Den Geschlechterkampf sollten wir heute eigentlich überwunden haben
Nach dem Brüderle Medienwirbel wird die Thematik der Anmache in zahlreichen Beiträgen allmählich versachlicht.
Wer am Anfang versuchte, diese Geschichte distanzierte zu betrachten und das Gesamtbild aus der Sicht beider Geschlechter einzuordnen, wurde in den Diskussionsrunden von militanten Feministinnen zurechtgewiesen: Dies sei der Versuch einer Verharmlosung des Aufschreis. Es gebe nur eine Sicht: Die der betroffenen Frauen. Allmählich gibt es immer mehr Beiträge, die das Problem ganzheitlich auszuleuchten versuchen. Im Spiegel lese ich heute folgende neue Sicht:
Der
mächtige alte Mann, die wehrlose junge Frau: In der Causa Brüderle
scheinen die Rollen fest vergeben. Dabei ist es an der Zeit, die
Sexismus-Debatte vom Denken des 19. Jahrhunderts zu befreien.
Es war einer der aufschlussreichsten Momente der Sexismus-Debatte, als sich die Bloggerin Anne Wizorek
bei Günther Jauch
mit einem wunderbaren Bild empörte. "Wir sind doch nicht von den Bäumen
gekommen, um uns jetzt dahin zurückzuziehen", sagte sie mit ehrlicher
Abscheu.
Schwupps, zurück in die Steinzeit. Seither, das war die Botschaft von
Wizorek, sei nichts wirklich Neues unter der Sonne passiert. Und das
bisschen Neue - immerhin haben wenigstens Frauen den Boden erreicht -
ist jederzeit bedroht vom ewig notgeilen Mann, der rastlos über den
Savannenboden streift bis zum nächsten Hotelbar-Tresen.
Rainer Brüderles Dirndl-Hirnriss hat eine Debatte ausgelöst, die alle
sattsam bekannten Deutungsversuche, die wir um Männer und Frauen
spinnen, wieder hochschwemmt. Allerdings verfestigt sich zunehmend der
Eindruck, dass sie uns nicht mehr viel über die Gesellschaft am Beginn
des 21. Jahrhunderts verraten.
Nicht die Naturzustands-Beschwörung von Wizorek, nicht der Evergreen,
vom Manne mehr Reflexion, Selbstreflexion oder Besinnung zu fordern.
Das hört er seit 200 Jahren, als man den Gedanken erfunden hat, dass
vornehmlich der Mann an den Miseren der modernen Gesellschaft schuld
sei. Der Vorwurf wird regelmäßig mit dem Wunsch nach dem "Neuen Mann"
kombiniert, inzwischen ein Staubfänger im Gender-Regal.
Neue Geschlechterwelt in altem Geschlechterdenken
Neu ist immerhin der Versuch, in der Brüderle-Debatte
das Ende der Macht des weißen Mannes zu sehen.
Die Argumentation von SPIEGEL-ONLINE-Kolumnist Jakob Augstein läuft in
etwa so:
Brüderle = weiß = ewiggestrig = bislang Herrscher = bald nicht
mehr.
Den Gedanken vom maskulinen Machtverfall hat sich Augstein erkennbar
bei der US-Autorin Hanna Rosin geborgt, die sich allerdings mit
ethnischen Feinheiten nicht aufhält und gleich
"Das Ende der Männer"
ausruft. Es wäre ein vernachlässigenswertes Buch und hätte mit der
Brüderle- und
#aufschrei-Debatte nichts zu tun, würde es nicht zeigen, wie eine neue Geschlechterwelt in ein altes Geschlechterdenken gepresst wird.
Rosin beschreibt in klaren Worten den Aufstieg der Frauen und den
Fall der Männer in den USA. Frauen sind gebildeter und machen mehr
College-Abschlüsse, dringen mit Macht ins Management vor, ernähren
zunehmend ihre Familien und arbeiten in zukunftsträchtigen Branchen.
Nicht alle dieser Zahlen lassen sich auf Deutschland übertragen, aber
einige der Phänomene sind auch hier zu beobachten.
Das könnte zu allerhand interessanten Fragen verleiten:
- Wenn früher die geringere Quote von Abitur-Mädchen als Ausweis von
Diskriminierung galt - wie haben wir die geringere Quote von
Abitur-Jungen zu deuten?
- Wenn (wie jüngst in Österreich) das Volk bestimmt, dass junge Männer
weiterhin ihre Wehrpflicht zu absolvieren haben, junge Frauen davon
aber verschont bleiben - wie fügen wir das in unser Geschlechter-Gefüge
ein?
