Freitag, 4. September 2015

Darf man ein totes Kind so zeigen?

Zur Gewissensfrage von Journalisten
Ich zitiere den TAGI:
Schreckliche Bilder aus Krisengebieten erreichen die Redaktionen alltäglich. Es gehört zum Job von Medienschaffenden, Bilder auszuwählen, die Geschichten treffend illustrieren. Meist ist klar, was gezeigt wird – und was nicht. Im Fall des toten Flüchtlingsbuben an einem türkischen Strand war das aber nicht so, die Meinungen in unserer Redaktion gingen auseinander.
Die Redaktion hat sich dazu entschieden, das am wenigsten explizite Bild des toten Flüchtlingskindes zu zeigen. Eine drastischere Version machen wir über einen Link am Ende der Ja-Meinung zugänglich: Wir möchten das Bild verfügbar machen, aber den Lesern den bewussten Entscheid überlassen, ob sie es auch sehen wollen.

Ja

Von Philippe Zweifel
Wie ein Stück Abfall angeschwemmt: Das Bild des toten Kleinkinds ist unerträglich. Drastischer noch als jenes vom Napalm-Mädchen in Vietnam oder die Aufnahmen der Leichenteile der abgeschossenen Passagiere von Flug MH 17.
Die Debatte, ob man solche Bilder zeigen darf, verläuft nach bekanntem Muster. Während einige Medien die Publikation des Bildes aus ethischen Gründen ablehnen, rechtfertigen andere die Veröffentlichung mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Dokumentation eines «historischen Ereignisses» oder «dem Recht der Öffentlichkeit auf Information». Doch wo hört diese Notwendigkeit auf, wo beginnt der Voyeurismus, wo der gemütliche Grusel?
Im Fall des toten Jungen kann von Voyeurismus oder Sensationslust kaum die Rede sein. Wer das Bild gesehen hat, bringt es nicht mehr aus dem Kopf. Mancher wird sich wohl wünschen, es nie gesehen zu haben. Gerade deshalb sollte es nicht nur mit sentimentalen Kommentaren versehen auf Social Media zirkulieren, sondern auch von den Medien gezeigt werden: Weil es ein ikonisches Mahnmal ist, keine Sensation.
Das Bild des toten Jungen durchsticht die Lähmung. 
Die Würde des toten Kinds? Die wurde ihm doch schon lange vor der Aufnahme des Fotos genommen. Auch durch die entmenschlichte Sprache wie sie derzeit von vielen Medien und Politikern benutzt wird. Das Bild ist so auch eine Erinnerung, dass die Flüchtlinge keine «Massen» sind, sondern Individuen. Kein «Schwarm», wie sie vom englischen Premierminister David Cameron genannt wurden. Und sicher keine «Fachkräfte» wie sie Christoph Mörgeli ironisch genannt hat.
Seit Monaten rieseln die Schreckensmeldungen über das Flüchtlingselend durch die Zeitungen und sozialen Medien. Wir haben uns daran gewöhnt, bei manchen hat Resignation eingesetzt, bei einigen wohl auch Gleichgültigkeit. Das Bild des toten Jungen durchsticht die Lähmung. Zwar können solche Fotos kaum moralische Haltungen schaffen, aber sie können sie festigen, und sie können ein Aufruf an die Politik sein, endlich etwas zusammen zu unternehmen. Ob mit Grenzzaun, Hilfe vor Ort, militärischen Einsätzen oder Asylrecht ist angesichts des Fotos nebensächlich. Hauptsache, man guckt nicht weg. Nicht weggucken – dafür steht dieses Bild. Schauen wir es also an.

Das besagte Bild finden Sie hier.

Nein

Von Robin Schwarz
Nein, dieses Foto des toten Flüchtlingskinds am türkischen Strand zeigen wir nicht. Wir zeigen keine Toten in aktuellen Krisensituationen. Das ist eine Regel und daran halten wir uns. Schon gar nicht zeigen wir Kinderleichen.
Ein Grund, diese Regel zu brechen, wäre folgende Ausnahme: Das Bild bewegt die Welt und darin schwingt die leise Hoffnung mit, dass plötzlich alles anders wird, sich der Umgang mit der Flüchtlingskrise ändert. Ist das diese Ausnahme?
Braucht es dieses schrecklich traurige Bild wirklich, damit wir uns unseres Versagens in der Flüchtlingspolitik bewusst werden? Braucht es das Bild, um zu wissen, dass ein kleiner Bub sein Leben beim Streben nach einem besseren Leben verloren hat? Oder braucht es das Bild, um uns das Drama der Flüchtlinge näherzubringen?
Nein, es braucht dieses Bild nicht. Wir haben schon genug gesehen. Es jetzt zu zeigen – mit einer «moralischen» Botschaft – ist purer Zynismus, Zynismus gegenüber all den Flüchtlingen, die ihr Leben bereits verloren haben und kaum Beachtung gefunden haben – und es ist respektlos gegenüber dem Vater des Jungen, der überlebt hat. Im Gegensatz zu seinem anderen Kind und seiner Frau. Die Geschichte, die durch dieses Bild verbreitet wird, ist nicht komplett. Und den Tod seines Sohnes muss er nun immer und immer wieder erleben, weil das Bild tausendfach reproduziert wird.
Es ist verlogen und unaufrichtig, erst jetzt kollektiv zu einer Einsicht gekommen sein zu wollen.
Wo ist da der Erkenntnisgewinn? Am Ende ist es mit diesem Bild wie mit allen Schreckensbildern. Sensationslust, Voyeurismus. Und vor allem ist es verlogen und unaufrichtig, erst jetzt kollektiv zu einer Einsicht gekommen sein zu wollen. Diese «Einsicht» wird jetzt kräftig überall in den sozialen Medien geteilt, das Bild des toten Jungen mit banalen pseudosentimentalen Sprüchen versehen. Wir stillen unseren Betroffenheitsdurst daran und lassen das Bild zu Kitsch verkommen – und morgen ist das Leid dieses Menschen wieder vergessen, das politische Hickhack geht weiter. Dass man dieses Elend zu einem Zweck instrumentalisiert, ist niemals richtig, sei der Zweck auch noch so nobel.
Nein, dieses Bild sollten wir nicht zeigen, nicht ein persönliches Leid vor der ganzen Welt ausbreiten. Schon gar nicht dann, wenn der Leser nicht einmal selber entscheiden kann, ob er damit konfrontiert werden will.

KOMMENTAR: Die Aufnahmen des Elendes mit Massen von Flüchtlingen ängstigten die Oeffentlichkeit und führten zu einer starken Abwehrhaltung. Wir sahen vor allem die MASSEN.  Die Medien erkannten, dass einzelne Schicksale, EINZELNE MENSCHEN gezeigt und portraitiert werden müssen. Nun so kann bei der Bevölkerung Anteil geweckt werden. Es ist offensichtlich, dass nach den Brandanschlägen auf Asylantenheime die wichtigsten Medien die Information sofort einhellig umstellten. Es werden derzeit vor allem Kinder und Mütter gezeigt, die leiden. Reporter begleiten Einzelpersonen und wecken mit ihren Reportagen  Mitleid.
Dadurch ist die Spendenbereitschaft  schlagartig angestiegen. Es lohnt sich, diese neue Art der Berichterstattung genauer ins Auge zu fassen. Wir sehen: Ausgewählte Bilder schaffen auch neue Wirklichkeiten.
Im Beitrag der Weltwoche: "Wir können nicht ganz Afrika aufnehmen", suggeriert ein grosse Bild mit vorwiegend jungen Männern, dass diese  vor allem vom Wohlstand Europas profitieren möchten. Auch hier geht es um Beeinflussung mit Bildern. Die Haltung der Weltwoche ist bekannt: Nur Menschen, die an Leib und Leben verfolgt werden sollen Schutz erhalten. Alle anderen wären zurückzuschaffen. 
NACHTRAG Symbolbilder (SRF):

Wie viel Leid dürfen, müssen, sollten die Medien zeigen?


Es ist eine Frage, die seit Jahrzehnten gestellt wird und immer wieder neu beantwortet werden muss: Wo endet die Informationspflicht, wo beginnt der Voyeurismus? Hier sind vier Bilder, die Geschichte schrieben – und die höchst unterschiedlichen Geschichten, die dahinter stecken.

1972 – das Symbolbild des Vietnamkriegs

Was wäre gewesen, wenn das berühmte Foto der nach einem Napalm-Angriff fliehenden Phan Thị Kim Phúc nie veröffentlicht worden wäre? Die Möglichkeit bestand, denn Mitarbeiter der Nachrichtenagentur AP hatten aufgrund der Nacktheit des Mädchens zunächst Bedenken. Doch das Bild ging um die Welt, und das hatte Folgen: Für die Diskussion um die Art der Kriegsführung, die neue Fahrt aufnahm.
Nick Ut und Kim Phuc Arm in Arm. Bild in Lightbox öffnen.
Bildlegende: Nick Út und Kim Phúc im Jahr 2012. Keystone
Und für das Mädchen selbst. Der Fotograf Nick Út brachte es nach seiner Aufnahme ins Krankenhaus, aber die Überlebenschancen schienen gering. Durch die weltweite Aufmerksamkeit wurden Spezialbehandlungen und Operationen ermöglicht, die Phan Thị Kim Phúc das Leben retteten. Sie studierte später Medizin, lebt heute in Kanada und gründete 1997 die «Kim Phuc Foundation», um kriegsversehrten Kindern medizinisch und psychologisch zu helfen.

1989 – ein Mann und die Panzer

Was die Veröffentlichung angeht nicht umstritten und bis heute weltberühmt ist das Bild des einsamen Mannes, der sich in der Nähe des Tian’anmen-Platzes in Peking den Panzern entgegenstellte. Kurz nach der Aufnahme wurde er von vier Personen weggezogen, sein Schicksal ist bis heute ungeklärt. Welche Symbolkraft eine Aktion entwickeln kann, wenn Bilder davon existieren, verdeutlicht dies: Der unbekannte «Tank Man» wurde vom Time Magazine in die Liste der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts aufgenommen.

11. September 2001 – Sturz in den Tod

Kein Zeitzeuge wird die Bilder der Menschen vergessen, die sich aus dem brennenden World Trade Center in den Tod stürzten. Eines davon, aufgenommen von Richard Drew, erlangte besondere Berühmtheit: Sein Foto eines fallenden Mannes wurde am Folgetag von der New York Times und vielen anderen grossen Zeitungen gedruckt. Daraufhin gab es – vor allem in den USA – heftige Kritik. Der Vorwurf: Voyeurismus und Verletzung der Privatsphäre, obwohl die fotografierte Person kaum zu erkennen ist. Infolge dessen wurde das Bild kaum noch verwendet und aus vielen Online-Archiven gelöscht.

2. September 2015 – der tote Junge am Strand

Im Zeitalter des Internets haben wir uns mehr denn je an viele grausame Bilder gewöhnt. Doch manche schmerzen beim Betrachten so sehr und machen das Ausmass einer Katastrophe derart deutlich, dass sie weltweit Beachtung finden. Die Fotos, die das traurige Schicksal des toten Flüchtlingsjungen am Strand von Bodrum dokumentieren, gehören dazu. Und während die klassichen Medien über den richtigen Umgang damit diskutieren, wird in den sozialen Netzwerken die Trauer und Wut über das Geschehene in ganz eigener Bildsprache zum Ausdruck gebracht. So zum Beispiel in dieser Zeichnung der türkischen Professorin Şengül Hablemitoğlu.

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