Der Grünen-Politiker Müller ist nicht der einzige, der mit Selfies
Schlagzeilen macht. Medienrechtler Peter Studer schaut zurück und sagt,
wie die Medien heute mit den neuen Kommunikationsmitteln umgehen.
Bildlegende:
Studer: «Die Medien sind vor allem die richtige Instanz, um redaktionell moderierte moralische Kritik zu präsentieren.»
Keystone/Symbolbild
Das ist geschehen
Geri Müller hat von seinem Büro aus während der Arbeitszeit einer
Bekannten Nacktbilder von sich geschickt. Die Bekannte wurde darauf von
der Stadtpolizei Baden befragt. Müller sagt, er habe die Polizei
eingeschaltet, weil die Frau mit Suizid gedroht habe. Die Frau aber
verneint letzteres. Müller habe sie aber gedrängt, die Fotos zu löschen.
Zur Person
Peter Studer, 79, ist Jurist und Publizist. Von 1978 bis 1987 war er
Chefredaktor des Zürcher «Tages-Anzeigers», von 1990 bis 1999
Chefredaktor des Schweizer Fernsehens. Danach stand er während sieben
Jahren dem Schweizer Presserat vor.
SRF Online: Noch gilt die Unschuldsvermutung für Nationalrat
Geri Müller. Und doch ist der Politiker schon jetzt stark geschädigt.
Böse Medien?
Peter Studer: Wenn man alle Facetten dieser
Geschichte liest, so wie sie der Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag»,
Patrik Müller, ausgebreitet hat, dann ist das öffentliche Interesse
hoch. Erstens ist die betroffene Hauptperson, Geri Müller, ein
prominenter vom Volk gewählter Politiker und Magistrat. Zweitens soll er
Selfie-Nacktbilder in den Amtsräumen der Stadt Baden hergestellt haben.
Drittens hat offenbar er die Polizei mobilisiert und die junge Frau
nach Baden bestellt, wo sie von der Polizei einvernommen wurde. Viertens
steht der Vorwurf des Amtsmissbrauchs und ein gegenseitiger Vorwurf von
Nötigung im Raum. Nötigung muss von Amtes wegen untersucht werden.
Es bleiben aber alles Anschuldigungen.
Die
Anschuldigungen allein hätten nicht genügt, wenn nicht Chefredaktor
Patrik Müller betont hätte, er besitze die einschlägigen Bilder und
Chat-Texte. Er hat das Fairnessgebot eingehalten und Geri Müller die
Gelegenheit offeriert, sich zu den Indizien zu äussern (der Politiker
verzichtete). Die Geschichte basiert auf belegten Behauptungen, nicht
bloss auf Gerüchten. Das Vorgehen ist grundsätzlich in Ordnung.
Früher
wäre so eine Geschichte gar nicht an die Öffentlichkeit gekommen. Heute
ist wegen der neuen Kommunikationsmittel viel mehr viel schneller an
grosse Publika zu bringen. Inwieweit verändert dies das Verhalten der
Medien?
Es sind kaum mehr persönlichkeitsverletzende Berichte
in den klassischen Schweizer Medien feststellbar als noch vor zehn
Jahren. Allerdings ist die Versuchung für Journalisten hoch,
denn die Menschen geben wegen der neuen Kommunikationsmittel viel mehr
von sich preis als in der Vergangenheit. Es wäre früher nie vorgekommen,
dass sich eine Angestellte im Bundeshaus auszieht, ihre
Geschlechtsteile und dazu noch ihr Gesicht zeigt und dies dann auch noch
via Twitter verbreitet.
Übertretungen von Seiten der Medien gibt es aber immer wieder.
Sicher.
Am Sonntag haben alle über das sogenannte «Geri-Müller-Gate»
geschrieben und gesendet, ohne Primärquellen zur Verfügung zu haben.