- Wenn alle Erziehungsexperten darauf hinweisen, dass wir Jungen in
der Kindheit ein extrem behinderndes Verhaltenskorsett überstülpen - was
machen wir daraus für die Gesamtrechnung der Gender-Gerechtigkeit?
- Wenn Forscher konstatieren, dass Frauen in Beziehungen ebenso oft gewalttätig werden wie Männer?
Diskriminierungsbegriff für beide Geschlechter
So könnte eine Debatte beginnen, die nicht mehr in Kategorien des 19.
Jahrhunderts denkt, sondern das Thema in die Gegenwart bringt. Wir
müssten dann von gegenläufigen, vielfältigen Sexismen sprechen, die nach
wie vor Frauen, aber eben auch Männer treffen können. Wir würden einen
Diskriminierungsbegriff finden, der beide Geschlechter umfasst. Und
daher bräuchten wir auch eine Soziologie der Geschlechter, die nicht bei
männlicher Macht und Gier ansetzt, sondern komplexere Beschreibungen
erlaubt.
Die Ironie wäre natürlich, dass ausgerechnet die Erfolge des
Feminismus die Umstellung des feministisch inspirierten Diskurses
mitbewirken. Aber dies zu ertragen, gehört dazu.
Nichts davon findet sich bei Rosin. Sie weicht in jene Denkwelten aus, in denen auch die Brüderle-Debatte zu verhallen droht -
und präsentiert einen der sexistischsten Texte der jüngeren Vergangenheit.
Denn ihren Aufstieg verdanken die Frauen laut Rosin und ihren
Anhängerinnen allein ihrer naturgegebenen Flexibilität, ihrem Fleiß und
ihrer Durchsetzungskraft. Und
der Fall der Männer ist allein deren
Idiotie, Faulheit und Verantwortungslosigkeit geschuldet. Männer kommen
in dieser Gedankenwelt nur als pornoglotzende, videospielende und
emotional restlos verkümmerte Grenzdebile vor, die nicht einmal eine
Mikrowelle bedienen können.
Auch Frauen beklagen sich über den Opferstatus
Die krasse Männerkritik
ist keine Folge des Feminismus, sondern hat um das Jahr 1800
angefangen. Aber brauchbare Aussagen über unsere Gesellschaft hat sie
nie erlaubt. Und spätestens mit vielschichtigen
Geschlechterverhältnissen, die sich nicht einer linear überlegenen
Männlichkeit fügen, drückt sich darin nur noch Ratlosigkeit aus. An
seine Grenzen stößt der Gender-Diskurs dieser Art spätestens dann, wenn
es um die Beschreibung der Benachteiligung von Männern geht. Die sind
dann entweder selbst schuld oder - wie bei Rosin - einfach dumm.
Parallel zum Unbehagen an Männlichkeit nähren wir spätestens seit der
ersten Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts die Hoffnung, mehr Macht
für Frauen könnte die Welt besser machen. Dafür gibt es keine
Anzeichen, was nicht gegen Machtzuwachs für Frauen spricht, aber
deutlich dagegen, weiterhin in diesen Kategorien zu denken.
Die Brüderle-Debatte und der #aufschrei bei Twitter belegen zwar,
dass sich zahlreiche Frauen von Männern belästigt fühlen. Und man muss
Männern nicht in schöner Tradition eine Denkschwäche unterstellen, um
ihnen zu empfehlen, diese Beschwerden so ernst zu nehmen wie die
zunehmenden Nachteile ihres Geschlechts insgesamt.
Doch der #aufschrei enthält keineswegs, wie Marc Felix Serrao in der
"Süddeutschen Zeitung" richtig beobachtet, eine homogene Botschaft. In
zahlreichen Tweets beklagen sich Frauen auch über den universalen
Opferstatus, in den sie der #aufschrei tunkt. Andere weisen auf
sexistische, gewalttätige und ihre Macht missbrauchende Frauen, Schwulen
und Lesben hin. Die gibt's schließlich auch. So könnte die Vorstellung
von dem einen Sexismus seine Beschreibungskraft für das Ganze der
Gesellschaft endgültig verlieren - wenn er sie je besessen hat.
Kommentar: Wie bei allen Analysen lohnt es sich, Probleme von verschiedensten Seiten zu beleuchten. Wer glaubt, nur seine einseitige Sicht entspreche der allein selig machenden Wahrheit, der hat nicht begriffen, dass wir uns dank holistischer Sicht der Wahrheit höchstens annähern können.