Hamburg: 200 Flüchtlinge geraten in Erstaufnahmeeinrichtung aneinander
Bei Streits unter Flüchtlingen in einer überfüllten
Einrichtung sind mehrere Menschen verletzt worden. Hamburg will nun
leerstehende Gebäude als Unterkünfte nutzen.
In einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Hamburg ist
es zu Auseinandersetzungen zwischen zwei größeren Flüchtlingsgruppen
gekommen. Insgesamt mehr als 200 Flüchtlinge seien im Laufe des
Mittwochs immer wieder aneinandergeraten, sagte ein Polizeisprecher am
Donnerstagmorgen. Die Polizei rückte schließlich mit 50 Einsatzkräften
zum Einsatz aus.
Demnach habe es bei der Auseinandersetzung zwischen den
syrischen und afghanischen Flüchtlingsgruppen auch Verletzte gegeben.
Die teils aggressiven Menschen auf beiden Seiten hätten zudem auch
Schäden verursacht – Betten und Stühle seien zu Bruch gegangen.
Der Polizeieinsatz dauerte am Donnerstagmorgen an. Genauere
Angaben zum Anlass der Auseinandersetzung oder der schwere der
Verletzungen konnte der Sprecher zunächst nicht machen.
Immer wieder ist es in den vergangenen Wochen zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen
in meist überfüllten Flüchtlingsunterkünften gekommen. Anlässe dafür
sind meist fehlende Privatsphäre oder etwa ein Streit bei der
Essensausgabe. Die Auseinandersetzungen in Flüchtlingsunterkünften waren
Anlass für eine Debatte, ob Flüchtlinge etwa getrennt nach Religion untergebracht werden sollten.
Die Stadt Hamburg räumte am Mittwoch ein, nicht mehr alle
Flüchtlinge unterbringen zu können. Seit Dienstag müssen 500 Menschen
vor der zentralen Registrierungsstelle im Freien schlafen. Auch am
Mittwoch konnten keine Flüchtlinge in Unterkünfte verteilt werden.
Hamburg plant Gesetz zur Beschlagnahmung von Gebäuden
Die Kapazitäten der Stadt seien erstmals seit Beginn der
Flüchtlingskrise erschöpft, hieß es aus dem Büro des Innensenators. Nach
dem Willen von SPD, Grünen und Linken sollen daher leerstehende
Gewerbeimmobilien auch gegen den Willen der Eigentümer als Unterkünfte
genutzt werden. Am heutigen Donnerstag entscheidet die Bürgerschaft
endgültig darüber. Das Parlament hatte am Mittwoch in erster Lesung
mehrheitlich dem "Gesetz zur Sicherung der Flüchtlingsunterbringung in Einrichtungen" zugestimmt.
In namentlicher Abstimmung votierten 81 Abgeordnete für das
Gesetz, 37 stimmten dagegen. Eine abschließende zweite Lesung
verhinderten CDU, AfD und FDP.
Damit würde Hamburg einen ähnlichen Weg gehen wie Berlin, wo
bereits vier Gewerbeimmobilien beschlagnahmt und darin Asylbewerber
einquartiert worden sind. Nun wird in der Hauptstadt diskutiert, ob auch
die Eigentümer eines
weitgehend leerstehenden Gründerzeitblocks demnächst akzeptieren
müssen, dass Flüchtlinge in ihren Edelwohnungen unterkommen.
Focus.de hat sich mit der Problematik der Ausschreitungen in den Heimen befasst. Die Hintergründe für die Konflikte sind vielseitig, sie beruhen auf mindestens sechs wesentlichen Faktoren.
Die religiösen Differenzen
Im thüringischen Suhl entstanden Ausschreitungen, nachdem ein Flüchtling Koranseiten in der Toilette heruntergespült hatte. «Gerade wenn es um religiöse Tabus geht, sind viele Flüchtlinge sehr sensibel», erklärt Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, gegenüber focus.de. Das hänge auch mit negativen Erfahrungen in den Herkunftsländern zusammen. Mit anderen Worten: Die religiösen Konflikte werden nach Deutschland mitgenommen und nicht einfach an der Eingangstür der Asyl-Unterkünfte abgegeben.
Andere Wertvorstellungen und Alltagsgewohnheiten können ebenso zum grossen Streit führen wie die unterschiedlichen religiösen Ansichten an und für sich. «Ich kann in meinem Asylbewerberheim nicht offen sagen, dass ich Christ bin. Dann werde ich bedroht», sagte ein Flüchtling aus einem Asylbewerberheim im südlichen Brandenburg kürzlich der Zeitung «Welt».
Die beiden grössten Gruppen unter den Flüchtlingen sind Christen und Muslime. Die meisten Streitigkeiten gibt es allerdings unter den islamischen Glaubensgemeinschaften. Rainer Wendt, der Präsident der Deutschen Polizeigewerkschaft, erklärte jüngst gegenüber deutschen Medien: «Da kämpfen Sunniten gegen Schiiten, da gibt es Salafisten unterschiedlichster Ausprägung. (...) Frauen werden zur Verschleierung gezwungen. Männer werden gezwungen zu beten. Islamisten wollen dort ihre Worte und Ordnung einführen.»
