Alle waren sie da. Gleich nachdem das Wunder geschehen war, kamen sie: die Bildungsexperten, Bildungspolitiker,
Bildungserklärer und Bildungsverklärer. Sie alle sind in den letzten 15
Jahren mindestens einmal nach Finnland gereist. Das gehörte sich so,
seitdem das Land in der ersten OECD-Bildungsstudie Pisa des Jahres 2000
den Spitzenplatz eingenommen und sich viele Nationen angesichts der
miserablen Leistungen ihrer eigenen Schüler die Augen rieben. Auch in
der Schweiz war man schockiert.
Man analysierte also die von staatlichen Vorgaben weitgehend unabhängigen finnischen Schulen,
die so Wundersames vollbracht hatten. In denen es angeblich so gerecht,
heimelig und egalitär zugeht. Wo Lehrer nicht vorn referieren und die
Schüler protokollieren. Sondern wo Pädagogen sich als Organisatoren von
Gruppenarbeit verstehen, die Schüler anregen, von anderen Schülern, zu
lernen und wenig Hausaufgaben vergeben.
Der Absturz
Die
schöne neue Schulwelt wurde bewundert und kopiert, weil sie dem
Zeitgeist entsprach und erfolgreich schien. Doch sie ist offenbar ein
Trugbild. Das finnische Wunder ist nicht von Dauer. Vieles deutet darauf
hin, dass die Ursachen, die zu dem Wunder führten, ganz andere waren,
als die, von denen seit über einem Jahrzehnt die Rede ist.
«Vergleicht
man die Pisa-Ergebnisse Finnlands der Jahre 2003 und 2012, sieht man,
dass das Land 25 Punkte eingebüsst hat. Das entspricht dem Lernerfolg
eines ganzen Schuljahrs», sagt Christine Sälzer, nationale
Pisa-Koordinatorin von der TU München. In Mathematik liegt Finnland zwar
noch immer über dem OECD-Durchschnitt, die Fallhöhe ist jedoch
bemerkenswert. Gabriel Heller Sahlgren von der London School of
Economics hat den Niedergang des finnischen Bildungswunders untersucht.
Im April veröffentlichte er seine Erkenntnisse beim Centre for Policy
Studies.
Sahlgren zeigt, dass das finnische Schulsystem
zum Zeitpunkt seines grossen Pisa-Erfolgs von Früchten zehrte, die lange
zuvor unter ganz anderen Bedingungen gesät worden waren. Die Wahrheit
ist, dass das System des «Lehrkoordinators» erst in den 90er-Jahren
eingeführt wurde. Bis dahin war der Frontalunterricht mit einer starken
autoritären Stellung des Lehrers das massgebliche Prinzip. «Historisch
waren finnische Schulen vergleichsweise hierarchisch aufgebaute
Institutionen, die eine Kultur des Gehorsams und der Autorität
reflektierten, die in der finnischen Gesellschaft viel länger
massgeblich war als in anderen nordeuropäischen Ländern», schreibt
Sahlgren.
Hohe Anerkennung
Finnlands Lehrer
geniessen in Umfragen noch heute enorme Anerkennung in der Bevölkerung.
Das liegt auch daran, dass nur die Besten eines Jahrgangs Lehrer werden
dürfen. Gleichzeitig zeigen Studien vergangener Jahrzehnte, dass diese
Anerkennung nichts mit Sympathie für die Pädagogen zu tun hat. Viele
Schüler beschreiben ihre Lehrer bis weit in die 90er-Jahre hinein als
unnahbar und wenig empathisch. Anfang 2007 – mitten in Finnlands
Pisa-Hochphase – berichtete ein Unicef-Report, dass in keinem anderen
Land Kinder weniger gern zur Schule gehen. Damals hatte man dafür keine
Erklärung. Denn es konterkarierte das vorherrschende Bild.
Finnlands Beispiel zeigt: Die Leistungsschule und die Schule der Glücklichen – das scheint sich auszuschliessen.
Kalkuliert
man jedoch ein, dass dieses System und seine aktuellen Lehrformen nicht
unbedingt etwas mit dem Schulklima, das über Jahrzehnte entsteht, und
der entscheidenden Rolle des Lehrers zu tun haben, wird das Ergebnis
plausibel. Die Schüler nahmen Schule und Lehrer offenbar noch immer als
autoritär und dominierend wahr. Erst seit der Jahrtausendwende änderte
sich dies, das beweisen Studien. Gleichzeitig ging die Leistung der
Schüler zurück.
.
Top durch Drill und Druck
Der
finnische Erfolg im ersten Pisa-Jahrzehnt ist gleichwohl keine Chimäre.