Es
gab aber noch andere problematische Fälle an diesem Wochenende. Da hat
zum Beispiel die «SonntagsZeitung» über den «ISIS-Fanclub der
Massenmörder» eine ganze Seite publiziert. Schweizer Sympathisanten des
grausamen Kalifats Islamischer Staat (IS) im Nahen Osten erschienen mit
Initialen, Wohnort und Beruf im Bild. Einige Gesichter waren mit einem
«Zündholz» nur notdürftig abgedeckt.
Eine ganze Reihe von Leuten
wurden aufgrund von Facebook-Einträgen so dargestellt, dass man sie in
einem grösseren Kreis von Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzten usw.
erkennt. Gemäss Praxis des Presserats bedeutet ein Facebook-Eintrag
nicht bereits Freigabe für ein unbeschränktes Empfängerpublikum der
gedruckten Massenmedien. Anders, wenn eine Website zu Gewalt aufruft –
dann werden die Verantwortlichen vom Staatsanwalt verfolgt – was schon
mehrmals geschehen ist.
Gleichen sich die Schweizer Medien den angelsächsischen an, wenn es ums Privatleben von Politikern geht?
I
n
der Schweiz stelle ich diesbezüglich nicht unbedingt Veränderungen
fest. Im Gegenteil, beim «Blick» bemühen sich die Journalisten verstärkt
um Relevanz. Es sind mehr politische Meldungen da, auch
Meinungsäusserungen des «Blick»-Kaders gibt es öfter als früher.
Und was sagen Sie zu den anderen nationalen Medien wie «Tages-Anzeiger», «NZZ» oder SRF?
Da
kann ich weder beim «Tages-Anzeiger» noch bei der «NZZ» noch beim
Schweizer Radio und Fernsehen massive Veränderungen feststellen.
Natürlich gibt es heute die Klatsch-Sendung «glanz & gloria», die
ich selber als Chefredaktor des Schweizer Fernsehens nicht eingeführt
hätte. Und es erscheinen Unterhaltungssendungen von zweifelhaftem
Geschmack. Aber auch dort hält sich das Eindringen in geschützte
Persönlichkeitssphären in engen Grenzen. Am ehesten gibt es eine Zunahme
relativ billiger Unterhaltung.
Aber auch hier muss ich
relativieren. Ich habe mir am Samstag zufällig «SRF bi de Lüt»
angeschaut. Das war eine vielleicht etwas lange, aber sorgfältig
geplante, interessante und locker moderierte Sendung über das Städtchen
Weinfelden im Thurgau. Und offensichtlich wurde die Sendung mit grosser
Anteilnahme der Bevölkerung produziert. Wenn man vom SRF Service public
verlangt, dass sich der Sender abhebt von den kommerziellen Programmen,
dann sind das gelungene populäre Versuche.
Politische Geschäfte
werden zunehmend komplizierter. Köpfe und Parteien werden deshalb immer
mehr zu moralischen Instanzen, die dem Wähler eine Richtung für seine
Entscheidung vorgeben. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen diesem
Fakt und der Art und Weise der Berichterstattung in den Medien?
Es
gibt sicher einen Zusammenhang zwischen der Bedeutungsabnahme der
klassischen Moralinstanzen wie Kirche, Elternhaus und Verein und dem
Aufkommen von Ersatz-Plattformen. Da denke ich zuerst einmal an die
Massenmedien. Diese nehme heute sehr viel öfter zu moralischen Fragen
Stellung als noch vor 20 oder 30 Jahren – teils mit eigenen
redaktionellen Kommentaren, mehr noch, indem sie «Experten» das Wort
geben. Aber das gilt natürlich auch für die Politik. Wenn wir die Rolle
der SVP in den letzten paar Jahren beobachten: Diese Partei versucht, an
den klassischen Instanzen – Parteien, Parlament und Verwaltung vorbei –
direkt Grundsatzentscheide via radikal vereinfachte Volksinitiativen zu
erzwingen. Hier ist eine Klimaveränderung im Gange.
Sind Medien überhaupt die richtige Instanz, um moralische Kritik zu üben?
Die Medien sind vor allem die richtige Instanz, um redaktionell moderierte moralische Kritik zu präsentieren.
Das Interview führte Christa Gall.