Rassismus, Diskriminierung, Sprachbarrieren
«In den Erstaufnahmerichtungen finden sich die Flüchtlinge oft in ihren Herkunftsstrukturen wieder», meint Konfliktforscher Ulrich Wagner von der Universität Marburg gegenüber Focus.de. Schon aufgrund der Sprachbarriere sei eine Durchmischung der Flüchtlingsgruppen mit unterschiedlicher Herkunft oft nicht möglich. Deshalb würden sich in den Heimen die verschiedenen Gruppen gezielt voneinander abgrenzen.
«Natürlich haben wir auch unter den Flüchtlingen ein Problem mit Rassismus», bemerkte Helmuth Stoll, Referent für Migration, gegenüber Zeit.de. In vielen Ländern des Nahen Ostens sei die Diskriminierung von Farbigen alltäglich. In vielen arabisch-islamischen Staaten wurde auch lange Zeit mit afrikanischen Sklaven gehandelt. Das prägt das Denken der Menschen teilweise bis heute. Roma leiden ebenfalls häufig unter Diskriminierung. In zahlreichen europäischen Staaten werden Roma gleichgesetzt mit Bettlern, Landstreichern und Kriminellen. Diese Vorurteile prägen auch das Bild der Flüchtlinge.
Ethnische Konflikte
Das angespannte Verhältnis zwischen Kosovo-Albanern und Serben führt auch in Asylheimen zu Tumulten. Der Streit um die Unabhängigkeit des Kosovo ist auf dem Balkan tief verwurzelt, auch in der jüngeren Generation. «Unter normalen Umständen würde man sich wahrscheinlich aus dem Weg gehen und es käme nicht zur Konfrontation», erklärt Konfliktforscher Ulrich Wagner von der Universität Marburg. Im Flüchtlingsheim sei das aber nicht möglich.
Der Bürgerkrieg und die Konflikte in der Heimat
Besonders heikel kann es werden, wenn verfeindete Parteien aus den Herkunftsländern nahe in deutschen Heimen untergebracht werden. «Das Risiko ist gross, dass bei solchen Konstellationen Konflikte fortgeführt werden», weiss Islamforscher Meyer. Als Beispiele nennt er Türken und Kurden, jesidische und sunnitisch-arabische Iraker sowie Sunniten und Schiiten. Viele Jesiden haben Familienmitglieder bei Angriffen durch sunnitische Islamisten verloren, im Irak werden sie von der Terrormiliz Islamischer Staat als «Ungläubige» verfolgt und ermordet. Treffen sie nach den traumatischen Erfahrungen in den Unterkünften Deutschlands auf überzeugte Muslime, kommt es vor, dass sie ihre Wut auf sie übertragen. «Einstige Opfer könnten hier zu Angreifern werden», glaubt der Experte.
Die kulturellen Unterschiede
Neben den religiösen, ethnischen und politischen Konflikten spielen in den Flüchtlingsheimen die kulturellen Ansichten unter den Flüchtlingsgruppen eine nicht unwesentliche Rolle. Da sind zunächst die Kommunikationsprobleme, die zu Missverständnissen und schliesslich Streitigkeiten führen. Dazu gehören die körperliche Nähe sowie die Lautstärke beim Gespräch. Wagner: «Werden in der eigenen Kultur Konflikte eher ruhig ausgetragen und plötzlich erhebt der Gesprächspartner die Stimme, wirkt das aggressiv – auch wenn es nicht so gemeint ist.»
Die unterschiedlichen Perspektiven
Dass es in Flüchtlingsheimen zu Auseinandersetzungen und Krawallen kommt, liegt auch an durchaus menschlichen Eigenschaften wie Neid und Konkurrenzdenken. Anwärter, die keine Aussicht auf Asyl haben, sind oftmals enttäuscht, frustriert, verärgert. «Solche Gedanken können die Stimmung schnell negativ aufladen», erklärte Lothar Hölzgen, stellvertretender Präsident des Gewerkschaftspolizei Hessen, gegenüber Focus.de. Die – wie überall in Europa – öffentliche Diskussion um die Aufnahme von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen und deren unterschiedliche Asylansprüche befeuert die Konfliktsituationen zusätzlich.
Wagner sieht ein weiteres, keineswegs zu unterschätzendes Problem bei der Unterbringung von Asylsuchenden in deutschen Heimen. «Der Bildungsstand der Flüchtlinge ist sehr unterschiedlich.» So stammen aus Syrien viele gebildete Menschen aus der Oberschicht, wie etwa Ärzte, Anwälte oder Ingenieure. Aus manchen Ländern Afrikas kommen hingegen viele Analphabeten. Dass sich daraus beim Zusammenleben auf engstem Raum Probleme und Konfliktsituationen ergeben können, liegt nahe. (fal)
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