Sonntag, 26. Oktober 2014

Müssen alle ins Gymnasium?

Es hat zu viele Kinder, die nicht ins Gymnasium gehören

«Man kann ein Kind nicht zu einem Genie machen», sagt Forscherin Elsbeth Stern. Foto: Marie Docher (Plainpicture)
«Man kann ein Kind nicht zu einem Genie machen», 
sagt Forscherin Elsbeth Stern.





Nach Elisabeth Stern unternehmen die Eltern alles, damit ihr Kind gefördert wird. Vielen Jugendlichen wird die Kindheit gestohlen. Die Freizeit wird genutzt für Förderkurse, Ballett, Frühenglisch, Musikunterricht. Entscheidend wäre jedoch, dass das Kind vor allem LESEN und SCHREIBEN lernt.


Um die Intelligenz  im Rahmen der genetischen Anlagen optimal zu entwickeln, braucht ein Kind vor allem emotionale Geborgenheit und sprachliche Zuwendung.

Viele Eltern sind sich nicht bewusst, wie wichtig das Geschichten erzählen, vorlesen und das Gespräche führen mit dem Kind  ist.

ZUM INTERVIEW:

Schon früh geraten Kinder in die gigantische Mühle der Förder­­päda­gogik – ­Babyschwimmen, Ballett, ­Früh­englisch und Musikunterricht. Bringt dies etwas?

Nein, überhaupt nicht. Viele Dinge kann ein Kind später viel leichter lernen, wenn es einiges an Vorwissen mitbringt. Ein Kind sollte grundsätzlich in diesem Alter nicht zu sehr fremdbestimmt sein. Zum Beispiel ist es völlig kontraproduktiv, einem Dreijährigen Geige beizubringen, wenn er dazu keinerlei Tendenzen zeigt. Um schlau zu werden, muss ein Kind auch nicht unbedingt ein Musik­instrument spielen, sondern später vor allem lesen und schreiben können. Das ist entscheidend.

Lässt sich – allem elterlichen ­Engagement und Ehrgeiz zum Trotz – der Bildungserfolg eines Kindes somit nicht mit etwas mehr Drill und Disziplin in die gewünschten Bahnen lenken?

Kinder sollten das lernen, was im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt. Und Eltern sollten nicht glauben, dass sie bei der geistigen Entwicklung ihres Kindes alles in der Hand haben und es mit Druck beliebig trimmen können. Kinder sollten möglichst selbstbestimmt leben und das machen, was ihnen wirklich wichtig ist und wofür sie auch begabt sind. Um Intelligenz im Rahmen der genetischen Anlagen optimal zu entwickeln, braucht ein Kind vor allem emotionale Geborgenheit und sprachliche Zuwendung.

Viele Eltern haben grosse Angst, dass sie eine Chance für ihre ­Sprösslinge verpassen und sich ein «Lernfenster» für immer schliesst. Gibt es dies also gar nicht?

Doch, aber nur beim natürlichen Spracherwerb. Wenn Eltern die Möglichkeit haben, ihr Kind zweisprachig zu erziehen, sollten sie diese unbedingt nutzen. Damit machen sie dem Kind ein grosses Geschenk. Doch ein bisschen Frühenglisch bringt gar nichts. Viel wichtiger für den späteren schulischen Erfolg ist es, mit Kindern von Anfang an viel zu sprechen, ihnen Geschichten vorzulesen, ihnen zuzuhören und ihren Wortschatz ständig zu erweitern. Sehr früh sind Kinder auch auf eine korrekte Sprache und Grammatik angewiesen. Damit kann man viel bewirken. Ein Fernseher kann diese Art der Kommunikation nicht ersetzen.



Was halten Sie davon, dass in der Schweiz nur rund zwanzig Prozent der Kinder aufs Gymnasium gehen können?

Dies finde ich im Gegensatz zu Deutschland richtig, wo die Hälfte der Schüler aufs Gymnasium geht und die meisten davon nur mittelmässig begabt sind. Denn dies ergibt sich zwangsläufig aus der Normalverteilung der Intelligenz.

Dennoch plädieren Sie dafür, auch in der Schweiz noch zusätzlich zur Aufnahmeprüfung IQ-Tests ­einzuführen.

Ja, aber nicht flächendeckend, sondern nur in Einzelfällen. Denn es schlummern bei einigen Schülern Potenziale, die nicht entdeckt werden. Wenn ein Kind zum Beispiel überdurchschnittlich gut in Mathematik ist, aber aufgrund eines Migrationshintergrunds in Deutsch die erforderlichen Leistungen für den Übertritt aufs Gymnasium nicht schafft. In solchen Fällen ist es wichtig, dass diese Kinder bereits rechtzeitig in der Primarschule erkannt und dann auch gezielt gefördert werden.

Liesse sich die Quote von rund zwanzig Prozent dann überhaupt noch einhalten?

Ja, denn auch in der Schweiz sind auf dem Gymnasium Kinder, die dort eigentlich nicht hingehören und nur durchschnittlich intelligent sind. Wir haben IQ-Tests in mehreren Gymnasien gemacht und festgestellt, dass auch viele der Schüler in der Schweiz unter dem theoretisch errechneten Mindest-IQ sind, der bei 112,6 liegt. Dieser Wert kommt zustande, wenn wirklich nur die zwanzig Prozent der Intelligentesten aufs Gymnasium gehen würden. Leider ist dies auch hierzulande nicht der Fall. Bei unseren Stichproben lag mehr als ein Drittel unter dem IQ 112,6.



Wie sieht Ihrer Meinung nach guter Unterricht aus?

Die Schüler sollten die Zeit dort intensiv nutzen und nicht verplempern. Schule ist zum Lernen da und nicht zum Herumhängen. Danach können die Kinder auch wieder eine Zeit lang machen, was sie wollen. Das ist genauso wichtig. In Zusammenarbeit mit der Jacobs Foundation haben wir jetzt in insgesamt 300 Deutschschweizer Primarklassen begonnen, Naturwissenschaften zu unterrichten. Und gehen mit Experimenten unter anderem den Fragen nach: Warum schwimmt ein Schiff? Wie breitet sich Schall aus? Was hält Brücken zusammen? Danach müssen die Schüler den Versuch beschreiben. Auf diese Weise vermitteln wir Vorkonzepte über Dichte, Auftrieb, Statik oder Akustik, anstatt die Kinder schwarze Löcher mit Knete basteln oder Pirat spielen zu lassen. Der Inhalt und die Vermittlung von Wissen ist das Wesentliche.

Letztes Wochenende hat ein ­zwölfjähriger Schweizer in seiner Alterskategorie die ­europäische Olympiade im ­Kopfrechnen gewonnen. Ist dafür eine besondere mathematische Begabung notwendig?

Nicht unbedingt. Kopfrechnen ist eine sehr spezifische Sache, für die man ­Konzentration und viel Übung braucht, aber nicht hochbegabt sein muss. Man kann zum Beispiel auch Gedächtnis­weltmeister für Zahlen werden und sich auf Zuruf 100 Zahlen merken. Dafür gibt es Tricks mit Bildern: Die 1 ist ein Stock, die 7 ein Zwerg, die 0 ein Ei. Danach setzt man sich die Zahlen und Bilder zusammen. Dafür braucht es viel Zeit und Training. Wer dies macht, ist dadurch aber nicht automatisch gut auch im ­Vokabellernen. (Tages-Anzeiger)

KOMMENTAR: Ich habe heute  in Schaffhausen wieder die vier Kinderbetreuerinnen gesehen, die jeden Tag Kleinkinder im Vorschulalter in grössen Wagen (bis zu sechs Kleinkinder die - in einem Gefährt einpfercht - dösen vor sich hin) stundenlang durch die Strassen der Stadt ziehen oder stossen. Keine Betreuerin spricht mit den Kindern. Sie fahren einfach mit ihrem "Betreuungsgut" die Betreuungszeit ab.  Die Kinder werden sich selbst überlassen. Ab und zu unterhalten sich die jungen Frauen lediglich unter sich. Die Kinder befinden sich -    wie eine Ware - im Wagen. Ein trauriges Bild. Wenn sich die Eltern der "abgeschobenen" Kleinkinder bewusst wären, wie wichtig die emotionale Geborgenheit und die sprachliche Zuwendung ist, würden sie sich vermehrt für die geistige Entwicklung ihres Nachwuchses sorgen und ein paar Jahre den eigenen Kindern widmen und auf eine Stufe ihrer Karriereleiter verzichten. Was nämlich  in dieser wichtigen, prägenden Phase versäumt wurde, kann später kaum mehr wettgemacht werden.
Das Interview der Wissenschafterin im Tagesanzeiger verdeutlicht, dass die Bezugspersonen im Vorschulalter und in der Schule extrem wichtig sind. Ein Kind lernt nicht durch Vernachlässigung. Kinder müssen das Lernen lernen aber auch die Freizeit geniessen dürfen.
Es gilt die Balance zu finden zwischen fördern (fordern) und Freizeit.
Nach dem Interview Sterns müssen wir uns somit auch fragen, ob die Quotenrregelung an den Mittelschulen richtig ist.

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