Er ist real. Ebenso real wie der Erfolg der asiatischen Staaten. Doch
die waren aufgrund ihres auf Drill und Druck fussenden Systems zur
Nachahmung schlicht ungeeignet. Auch deshalb wurde Finnland das
Sehnsuchtsland europäischer Bildungsfans. Dabei haben oder besser hatten
die Finnen und die Asiaten doch mehr gemein, als man glauben könnte.
Autorität, Druck und Frontalunterricht – die Rezepte Chinas, Japans,
Singapurs – waren den Finnen, deren Lehrer ja nicht plötzlich
pensioniert wurden, bis in die 2000er-Jahre vertraut.
Oberflächlich
präsentierten sich die Schulen ganz anders – frei, antiautoritär und an
Gruppenarbeit orientiert. Man hatte sich ein Schulsystem zeigen lassen,
dessen Effekte auf die Leistungsfähigkeit die Finnen selbst noch nicht
absehen konnten und vor denen sie heute erschrecken. Was heisst das nun?
Zurück zur autoritären Schule? Zum strafenden Lehrer? Schluss mit
Gruppenarbeit und Gemeinschaftsschule?
In jeder Umfrage sagen Eltern
heute, dass ihnen das Leistungsprinzip nicht so wichtig sei wie der
Spass am Lernen. Das Beispiel Finnlands lehrt, dass beides vielleicht
nicht geht: Spass an der Schule und Topleistungen. Insofern könnte es
gut sein, dass Finnlands Schüler heute zwar schlechter, aber dafür
glücklicher sind.
(Tages-Anzeiger)
Kommentar: Es ist verständlich, dass viele Erziehungswissenschafter befürchten, dass es nach der Untersuchung in Finnland bei unserer Schule zu einer Rückkehr in Richtung Frontalunterricht und Drill kommen könnte.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur EINE Lehrform gibt, die Erfolg verspricht. Für mich hängt der Lernprozess vor allem von Lehrperson ab. Ich plädiere für Methodenfreiheit. Der Lehrer ist die wichtigste Schlüsselfigur.
Bei den Unterrichtformen gilt ein "Sowohl- als auch" und nicht nur das missionarische "Entweder - oder".
Je nach Situation kann Gruppenunterricht, Frontalunterricht usw. erfolgreich sein. Doch ist es erwiesen, dass Lernen nicht ohne Training, ohne Wiederholung, ohne Schweiss und aktives Tun geht.
Fördern heisst bekanntlich auch fordern.
Extreme führten stets in eine Sackgasse.
Es gibt eine extreme Sicht von einer gerechten, heimeligen Kuschelschule, bei der es in vor allem darum geht, dass sich ein Kind wohlfühlt und somit auf jeglichen Druck verzichtet wird. Diese Modell kennt keinen Wettbewerb und Hausaufgaben und schätzt keine Noten.
Anderseits ist eine Schule, bei der Drill, Druck, Disziplin erste Priorität hat. Spass und Wohlbefinden wird ausgeklammert.
In der Schule haben extreme Glaubensbekenntnisse keinen Platz.
Finnlands Beispiel scheint zu vermitteln, dass sich die Leistungsschule und die Schule der Glücklichen nicht vereinbart werden können.
Wir sollten endlich erkennen, dass die Stellung des Lehrers eine massgebliche Rolle spielt. Er ist Lehr- und Lernkoordinator und ist zugleich auch Autoritätsperson. Er muss den Spagat schaffen zwischen Autorität und einfühlsamem Motivator.
Frontalunterricht und Gruppenarbeiten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das setzt voraus, dass den Lehrpersonen klare Ziele gesetzt, jedoch hinsichtlich Methodenfreiheit keine Einschränkungen auferlegt werden.
Gefragt sind somit in erster Linie Lehrerpersönlichkeiten, die fordern und fördern.
FAZIT: Im Unterricht ist die Methode weniger wichtig als der Mensch.
Beim Lehren spielt die Beziehung Lehrperson-Schüler eine zentrale Rolle.
Ein Lehrer bringt die Schüler zu einem Aha-Erlebnis.
Der Lehrer muss das Fach - aber vor allem das Lehren - lieben.
Ohne gute Autorität kommt es zwangsläufig zu Schwierigkeiten.
In Finnland war der Unterricht stärker vom Lehrer geleitet, viel stärker strukturiert und dadurch auch besser auf den individuellen Schüler fokussiert.
Der Lehrerberuf ist so wichtig, dass er unter guten Bedingungen arbeiten dürfte und für diesen anspruchsvollen Beruf müssten nur die besten Anwärter ausgesucht werden.
NACHTRAG (Tagi-online)
Interview
Der schwedische Forscher Gabriel Heller Sahlgren
fordert eine Rückbesinnung auf den traditionellen, autoritären
Unterricht. Gescheite und gleichzeitig glückliche Schulkinder seien
dennoch möglich, sagt er.
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