ansammlung von Daten. Und die Datenauswertung ist die Spezialität von Google.
Google spielt Gott. «Dass du nicht enden kannst, das macht dich gross»,
schrieb schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem Gedicht «Unbegrenzt»
von 1819. Darin findet sich aber auch der Vers: «Anfang und
Ende immerfort dasselbe». Ein Leben ohne Schranke ist eben schnell
einmal eintönig. Diese Vorstellung hat auch US-Regisseur Woody Allen
(82) und warnt: «Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.»
Es ist 9.30 Uhr: Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich nun schon in diesem
leeren S-Bahn-Wagen auf dem Nebengleis in Schwerzenbach. Langeweile. Von
Zeit zu Zeit rauscht draussen eine andere S-Bahn vorbei. 9.45 Uhr: Nun
bewegt sich auch mein Zug zurück nach Dübendorf
– auf Gleis 1. Dort bleibt er bis zum abendlichen Stossverkehr stehen.
Erst um 16.21 Uhr steigen wieder Pendler im Bahnhof Stadelhofen in
diesen Sonderzug ein, der sie wieder nach Hause bringt.
Fazit: Wenn ich heute über das Ende hinausgehen will, brauche ich viel
Geduld, lande schliesslich auf einem Abstellgleis und werde irgendwann
wieder in den Kreislauf eingefügt. Das ist das Endlos. Der letzte
anarchische Akt, der mir bleibt, ist, bis Ende Januar weiterhin 2017
auf Briefköpfe zu schreiben – aber das mache ich unfreiwillig sowieso.
Publiziert BLICK online am 01.01.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen