Zur Therapiewut an den Zürcher Schulen
Statt konstante Bezugspersonen basteln Therapeuten
an den Kindern herum
Jedes dritte Kind erhält während seiner Schulzeit eine spezielle
Förderung. Ein Experte spricht von «Therapieren nach dem
Giesskannenprinzip».
Praktisch alle Eltern von schulpflichtigen Kindern stehen irgendwann
vor der Frage: Therapie, ja oder nein? Das Angebot ist gross: Logopädie,
Ergotherapie, Psychomotorik oder Begabtenförderung. Tatsache ist, dass
gut 30 Prozent aller Schulkinder im Kanton während ihrer Schulkarriere
irgendwann mit sogenannten niederschwelligen sonderpädagogischen
Massnahmen unterstützt werden – dies, obwohl nur zwischen 5 und 10
Prozent aller Kinder von einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung
betroffen sind.
Für Oskar Jenni, Kinderarzt und
Nachfolger von Remo Largo als Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie
am Kinderspital Zürich, gleicht dieses Vorgehen einem «Therapieren nach
dem Giesskannenprinzip»: «Es kann nicht sein, dass so viele Kinder
nicht den Normerwartungen entsprechen», sagt er. Schuld an diesem
Mechanismus ist aus seiner Sicht die zunehmende Heterogenität in den
Klassen. Sie belastet die Lehrpersonen und führt dazu, dass sie
auffällige Schülerinnen und Schüler viel schneller abklären und die
Förderung an Spezialisten delegieren.
Seit Klein- und
Sonderklassen de facto abgeschafft wurden und alle Kinder in derselben
Klasse gefördert werden, gibt es viel mehr Fördermassnahmen. 2005
haben in der Stadt Zürich 388 Kinder eine Psychomotoriktherapie besucht,
letztes Jahr war es ein Drittel mehr. Gesicherte Zahlen aus dem Kanton
gibt es nicht.
Kinder bräuchten konstante Bezugspersonen
Jenni
kritisiert, dass der Kontakt mit zu vielen Spezialisten für die
Entwicklung eines Kindes kontraproduktiv sei. Kinder bräuchten für einen
Lernerfolg konstante Bezugspersonen. Mit dem Projekt «Fokus starke
Lernbeziehungen» mache der Kanton bereits einen Schritt in die richtige
Richtung. Hätten Lehrpersonen überdies aus der Ausbildung ein
breiteres Wissen über Entwicklungskonzepte von Kindern, könnten sie mit
einem Kind, das ein Lerndefizit hat, besser umgehen und müssten es
keinem Spezialisten zuführen. «Wenn die integrative Förderung schon
propagiert wird, müssen auch die Lehrer entsprechend ausgebildet sein»,
sagt Jenni. Würden auch die Abklärungen für niederschwellige
Massnahmen standardisiert, könnte man das Geld für die Förderung
derjenigen Kinder ausgeben, die diese tatsächlich brauchten.
(Tages-Anzeiger)
KOMMENTAR:
Wenn die Mehrheit der Kinder nicht mehr den Erwartungen entsprechen, muss am Schulsystem etwas nicht stimmen.